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Realität kann durch die Kunst neu vermessen und erfahren werden. „Checkpoint – Grenzblicke aus Korea“ ist eine Ausstellung, der das in sehr kluger und spannender Weise gelingt. Sie nimmt uns mit auf die berührende und eindringliche Reise zu der Grenze, die nun schon seit 77 Jahren politisch und emotional das Schicksal Koreas und seiner Menschen bestimmt.

Oft fordernd, manchmal irritierend, aber immer faszinierend und mit einem hohen Erlebnis- und Erkenntniswert, lösen die koreanischen und nicht-koreanischen Künstler*innen unsere Blickgrenzen auf und verwandeln so mit ihren Werken aus Malerei, Skulptur, Installation, Fotografie und Video das ferne und komplexe Allgemeine in das individuell Erfahr- und Erlebbare.

Am Anfang unserer Reise durch die drei Themenkomplexe der Ausstellung: Nordkorea, die demilitarisierte Zone (DMZ) und die mögliche gemeinsame Zukunft beider Landesteile –  sehen wir einen riesigen Wandteppich, der zwei mächtig schwingende Kronleuchter zeigt, überwältigend in ihren intensiv  leuchtenden Farben.

Kyungah Ham, WAS DU SIEHST IST DAS UNGESEHENE . Kunstmuseum Wolfsburg. Foto von M. Brandes

Es ist eine unglaublich eindrucksvolle, nordkoreanische  Knüpfarbeit aus Seidenfäden. Vier Frauen haben diesen Teppich in zweitausend Stunden Handarbeit geknüpft. 

Es ist das augenüberwältigende Projekt “WAS DU SIEHST IST DAS UNGESEHENE” der Seouler Künstlerin Kyungah Ham. 

Nordkorea ist gierig nach Devisen und durch halb offizielle Handelsbeziehungen zwischen dem Süden und dem Norden  gelang es der Künstlerin  – unter unbewußter Mithilfe Nordkoreas –  ein faszinierendes gesamtkoreanisches Kunstwerk  zu schaffen. Leider werden die vier Knüpferinnen nie davon erfahren und auch nichts von dem Geld sehen, das der nordkoreanische Staat kassiert hat. Das ist für die Künstlerin der Wermutstropfen in der Freude über ihr Werk. 

Der Berliner Künstler Mischa Leinkauf läßt – nicht ganz legal – eine Kamera-Drohne über den Han-Fluss fliegen, der die beiden feindlichen Koreas miteinander verbindet. Sein Video (6min) “NÖRDLICHE GRENZLINIE (NORDKOREA,SÜDKOREA)” symbolisiert und emotionalisiert so die Überwindung dieser von Menschen gezogenen hermetischen Grenze durch die natürlichen Elemente Luft und Wasser.

Northern Line c) Mischa Leinkauf, VG Bild-Kunst, Bonn 2022, Courtesy der Künstler und alexander levy, Berlin, Foto Trevor Good

In der Mitte des ersten Raumes steht unübersehbar “AUBADE V”, ein großformatiger Turm aus den alten Guss-Stahlelementen eines abgerissenen Wachturms, der uns mit nervös flackernden Lichtsignalen unlesbarer Signal-Codes signalisiert, daß Unsicherheit und Ungewißheit die Konstanten – nicht nur – dieser Grenze sind. Die Künstlerin Lee Bul war mit “Aubade V”, schon 2019 auf der Biennale in Venedig vertreten und wenn man dieses Kunstwerk sieht, weiß man auch, warum sie eine der bedeutendsten zeitgenössischen Künstlerinnen Koreas ist.

Lee Bul, AUBADE V, © Lee Bul, Courtesy die Künstlerin und Lehmann Maupin New York, Hong Kong, Seoul, London. Foto Martin Brandes

Wir alle kennen wohl die spektakulären Bilder durch-choreographierter Menschenmassen auf sogenannten Arirang-Festivals, Sportfesten oder Staatsgeburtstagen. Die Fotos werden gern von der nordkoreanischen Regierung als Symbole für einheitliches gesellschaftliches Funktionieren propagandistisch genutzt.

Noh Suntag, Red House, Kunstmuseum Wolfsburg. Foto M. Brandes

Der südkoreanischen Künstler Noh Suntag hat den Mitwirkenden in diesen Funktionsmassen ihre Individualität zurückgegeben, sie wieder als Menschen herausgelöst. Lassen wir uns Zeit bei der Betrachtung, können wir auf seinen “RED-HOUSE” Inkjet Pigment Prints plötzlich immer mehr mürrische oder lächelnde oder angestrengte Gesichter erkennen oder auch die minimalen Abweichungen des Einzelnen, die vielleicht die gesamte Choreographie stören, aber uns auch zeigen, daß Menschenmassen immer aus Individuen bestehen.

“INZISION” von Jeewi Lee ist still, tiefgründig und vielleicht eines der künstlerisch klügsten Kunstwerke dieser Ausstellung, die so voll ist mit intelligenter und berührender Kunst.

