Von der Bürgerinitiative zur Freiheitsbewegung: Taksim ist überall

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Für unsere türkischen Mitbürger bringt der Braunschweig-Spiegel diesen Beitrag mit einem dramatischen Film.

Aus der Empörung gegen die Gewalt, mit der Ende Mai die Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas gegen friedliche Proteste im Istanbuler Gezi-Park vorging, ist innerhalb von zwei Wochen eine landesweite Volksbewegung gegen die autoritäre AKP-Regierung geworden. Auch nach mehreren Tagen und Nächten brutaler Unterdrückung der Straßenproteste und der freien Meinungsäußerung lassen sich die Menschen in der Türkei ihre vielfältigen Proteste nicht verbieten. Längst sind Wut und Hoffnung auf Veränderung auch in Deutschland auf die Menschen mit Herkunft aus der Türkei übergeschwappt.

„Taksim ist überall! Überall ist Widerstand!“, lautet überall der Slogan. Trotz guter Medienberichte spielen Deutsche ohne Wurzeln in der Türkei in dieser Solidaritätsbewegung bislang nur eine Randrolle. Vielleicht liegt das an mangelnder Information zu den Hintergründen?

Erst im Mai war der Gezi-Park am zentralen Taksim-Platz von einer bunten Koalition von StadtaktivistInnen besetzt worden. Dabei ging es nicht nur um die Forderung an die Regierung, den gerichtlichen verfügten Baustopp im Gezi-Park zu beachten und die BürgerInnen an der Planung zu beteiligen. Es ging auch darum, die autoritäre Umgestaltung des für die Demokratie in der Türkei politisch sehr symbolträchtigen Taksim-Platz in einem demokratischen Beteiligungsprozess zu überprüfen. Damit hatten die StadtaktivistInnen einen zentralen Ausdruck für die seit Jahren anhaltenden Proteste gegen die oft  gewaltsame Umstrukturierung Istanbuls gefunden. Zahlreiche Stadtviertel in Istanbul sind von Abrissplanungen bedroht oder bereits zerstört. Planungen für eine dritte Brücke und gigantische Kanäle führen zu Bodenspekulation und zur Zerstörung der Trinkwasserreservoirs. „Wenn sie ihren Umbau am Taksim durchsetzen, dann ist kein Stadtviertel mehr vor den Buldozzern sicher.“

Dies war die Stimmung in den politisch sehr unterschiedlich orientierten Bürgerinitiativen der bedrohten Stadtviertel. Vordergründig forderten die AktivistInnen zunächst kaum mehr als demokratische Bürgerbeteiligung bei der Bebauungsplanung. Aber genau damit hatten sie — an einem für das ganze Land symbolträchtigen Ort — den Kern des selbstherrlichen Herrschaftssystems von Ministerpräsident Erdogan angegriffen. Sie hatten das Modell der neoliberal-islamistischen, autoritären Modernisierung in der Türkei in Frage gestellt. Es ist ein Modell, in dem Wirtschafswachstum vor allem auf einem vom Staat gestützten spekulativen Bauboom beruht, ein Modell, in dem die Recht der ArbeiterInnen und Gewerkschaften ignoriert werden, ein Modell, in dem es keine Meinungsfreiheit gibt und kein Recht auf Anderssein, ein Modell,  in dem Flüsse und Dörfer für gigantische  Dämme zerstört werden, in dem Privatisierung und Korruption regieren.

Diese Politik kann die AKP-Regierung inzwischen nur noch mit Terror durchsetzen. Durch die Attacken der Polizei wurden mehre Menschengetötete, viele wurden verletzt und verhaftet. Die öffentlichen Plätze wurden mit Tränengas, Pfefferspray und Plastikgeschossen in bürgerkriegsähnliche Zonen verwandelt. Millionen, mehrheitlich junge Menschen in zahlreichen Städten trotzen dem autoritären Polizeistaat, fordern den Rücktritt der Regierung und ihr Recht auf die Stadt. In vielen Stadtteilen Istanbuls und anderer Städte kommt es seit Tagen zu Straßenkämpfen. Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf.  Aus der Bürgerinitiative ist eine landesweite Freiheitsbewegung geworden. Ende offen.

 

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