Hunderte Milliarden für die Rüstung? Müssen wir Europäer Putins „Imperialismus“ wirklich fürchten?

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Jeffery Sachs Foto: Wikipedia

Was der weltbekannte Top-Berater und Wissenschaftler Jeffrey Sachs über die Hintergründe des Ukrainekriegs offenbart

Eine Buchbesprechung von Reinhard Faudt

Welche Zeitung wir auch lesen, welche Nachrichten wir auch hören, überall ertönt in den Leitmedien wie konzertiert das gleiche Narrativ: Wir Deutsche und Europäer müssen kriegstüchtig werden, Hunderte von Milliarden müssen rasch in die Kriegsrüstung gesteckt werden, denn der „Angriffskrieg Russlands“ markiere eine Zeitenwende und die Ukraine verteidige unsere Werte, unsere Demokratie und Freiheit. Verliere sie, seien wir die nächsten, denn die imperialen Gelüste Putins machten an der Ukraine nicht halt. Ist das in Zeiten des Klimawandels wirklich eine realistische Lagebeurteilung?

Das westliche Narrativ über Putins Angriffskrieg ist eine Täuschung der öffentlichen Meinung, kurz Propaganda

Propaganda muss ständig wiederholt werden, einfach fassbar sein und Kriegspropaganda spielt immer mit der Angst vor dem unberechenbaren Feind. Gegen diese schlichte Propagandaflut haben es Kritiker oft schwer, Gehör zu finden. Die Wahrheit  ist immer komplexer als ein Narrativ. Und so gibt es eine Reihe von Sachbüchern, die dieses Narrativ als reine interessengeleitete Propaganda entlarven. Eines davon enthüllt aus Sicht eines weltbekannten Wissenschaftlers und Kenners der russischen wie der amerikanischen Politik die wahren Hintergründe des Ukraine-Konflikts, der schon lange vor 2014 zwischen den USA und Russland schwelte, und damit auch die Motive der russischen Invasion; er zeigt, wie der Angriffskrieg Russlands 2022 letztlich von Seiten der USA provoziert wurde.

Jeffrey Sachs war Professor in Harvard und an der Columbia-Universität, Sonderberater der UN-Generalsekretäre Kofi Annan, Ban Ki-moon und Antonio Guterres. Er wurde Anfang der 90er Jahre als renommierter Entwicklungsökonom vom damaligen russischen Präsidenten Jelzin zum Top-Berater für den Umbau der Plan- zur Marktwirtschaft berufen. Kaum jemand aus dem Westen kennt sich so gut aus in der Ost-West-Politik der letzten Jahrzehnte. Jeffrey Sachs beriet weltweit Regierungen dabei, marktwirtschaftliche Reformen durchzuführen und kennt viele ehemalige Regierungschefs persönlich. Sein Blick auf die internationalen Beziehungen war stets parteiunabhängig und kritisch gegenüber jeder Machtpolitik. Heute arbeitet er in führenden Positionen in Organisationen der Vereinten Nationen.

Seine wichtigsten Kernaussagen:

Der Krieg in der Ukraine ist von neokonservativen Kreisen in den USA provoziert worden, um Russland als geopolitischen Rivalen auszuschalten

In seinem Buch „Diplomatie oder Desaster“ beschreibt Jeffrey Sachs – in deutlichem Gegensatz zum NATO-Narrativ von Putins Neoimperialismus – die Motive der geopolitischen Strategie, die Ukraine in den Kreis der NATO-Staaten aufzunehmen. Er zeigt, dass dies auf das Bestreben neokonservativer Kreise in den USA zurückgeht, Russland wirtschaftlich und politisch als Rivalen auszuschalten bzw. nachhaltig zu schwächen. Die „Neocons“ genannte Gruppe von Politikern und Sicherheits- und Militärberatern hätten schon Anfang der 90er Jahre gefordert, den Zusammenbruch der Sowjetunion zu nutzen, um die regionale und globale Vorherrschaft der USA dauerhaft auszubauen ( die sog. „Wolfowitz-Doktrin“ besagte, dass die USA nach Ende des Kalten Kriegs die einzige verbliebene Supermacht der Welt bleiben solle). Die NATO-Osterweiterung unter Einbeziehung der Ukraine und Georgiens wurde als Schlüssel zur Dominanz der USA im europäisch-asiatischen Raum angesehen, „obwohl der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher 1990 ausdrücklich versprochen hatte, dass auf die deutsche Wiedervereinigung keine NATO-Osterweiterung folgen würde“ (Sachs, S.24). 