Jeewi Lee – „Inzision“ und „Fraktur“, Kunstmuseum Wolfsburg, Foto M. Brandes

Die Künstlerin hat nach der klassischen Methode des Takbon-Reibens, einer klassischen koreanischen Methode zur Herstellung von Bildern, bei der das Motiv auf hauchdünnes Maulbeerbaumpapier mit Hilfe eines Pinsels durchgerieben wird, Papierabdrücke von fünf Bäumen genommen.

Die von ihr ausgewählten Bäume sind lebende Zeitzeugen, denn allesamt sind sie vor der Teilung Koreas im Jahre 1945 gewachsen. Sobald es möglich ist, wird Jeewi Lee auch von fünf Bäumen auf der nordkoreanischen Seite Takbon-Bilder machen und so die Vereinigung ihre Landes symbolisch darstellen.

Dazu gehört “FRAKTUR” – ein Feld aus schwarzen und weißen Kieselsteinen, über die man laufen muss, um die Takbon-Bilder von nahem anzusehen. Die Kieselsteine sollen sich allmählich vermischen – als Metapher für die Zukunft von Nord- und Südkorea. Die Künstlerin erzählt im Interview, daß sich anfangs meist nur Kinder trauen, die Kieselflächen zu betreten, Erwachsene dagegen kaum. Eltern würden auch oft darauf achten, dass ihre Kinder die Kiesel nicht vermischen – oft sogar wieder ordentlich zurück an den farblich passenden Platz legen.

An dieser Stelle sei es also gesagt: Das Betreten der Kieselflächen ist ausdrücklich erwünscht, das farbliche Zurückordnen dagegen ist nicht notwendig.

“DER SCHÖNSTE MOMENT DES KRIEGES” sind 55:31 Minuten dokumenarisches Theaterspiel und Verfremdungen wirklicher Erlebnisse und Ereignisse, beobachtet und inszeniert von Adriàn Villar Rojas, dem Installations- und Videokünstler aus Argentinien. Einen Monat lebte der Künstler in Yangji-ri, einem südkoreanischen “Propaganda-Dorf”, in einer sichtbar kalten und feuchten Region der DMZ (Demilitarisierten Zone). Rojas nahm intensiv am Leben der Bewohner teil und gemeinsam starteten sie ein hybrides, filmisch-theatralisches Projekt, in dem die Bewohner zu Schauspieler*innen ihrer selbst wurden und wir beobachten dürfen, wie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion sich langsam auflösen.

Park Chan-kyong, südkoreanischer Filmemacher und Medienkünstler, kombiniert in “SET” Fotografien von Filmkulissen aus Nord- und aus Südkorea. Er schafft dadurch ein überzeugende, ironisch gebrochene, verblüffende visuelle Impressionen von Koreas aktueller Geschichte, die sich selbst im inszenatorischen Raum zwischen Fiktion und Wahrheit bewegt und die sich öfter wohl auch darin verirrt.

Haegue Yangs bunte, großformatige, hybride Wandtapetenlandschaft “DMZ Un-Do” auf reflektierender und selbstklebender Vynilfolie zeigt eine irritierend komplexe bunte Bilderwelt mit vielen DMZ-spezifischen Referenzen, Objekten und Motiven. Pollenkörner, Roboterbienen, Solarzellen, elektrische Handventilatoren, einen Staudamm, einen Freileitungs-Masten, Blitze, ein Lorenz-Attraktor, die Bewegung von Materie und Flüssigkeiten. Energie und ihre Übertragung wird künstlerisch verfremdet und in neue Erlebniszusammenhänge gestellt.

Haegue Yang, DMZ Un-Do, 2020, Kunstmuseum Wolfsburg, Foto M. Brandes

Sehr berührend ist auch das Video (20:36 Min) der Künstlerin Minouk Lim: “DIESEN NAMEN HABEN ICH MIR SELBST GEGEBEN”. Ihr Werk basiert auf der künstlerischen Bearbeitung einer 138 Tage ausgestrahlten südkoreanischen Fernsehsendung “Getrennte Familien finden” von 1983, in der seit 1953 getrennte Familien sich vorstellen und nach verlorenen Angehörigen suchen konnten.

Minouk Lim „Diesen Namen habe ich mir selbst gegeben,“ Kunstmuseum Wolfsburg, Foto M. Brandes

Insgesamt können die Besucher*innen rund 35 klug kuratierte Kunstwerke in unterschiedlichen Räumen sehen, hören und manchmal sogar anfassen oder betreten. Nicht alle davon muss man mögen, aber alle haben ihren eigenen Charakter, haben den Zauber der Kreatitvität und sind es wert, ihnen Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen.

Die Ausstellung ist ein emotionales und visuelles Abenteuer des Erkennens und Entdeckens und manchmal auch Erschreckens. Man verlässt sie bereichert mit neuem Wissen, Eindrücken, Erkennntnissen. Mindestens aber mit dem Gefühl, eine sinnvolle und spannende Zeit in diesem schönen Museum verbracht zu haben. Und gerne darf man auch nochmal wiederkommen.

Die Ausstellung läuft vom 21. Mai bis zum 15. September 2022.

Öffnungszeiten, Eintrittspreise und Informationen über Aktivitäten und Führungen finden sich auf der Website des Kunstmuseums Wolfsburg https://www.kunstmuseum.de

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