„Wolfsburger Kessel“ war rechtswidrig

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2.Juni 2020: Von der Polizei eingekesselte Demonstrierende aus der Perspektive der Betroffenen. Außerhalb des Kessels: Der Journalist Jörg Bergstedt, zu diesem Zeitpunkt noch mit Kamera

Update 17.06.23 10:00 Uhr: einige Detailkorrekturen eingefügt.

Gestern entschied das Oberverwaltungsgericht Lüneburg in zweiter und letzter Instanz über einen Polizeieinsatz, der am Wolfsburger Amtsgericht am 2. Juni 2020 stattgefunden hatte. Damals hatte die Polizei nach einer Solidaritätsdemo vor dem Amtsgericht die Teilnehmenden einer Spontandemo von der Straße gedrängt, eingekesselt, die Personalien aller Beteiligten festgestellt und Platzverweise für das gesamte Wolfsburger Stadtgebiet ausgesprochen. Diese Maßnahmen hat nun das OVG Lüneburg in seiner gestrigen Verhandlung als „eindeutig rechtswidrig“ beurteilt.

Diese Vorgänge liegen gut 3 Jahre zurück. Eine genauere Schilderung dieser Vorgänge können Sie in unserem damaligen Beitrag einsehen: Polizeirepressionen in Wolfsburg gegen Solidaritätsdemo.

Hier einige Auszüge aus diesem Beitrag:

Erster Prozess gegen Klimaaktivist:innen von #blockVW am 2.6.20 am Amtsgericht Wolfsburg

Schon vor Prozessbeginn gab es eine kleine Solidaritäts-Demo vom Wolfsburger Bahnhof durch die Innenstadt zum Amtsgericht. Gut zwanzig Klimaschützer/-innen, unterstützt durch acht Sambaspieler/-innen aus Braunschweig und Wolfsburg sorgten für Aufmerksamkeit in Medien und Öffentlichkeit. (…)

Leider war die Öffentlichkeit von dem anstehenden ‚öffentlichen‘ Prozess im Amtsgericht weitgehend ausgesperrt. Für Pressevertreter:innen, Laienverteidiger/-innen und Zuschauer/-innen standen insgesamt nur vier Plätze zur Verfügung. Das Gericht lehnte es ab, in einen größeren Saal umzuziehen. Selbst angereiste Medienvertreter/-innen bekamen so keinen Zugang zur Verhandlung. Der Prozess endete mit einem Angebot der Justiz, das Verfahren gegen Zahlung einer Geldsumme an eine Umweltorganisation einzustellen. Dies wurde von dem Angeklagten und seiner Verteidigung abgelehnt.  

Zeitgleich versuchte eine Gruppe von vier Aktivist/-innen von Robin Wood, sich mit Transparenten von der Fußgängerbrücke zur Autostadt abzuseilen. Dieser Versuch wurde von Ordnungskräften vereitelt. Dabei soll es zu lebensgefährlichen Situationen für die Aktivist/-innen gekommen sein. Die Beteiligten wurden zur Personalienfeststellung in ein Polizeirevier gebracht und bis zum Abend festgehalten. Ihre Ausrüstung wurde beschlagnahmt. (…)

Die Teilnehmer/-innen der Solidaritäts-Kundgebung, die das Gerichtsverfahren nicht verfolgen konnten, warteten auf der Wiese vor dem Amtsgericht. Da die Polizei ihnen mit Ordnungswidrigkeitsverfahren nach dem Infektionsschutzgesetz drohte, wenn sie den Platz nicht verlassen würden, sollte eine Spontandemo zu den 200 Meter entfernt festgehaltenen Kletteraktivist/-innen gestartet werden. Dieser Versuch wurde durch die Polizei unterbunden: Die 14 Demonstrierenden wurden fast zwei Stunden an der Rothenfelder Straße eingekesselt.

Der Kessel war so eng, dass es nicht möglich war, einen Corona-Mindestabstand einzuhalten. Von seiten der Polizei wurde das Abstandsgebot grundsätzlich nicht befolgt. Es wurden alle Personalien aufgenommen und Verfahren wegen Nichteinhaltung des Mindestabstands angekündigt. Außerdem wurden Platzverweise für die Stadt Wolfsburg erteilt. Einem Journalisten, der die Aktionen der Polizei von außen dokumentiert hat, wurden Fotoapparat und Kamera abgenommen.

