DEN OPFERN EINEN NAMEN GEBEN: KÖNIGSLUTTER UND DER KRANKENMORD

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Ausstellung in der Gedenkstätte Schillstraße vom 28. August bis 6. Oktober 2022

Die Schönheit dieses sonnigen August-Sonntags gibt der Ausstellungseröffnung “Königslutter und der Krankenmord – Die Landesheil- und Pflegeanstalt Königslutter im Nationalsozialismus”  in der Gedenkstätte Schillstraße etwas besonders Schmerzliches. Der Gedanke, wie sehr auch die ermordeten Kranken von damals den Sonnenschein genossen hätten, wird in der spätsommerlichen Atmosphäre  des 28. August besonders fühlbar.

Gedenkstätte Schillstraße mit Besuchern am 28. August 2022

Es ist schmerzlich, aber sehr wichtig, durch diese sehr gelungene Ausstellung wieder daran erinnert zu werden, wie viele kranke und behinderte Menschen durch den gnadenlosen Euthanasie-Furor im nationalsozialistischen Deutschland systematisch ermordet wurden. Es waren über 70.000 Gasmorde in Deutschland bis 1941 und mindestens 120.000 noch danach Ermordete – durch Verhungern lassen und gezielte Vernachlässigung .

Deutlich gemacht wird dem Besucher in der klug konzipierten Ausstellung, wie kaltblütig und herzlos die deutsche Verwaltungs- und Mediziner-Elite auch in unserer Region diese Morde vorbereitete und durchführte.

Nach der Begrüßung durch PD Dr. Nadine Freund, Geschäftsführerin des Arbeitskreises Andere Geschichte e.v. und neue Leiterin der Gedenkstätte, die in ihrer Rede die langjährigen Verdienste ihres Vorgängers Frank Erhardt hervorhob, gab Susanne Weihmann, auf deren Buch aus dem Jahr 2020 die Ausstellung vorrangig aufbaut, eine sehr informative und kluge Einführung in das Thema.

Begrüßung durch PD Dr. Nadine Freund, Geschäftsführerin des Arbeitskreises Andere Geschichte e.v. und neue Leiterin der Gedenkstätte

Ein besonderes Augenmerk richtet sich auf die bislang namenlosen Opfer der “Euthanasie”-Morde. Dokumente und Fotografien geben Einblicke in die persönlichen Biografien von Opfern. Es  werden aber auch mitverantwortliche Akteure vorgestellt, die bei den (seltenen) staatsanwaltschaftlich Ermittlungen meist mit Nichtwissen oder Ohnmacht gegenüber staatliche Entscheidungen argumentierten. Manchmal auch mit der Ausrede, man habe Schlimmeres verhindern wollen.Tatsächlich stand keiner der Verantwortlichen aus Königslutter in der Bundesrepublik vor Gericht.

Euthanasie-Mahnmal Das verhungerte Mädchen

Sebastian Barnstorf, dessen Großvater zu dieser Zeit in Königslutter als Arzt arbeitete und der stets leugnete, etwas über den Mordkomplex gewußt zu haben, spräch klar und doch sehr berührend von seinem Opa und von den Briefen mit dem detaillierten Täterwissen, die die Familie nach seinem Tod 1989 in dessen Schreibtisch fand.

Sebastian Barnstorf machte auch sehr nachdenklich mit seinem Satz, er wisse nicht, wie er sich in der Situation seines Großvaters wohl verhalten hätte. Ob und wann er die Entscheidung getroffen hätte, nicht mehr mit zu machen. Das ist eine Frage, die wir uns wahrscheinlich alle stellen könnten und die wir zum Glück nicht mehr beantworten müssen.

Sebastian Barnstorf spricht über seinen Großvater Dr. Fritz Barnstorf, 1940 Anstalts-Arzt in Königslutter

Er berührte damit allerdings auch einen wichtigen Punkt,  der Täter und Opfer –  ganz besonders in diesem Komplex – unterscheidet. Die Opfer des organisierten Euthanasie-Mordens hatten nie auch nur die geringste Chance irgend eine Entscheidung zu treffen. Sie waren von Anfang an wehrlos, hilflos und ausgeliefert. Ein junger Arzt – wie z.B. Dr. Barnstorf – mochte gefangen sein in den Vorurteilen seiner Zeit gegenüber sog. “Geisteskranken” und er mochte Angst haben vor den Folgen für sich und seine junge Familie, sollte er nicht mitmachen. Aber immerhin – er hätte die Möglichkeit gehabt, auszusteigen; die Patienten in Köngislutter hatten dazu nicht die allergeringste Chance.

Uwe Otte, der sich als anerkannter Lokalhistoriker große Verdienst um die ehrenamtliche Aufarbeitung der NS-Zeit in der Gemeinde Lehre mit Fokus auf die damalige Heeresmunitionsanstalt (Muna) und die Schicksale der Zwangsarbeiter*innen erworben hat,  stellte mit Hans Tepelmann, einem Mitglied der bekannten Verlegerfamilie Vieweg, eines der Mordopfer der NS-„Euthanasie“ aus der Anstalt Königslutter vor, der im Vernichtungslager Bernburg als “Ballast-Existenz” vergast wurden.

Hans Tepelmann, vergast im Vernichtungslager Bernburg am 12. Juni 1941

Die Ausstellung arbeitet  durch die historischen Fotos und Abbildungen und  in informativen, prägnanten Texten deutlich heraus, wie sich der mörderische “Euthanasie”-Gedanke (eigentlich “guter Tod”)) bereits am Anfang des 20.Jahrhundert unerbittlich in die Gedankenwelt vieler Menschen gefressen hatte – vor allem auch bei Akademikern, die sich damals noch als die Elite der Gesellschaft verstanden.

Doch erst die Auslöschung jeder humanen Regung durch die Ideolgie des Nationalsozialismus machte es in Deutschland möglich, die Vernichtung sog. “Ballast-Existenzen” zu einem allgemeinen Verwaltungsvorgang zu machen, dessen Vollzug offiziell mit keinerlei individueller Verantwortung mehr verbunden war.

Propandabild für die Vernichtung von „Ballast-Existenzen“

Die Ausstellungsmacher haben sich dem Thema  durch die Individualisierung der Opfer – und der Täter –  sehr sensibel und mit viel Wissen und Kompetenz genähert. Sie lenken Blick der Besucher*innen direkt und eindringlich auf den betroffenen Menschen, beschränken sich nicht auf  Zahlen und pauschale Opfer- und Täterbeschreibungen, sodass die Ausstellung zu einer sehr informativen und gleichzeitig emotional berührenden Zeitreise wird.

Ausstellungs-Stellwand – Königslutter und der Krankenmord

Konzipiert auch als Wanderausstellung, kann Königslutter und der Krankenmord   nach dem 6. Oktober an Zusammenarbeit interessierten Institutionen, Vereinen und anderen thematisch interessierten Gruppen zur Verfügung gestellt werden.

Weitere Informationen über die Ausstellung und die Gedenkstätte KZ-Aussenlager Braunschweig Schillstraße finden sich auf der Website:

https://www.schillstrasse.de/aktuell

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