PresseClub Braunschweig: Eine Analyse zum „Tiefstpunkt“ der Volksparteien

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Parteienforscher Dr. Matthias Micus (Universität Göttingen) analysierte vor dem PresseClub Braunschweig die Ursachen für den Niedergang der Volksparteien. Foto: Klaus Knodt

Bundesweit jämmerliche 20,5 Prozent Stimmanteil für die SPD. Die CDU überzeugt (ohne ihre bayerische Schwester CSU) gerade noch 26,8 % der deutschen Wähler. Die Krise der einst stolzen Volksparteien ist nicht mehr zu verleugnen. Vor dem PresseClub Braunschweig analysierte Dr. Matthias Micus (Göttinger Institut für Demokratieforschung) den „Tiefstpunkt im Stimmanteil für die Volksparteien.“

„Die Parteienidentifikation hat sich verflüchtigt. Damit einher geht eine Mitgliederflucht“, so Micus. „Früher haben sich die ‚Volksparteien’ auf gestrig anmutende, traditionsgestützte Bindungen verlassen können. Der Arbeiter wählte SPD, der Katholik CDU. Aber diese Traditionsquelle ist versiegt.“

 Verlorene Sinnstoffe

So seien die gesellschaftlichen Milieus beider Lager verloren gegangen. Für aufgestiegene Facharbeiter sei der 1. Mai nur noch ein freier Tag im Kalender wie für Katholiken der Fronleichnam. Die einstigen „Sinnstoffe“ Kommunismus und Himmelreich seien in der Realität aufgegangen und transzendentierten nicht mehr. Doch Feindbilder seien nötig zur Abgrenzung der eigenen (Gruppen-)Identität. Selbst innerparteilich müsse es in den Volksparteien Flügel geben, um in die „diversen Segmente hinein zu leuchten“.

„Der Mangel an internen Konflikten macht die etablierten Parteien uninteressant. Ranküne und Intrige werden nicht mehr entwickelt“, resigniert Micus angesichts eines „plumpen Laiendarstellers“ Martin Schulz, der sich aufgrund seiner Umfragefixierung „jedes Thema angeeignet“ und dadurch „unecht, profillos und übertrainiert“ gewirkt habe. „Die SPD muss sich klar machen, für wen sie Politik machen will. Aber sie definiert alles als ihre Mitte bis auf ein paar Hedgefonds-Manager ganz oben und das anarchistisch-staatsfeindliche Prozent ganz unten.“ Unter Arbeitern und abhängig Beschäftigten habe sie dramatisch an Wählern verloren. Selbst Gewerkschaftsmitglieder wählten (lt. Infratest-Dimap) nur noch zu 31 % die SPD.

Ähnlich agiere die CDU, die allerdings traditionell „den Machterhalt in den Vordergrund stellt“. Dank Merkels „profilloser Richtungslosigkeit“ habe sie ihre „Abgänge zur FDP und AfD“ selbst verschuldet. Und auch den ehemals alternativen Grünen sei wenig gelungen, „obwohl die Zeit mit Atomausstieg und Verkehrswende gut für sie war“. Sie seien „inzwischen machtbewusst, konventionell, und damit für ihre alten Anhänger uninteressant geworden.“ AfD und Linke hingegen hätten von einem diffusen Mangel an sozialer Gerechtigkeit der Etablierten profitiert.

Verlust der Klientel

Mit Zahlen unterlegt Micus seine Thesen: Beide großen Volksparteien verloren lt. Infratest-Dimap (Umfrage am Tag nach der Bundestagswahl) ihre angestammte Klientel. Nur noch 27 % der Arbeiter wählten SPD, die Zahl der SPD-Jungwähler lag um die 20 %. Die „Forschungsgruppe Wahlen“ veröffentlichte zum selben Thema am selben Tag noch verheerendere Ergebnisse. Lediglich die gut berentete Wirtschaftswunder-Generation hält der Sozialdemokratie noch die Treue.