Sachs nennt „zwei Hauptprovokationen der USA“ gegenüber Russland:

Erstens die seit 2008 versuchte NATO-Erweiterung um die Ukraine und Georgien, „um Russland in der Schwarzmeerregion durch NATO-Länder (…) einzukreisen“ und zweitens „die Rolle der USA bei der Installation eines russophoben Regimes in der Ukraine durch den gewaltsamen Sturz des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Februar 2014“ (Sachs, S. 94). Dabei war stets klar von der russischen Führung kommuniziert worden, dass ein NATO-Beitritt der Ukraine für sie eine rote Linie wäre.

Die „Neocons“ haben über Jahrzehnte die US-Sicherheits- und Außenpolitik bestimmt

Die treibenden Kräfte dieser Eindämmungspolitik haben laut Sachs als  führende Sicherheitsexperten, Militärs, Lobbyisten des Sicherheitskomplexes, der Rüstungsindustrie und als Politiker in beiden großen Parteien die Außenpolitik der USA maßgeblich beeinflusst, ganz gleich unter welchen Präsidenten und unabhängig vom Wähler. Zu den einflussreichsten Neocon-Akteuren gehörten z.B. Paul Wolfowitz, Richard Perle, der Buchautor und  Politikberater Robert Kagan, der Kriege als Instrument der US-Dominanz rechtfertigt und selbst finanziell mit der Kriegsindustrie verflochten ist (S.117), seine Frau Victoria Nuland als US-NATO-Botschafterin unter Präsident G.W.Bush  – von ihr stammt der berüchtigte Ausspruch „Fuck the EU“ anlässlich der ukrainischen Regierungsbildung. Zu den Unterstützern gehört sicher auch  Anne Applebaum, die jüngst mit ihrem Buch „die Achse der Autokraten“ ihre einseitige Sicht auf die Welt enthüllte. 

Ganz gleich, was man von Trump und seiner Milliardärs-Allianz halten mag, so hat er das Verdienst, diese Truppe entmachtet zu haben, die so gut vernetzt war mit dem militärisch-industriellen Komplex und der Sicherheitsbranche. „Nuland war die neokonservative Agentin par excellence“, schreibt Jeffrey Sachs, als stellvertretende Außenministerin für europäische und eurasische Angelegenheiten unter Obama war sie „am Sturz des prorussischen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch beteiligt“ (Sachs, S.26) – und der informierte Leser hat sicherlich auch von dem CNN-Interview mit Nuland gehört und gelesen, in dem sie zugab, die „Maidan-Revolution“, die zum Sturz Janukowitschs als Präsident der Ukraine führte, mit 5 Milliarden Dollar „gefördert“ zu haben, ein Putsch oder Regime-Sturz, wie ihn die USA in ihrer langen imperialen Geschichte schon so oft praktiziert haben. 

Die gigantischen Rüstungsausgaben der USA (und jetzt Europas) brauchen zu ihrer Rechtfertigung Feindbilder und Bedrohungslagen

Um die imperialen Bestrebungen der USA vor der Bevölkerung propagandistisch zu verklären, müssen die „Schurkenstaaten“ Russland, China und Iran herhalten. Vor diesen Feindbildern verklärt sich die westliche Führungsnation als Verteidigerin der Freiheit und Demokratie gegen die „Achse des Bösen“ (George W. Bush) und die Weltpolitik erscheint in manichäischer Art als Kampf der Demokraten gegen die finsteren Autokraten – in diesem Geist wurde die öffentliche Meinung durch die Regierenden und die ihnen in Kriegszeiten immer besonders nahe stehenden Medien manipuliert. In Wahrheit aber waren die USA selbst „seit 1980 in mindestens fünfzehn Kriege weltweit verwickelt … ( Afghanistan, Irak, Libyen, Panama, Serbien, Syrien und Jemen, um nur einige zu nennen… Die USA haben Militärbasen in 85 Ländern, China nur drei, und Russland nur in Syrien.“ (Sachs, S.30) 

Dabei waren diese Kriege in ihren innen- und außenpolitischen Auswirkungen allesamt Fehlschläge ( S.113). Trotzdem blieben dieselben Personen an der Spitze der US-Außenpolitik. Die Gründe dafür sieht er im US-amerikanischen System der Kandidatenkür und der Rolle der Wahlkampfspenden, „kurz gesagt, die US-Außenpolitik wurde vom großen Geld geentert“ (S.114) Die großen Militärfirmen wie Boeing, Lockheed Martin, General Dynamics, Northrop Grumman und Raytheon haben einen direkten Einfluss auf die außenpolitischen Entscheidungsträger. Nun fragt sich wahrscheinlich mancher Leser, warum denn Trump den Krieg in der Ukraine und die US-Waffenhilfe beenden will. Aber man muss nicht lange überlegen: Der Druck auf die NATO-Staaten, mehr als 2, besser 3 Prozent des BIP für Rüstung auszugeben, verschafft diesen Konzernen ohne Risiken womöglich noch höhere Profite als der Krieg.