Soweit der damalige Bericht von Betroffenen.

Der Bericht endet mit dem Satz: „Inwieweit diese polizeilichen Maßnahmen rechtens waren oder auch nicht, ist sehr umstritten. Sehr wahrscheinlich wird es zu den Aktionen der Polizei ein Nachspiel geben.“

Und die gab es dann auch: Fast alle Beteiligten legten Widerspruch gegen die Bußgeldbescheide ein, fast alle Beteiligten reichten Klage gegen die Maßnahmen der Polizei ein.

Alle Bußgeldbescheide sind, sofern dagegen Widerspruch eingelegt wurde, von der Staatsanwaltschaft Wolfsburg auf Kosten der Staatskasse bereits im November 2022 eingestellt worden.

Das OVG Lüneburg hat nun gestern eine der anhängigen Klagen gegen die Polizeimaßnahmen quasi als „Musterklage“ verhandelt und die Polizeimaßnahmen letztinstanzlich als rechtswidrig beurteilt. Der Kläger, der Braunschweiger Edmund Schultz, ist mit diesem Urteil sehr zufrieden: „Es wurde wieder einmal gerichtlich festgestellt, dass Polizei und Gerichte sich auch in Wolfsburg und Braunschweig an das Grundgesetz halten müssen. Es ist traurig und empörend, dass da offensichtlich Nachhilfe nötig ist.“ Er betonte weiter: „Großen Anteil an diesem Urteil hat der beteiligte Rechtsanwalt Nils Spörkel, der mit viel Engagement unter anderem die Berufung für dieses Verfahren erkämpft hat“

Die noch in gleicher Sache anhängigen Klagen werden nun vermutlich ohne weiteren Prozess abgehandelt und für die Kläger positiv beschieden.

Das gestrige Urteil ist kaum anders zu bewerten als eine Klatsche für die Wolfsburger Polizei und für das Braunschweiger Verwaltungsgericht.

3 Kommentare

  1. Es bleiben Fragen offen: Wird die Wolfsburger Polizei irgendwelche Konsequenzen aus diesem Urteil ziehen? Der damals zuständige Einsatzleiter ist längst im Ruhestand. Wird das Verwaltungsgericht Braunschweig (erste Instanz des Verfahrens) irgendwelche Konsequenzen daraus ziehen? Polizeikessel sind ja auch in Braunschweig nicht ganz unbekannt. Die Würdigung dieser Vorfälle vor Gericht einige Jahre später kommt meistens auch immer zum gleichen Schluss: Rechtswidrig! Es wäre der Demokratie förderlich, wenn überhaupt mal Konsequenzen aus diesen Vorgängen in stärkerem Maße öffentlich eingefordert würden.

  2. Ich als Wolfsburger Bürger kann Hans-Georg Dempewolf nur zustimmen. Die Wolfsburger Polizei zieht keinerlei Konsequenzen, sondern macht weiter wie damals. Letzte Aktion: Razzia und Mitnahme aller IT-Technik beim Verkehrswendeprojekt Amsel44. Lächerlicher Vorwand: Graffitti im Stadtbild und Verwendung des VW-Logos auf einem Flugblatt. Man scheint sich sicher: Wir können machen was wir wollen und haben selbst bei Rechtswidrigkeiten nichts zu befürchten. Was Demokratie ist, bestimmen wir!

  3. Leserbrief, veröffentlicht in „Wolfsburger Nachrichten“ am 21.6.2023 „Vertrauen in den Rechtsstaat nicht gestärkt zu „Streit um den ‚Wolfsburger Kessel‘: Polizei-Einsatz vom 16.Juni war rechtswidrig“.

    Kessel rechtswidrig – und dann?
    Ich war 2020 im Kessel, der nun als rechtswidrig gilt. Nun frage ich: was folgt für die Polizistin, die mir in großer Hitze das Wasser verweigerte? Wegen Corona konnten wir im Kessel keine Wasserflasche herumreichen.
    Was folgt für die Polizei-Verantwortlichen, die diese rechtswidrige Aktion anordneten? Wann bekommt meine Mit-Eingekesselte, die 200 € Bußgeld bezahlte, ihr Geld zurück? Tatsächlich wird das Vertrauen in den „Rechtsstaat“ durch wiederholte Willkür-Aktionen der Polizei nicht gestärkt.
    Mecki Hartung, Leuschnerstr. 26, 38444 Wolfsburg

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