Das „moderne Prekariat“ (25 % im Osten, 10 % im Westen der Republik) habe sich dagegen den Radikalen, zuvörderst der AfD zugewandt, die man als „Ausdruck vertiefender sozialer Spaltung“ begreifen müsse. Der sozialpolitische Kurswechsel der SPD im Jahr 2003 (Agenda 2010) sei der „Knackpunkt“ gewesen, so Micus: „Da begannen viele Menschen, sich als soziale Verlierer zu fühlen. Die sind jetzt zur AfD und den Linken gegangen.“ Aus CDU-Kreisen habe die AfD zudem Zulauf gehabt von konservativen „Wohlstandschauvinisten“.

Journalisten, Medienmacher und Öffentlichkeitsarbeiter (beiderlei Geschlechts) aus der Region Braunschweig treffen sich regelmässig zu gesellschaftsrelevanten Themen, hier am 4. Oktober im „Tandure“. Foto: Klaus Knodt

 Quo vadis, Bundesrepublik? Droht eine „Weimarisierung“ der Parteienlandschaft? Micus wehrt das wortreich weg; die sozialen Verhältnisse von 1930 und 2017 seien nicht vergleichbar. Heute müsse niemand Hunger leiden, man lebe in einem Rechtsstaat, die Massenarbeitslosigkeit sei Geschichte. Wirklich?

Tatsächlich haben Zeitarbeit, prekäre Beschäftigung, Mietwucher, Outsourcing und die Absenkung des Renten- und Sozialkassenniveaus zu Verwerfungen geführt, die inzwischen in der Mitte normaler deutscher Familien ankommt. Früher gab’s die Brille und den neuen Schneidezahn kostenlos auf Rezept – heute wird sie/er für Geringverdiener zum Traum nach dem nächsten Lottogewinn. „Die anwachsende Verdrossenheit über den Staat führt zum Anwachsen des Protests“, erkennt denn auch Micus. Und die Konsequenz hinter der Analyse? Was tun gegen rechte Extreme, die selbst der CSU ein Fünftel ihrer Wähler raubten?

Wie umgehen mit der AfD?

Des Analytikers Micus Antworten sind anrührend hilflos. Eine „Ausgrenzung“, wie man sie mal in Österreich versucht habe, „klappt nicht“. Die Einbindung Rechter in die Regierungen (und damit die Verantwortung) helfe nur zeitweise, stabilisiere dann aber ihre Reputation (Norwegen). Durch eine „inhaltliche Annäherung“ verschiebe sich das Parteienspektrum nach Rechts – „aber am Schluss wählen die Leute das Original“. Nach ein paar Wahlperioden käme es, wie in Frankreich, sogar zu einer rechten Parteienbindung.

In Niedersachsen erkennt Micus die Profilschemen eines erfolgreichen Konzepts für die etablierten Volksparteien. „Der Graben zwischen CDU und SPD ist hier traditionell tiefer als im Bund. Die Standpunkte sind konträrer, Koalitionen unwahrscheinlicher.“ So seien die großen Parteien gezwungen, ihr eigenes Profil und ihre eigenen Projekte herauszuarbeiten – mit dem Ergebnis einer aussenwirkenden Schärfung ihrer Standpunkte. Und das, so Micus, mache Volksparteien wieder attraktiv.

Die PresseClub-Vorsitzende Claudia Gorille bedankte sich bei Dr. Matthias Micus nach seinem Vortrag in Braunschweig. Foto: Klaus Knodt

Die kritischen Mitglieder des PresseClub Braunschweig (www.presseclub-braunschweig.de) unter ihrer Vorsitzenden Claudia Gorille entließen den Gastredner mit viel Beifall. Weitere interessante Veranstaltungen zu den Themen „Syrien“ und „Journalismus heute“ sind bereits terminiert.

 

 

 

 

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