Von Anna Jikhareva in der „Wochenzeitung„
Interview mit dem emeritierten Soziologieprofessor Jean Ziegler, einem der profiliertesten Globalisierungskritiker
WOZ: Herr Ziegler, Sie waren
im Mai auf Lesbos und haben die Erlebnisse in Ihrem Buch «Die Schande
Europas» festgehalten. Gibt es eine Szene, die Ihnen nicht mehr aus dem
Kopf geht?
Jean Ziegler: Was mich in dieser fürchterlichen
Situation am meisten bewegt hat, das waren die Kinder. Etwa ein Drittel
aller Geflüchteten, die man hinter Stacheldraht eingesperrt hat, sind
unter fünfzehn Jahre, darunter viele unbegleitete Minderjährige, die
letzten Überlebenden eines bombardierten Hauses oder eines Schiffbruchs
auf der Flucht. Am schlimmsten war für mich, von den Selbstmordversuchen
der Kinder zu erfahren, sie verstümmeln sich selbst, ich habe die
Messernarben auf den Armen und Schenkeln gesehen: ein Hilferuf totaler
Verzweiflung. Kinder wie meine Grosskinder, die mit einer Stoffattrappe
im Schlamm Fussball spielen. Ich war acht Jahre lang
Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, war in den
schlimmsten Slums der Welt, aber ich habe nie so ein Elend gesehen wie
in Moria.
Was macht die Situation dort noch schlimmer?
Die Menschen sind hinter dreifachem Nato-Stacheldraht eingeschlossen.
Die Nahrung ist ungenügend und oft ungeniessbar, häufig stinkt der
Fisch, den die Leute bekommen. Das ist organisierte Unterernährung. Ganz
schlimm ist zudem die Hygiene. Für hundert Personen gibt es eine
Toilette, die meistens verstopft ist – ein fürchterlicher Gestank –,
zudem eine Dusche für 150 Leute mit kaltem Wasser, im Winter können die
Mütter ihre Kinder nicht waschen, weil sie Angst haben, dass diese an
einer Lungenentzündung erkranken. Dann die Verzweiflung. Die Menschen
wollen ein Asylgesuch stellen, werden aber nicht vorgelassen, sondern
nur physisch registriert. Jenseits des offiziellen Lagers gibt es die
Camps in den Olivenhainen, ein totaler Slum. Die Zelte brechen zusammen,
wenn es stark regnet oder schneit. Kinder sind erfroren.
Wer trägt die Hauptverantwortung für diese Zustände?
Griechenland ist ein souveräner Staat, der Stacheldraht nach Lesbos liefert, die fürchterlichen Verhältnisse und die mangelhafte Versorgung schafft. Letztlich ist es aber die EU, die bezahlt und befiehlt. Die EU-Behörde EASO führt die ersten Befragungen durch und erstellt die Dossiers, die dann von den Griechen bearbeitet werden. Und es ist die EU-Grenzschutzbehörde Frontex, die Pushbacks verantwortet, die Flüchtlingsboote auf hoher See aufgreift und gewaltsam in die Türkei zurückzwingt.
Weiter in der „Wochenzeitung„