Ein Präsident wie John F. Kennedy, der den 2. Weltkrieg erlebte, hätte den Krieg mit Diplomatie verhindert

Biden war für Sachs der Präsident, der unablässig für weitere Konfrontation mit Russland eintrat und die Welt der Gefahr eines Atomkrieges näher brachte als jeder andere Präsident der USA. John F. Kennedy dagegen habe gezeigt, wie man eine Eskalation vermeiden kann mit diplomatischen Mitteln, folgerichtig heißt ein Kapitel des Buches von Sachs: „Wie JFK den Frieden in der Ukraine anstreben würde“:  Selbst „die feindlichsten Nationen“ sollten alles tun, um das Wettrüsten zu beenden und Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle aushandeln, weil dies „in ihrem eigenen Interesse“ liege. Stattdessen haben die US-Präsidenten nach 1990 das Gegenteil getan und Rüstungskontrollverträge einseitig gekündigt, z.B. 2016 den INF-Vertrag zur Begrenzung der Mittelstreckenraketen, den ABM-Vertrag (über Raketenabwehrsysteme) 2001 und Open Sky (Vertrag über Überflugrechte) 2021. Von entscheidender Bedeutung sei Kennedy zufolge „ein besseres Verständnis zwischen den Sowjets und uns“, also das Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der anderen Seite, und das erfordere „mehr Kontakt und Kommunikation“ (JFK, zit. nach Sachs, S.110), genau das Gegenteil von dem, was Jo Biden praktizierte. 

Seit 1992 verfolgten die USA eine Außenpolitik, die auf weltweiter Dominanz beruhe und mit einem „riesige(n) Netz von Militärbasen nach eigenem Gutdünken“ abgesichert werde, „wobei sie die roten Linien anderer Nationen standhaft und ostentativ ignorierten“ (S.125), besonders eben die roten Linien Russlands.

Unsere Leitmedien blenden diese Aspekte leider völlig aus und beten gebetsmühlenartig die Geschichte von Putins imperialistischer Bedrohung gegenüber Europa nach und schreiben eine oberflächliche Täter-Opfer-Geschichte, in der Russland der unberechenbare unmenschlich-brutale Täter ist, als gäbe es diese ganze Vorgeschichte nicht. Für sie sind die USA nur der weiße Ritter, der der überfallenen Ukraine zu Hilfe eilte, ohne eigene Interessen. 

Wie soll man nun zum Frieden kommen?

Ausgehend von Immanuel Kants Überlegungen „zum ewigen Frieden“ (1795) entwickelt Sachs „10 Prinzipien zum ewigen Frieden im 21.Jahrhundert“, die angesichts der machtpolitischen Realitäten und der geostrategischen Interessen der Großmächte zwar etwas idealistisch klingen, aber viele Grundsätze beinhalten, die schon vor Jahrzehnten Konsens in der internationalen Politik waren, heute aber von der westlichen „Wertegemeinschaft“ als Appeasement-Politik geächtet werden, so z.B. die friedliche Koexistenz von Staaten unterschiedlicher politischer Systeme (Bsp. China), gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten (Verzicht auf Regime-Changes), Achtung der territorialen Integrität und Souveränität anderer Nationen, was vor allem hier Russland vorzuwerfen ist, Gewaltverzicht und die Verpflichtung aller Länder, ihre Sicherheit nicht auf Kosten ihrer Nachbarn zu erreichen (Prinzip unteilbarer Sicherheit), ein Punkt, den die NATO und die EU komplett ignoriert haben, in dem sie scheinheilig die Beitrittsfreiheit aller Staaten postulieren (S.132ff). 

Dass damit auch Russland als provozierter Aggressor völkerrechtlich auf der Anklagebank sitzen muss, versteht sich danach natürlich von selbst. Aber ebenso mitschuldig am massenhaften Blutvergießen und der Auslöschung vieler Städte und Regionen sind diejenigen, die die Ukrainer weiter von ihren sicheren Plätzen im Westen aus mit Waffen und Worten in weitere Kämpfe drängen und sich allen Waffenstillstandsverhandlungen verweigern. 

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