Eine Geschichte der Zukunft unserer Mobilität

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Zu diesem Thema hielt Prof. Dr. Stephan Rammler vom Institut für Transportation Design am Dienstag, 10.01.2012 eine 45minütige Lesung, ein storytelling im Artmax.


Wir schreiben den 01.09.2036 und befinden uns in Potsdam bei einer Festrede des ehemaligen Bundeskanzlers und des ersten 2023 direkt gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Europa Norbert Röttgen.

Die große Transformationszeit in Bezug auf Mobilität setzte 2017 ein und Röttgen verstand es in glänzender Weise seine zentralen Ministerien zu koordinieren und darauf einzustellen. Während der Gründung Europas und in den Folgejahren fanden auf der arabischen Halbinsel, im Schwarzmeerraum und im Golf von Mexiko große Ölkriege statt. Trotz widriger Umstände entwickelten sich die Eisenbahnen zum zentralen Mobilitätssystems Europas.

Stephan Rammler lässt Herrn Röttgen Rückschau halten auf die Entwicklung der Mobilität in den letzten 25 Jahren.

Um das Jahr 2011 hatte die Welt offensichtlich Herzrasen: Fukushima, die arabischen Aufstände, Ölkriege in Westafrika, Flüchtlinge, Bienensterben, Nahrungskrise, Hungersnöte, Irak, Afghanistan, Klimawandel, Städtewachstum, Infrastrukturverfall, Finanzkrise, Staatsbankrotte, Gewaltexzesse u. a. Die Menschen benötigten eine Transformation aufgrund zu geringer Ressourcen für zu viele Menschen auf immer engerem Raum unter schlechter werdenden Lebensbedingungen.

In dem ersten Szenario – der Generation Peak-Oil – befinden sich die Menschen im Jahre 2011 auf der Spitze des Energie- und des Erdölverbrauchs. Ölkriege in zahlreichen Ländern führten zu einer großen Depression. Besser erging es den europäischen Ländern die frühzeitig in den ökologischen Umbau der Infrastruktur investiert hatten.

Szenario zwei – Die Vereinigten Staaten von Europa rücken zusammen – beschreibt das Aufbegehren der jüngeren Generation gegenüber der älteren. Aufgrund der Finanzkrisen 2011 erstarkte nicht nur die Jugendbewegung in vielen Ländern, sondern auch deren Proteste, die sie über die sozialen Medien in die Öffentlichkeit trug. Sie forderten eine politische Integration Europas, durch eine ökologische Transformation des europäischen Wirtschaftsraumes auf der Grundlage einer Klimasteuer. Ab dem Jahr 2017 wurde die Einwanderungspolitik aufgrund von Überalterung und Schrumpfung vollkommen neu bewertet und Europa wurde zu einem Schmelztiegel und einem föderalen Bundesstaat mit äußerst solidarisch geführten Regionalregierungen.

Die dritte Szene zielt auf die neue Unternehmens- und Wirtschaftsethik. Durch die Proteste der jungen Generation sind die Unternehmen gezwungen, in ökologischen und sozialen Fragen mehr Flexibilität zuzulassen. Es wurden Home-Office-Tage als auch Hologramm-Video-Conferencing eingeführt. Zu den Standards gehören Kinderbetreuung, die Integration von Familie und Beruf, standortnaher, attraktiver Wohnraum und besondere Konditionen bei der Sozial- und Rentenversicherung aufgrund der Einheitsrente. Materieller Besitz rückte in den Hintergrund; Wohnraum, Möbel, Fahrzeuge und Geräte wurden flexibel und gemeinschaftlich genutzt.

In der vierten Szenerie wird ein Apollo-Projekt für den Maschinenverkehr beschrieben. Dieses Quantensprungprojekt sah vor, um vom Erdöl unabhängig zu werden, alle Verkehrsträger – unter Bereitstellung regenerativer Energie – zu elektrifizieren. Die Modernisierung begann mit den Fern- und Regionalbahnen und dem Schienengütertransport. Der Straßenverkehr wurde nicht mehr gefördert und die freiwerdenden Mittel standen Infrastrukturprojekten der Schiene und der Binnen- und Küstenschifffahrt zur Verfügung. Investitionen flossen auch in die Produktion der Mikromobilität (u. a. Pedelecs, E-Dreiräder, Segways). Die auslaufenden Förderungen für Privatautos flossen in Güterbahnen, Häfen, Knotenpunkte und eine ökologisch ausgestattete Containerschiffflotte.

Die fünfte Szene beschreibt eine Reise nach New York. Aufgrund der im Jahr 2020 eingeführten CO²- Steuer mit Pro-Kopf-Emissions-Obergrenzen und einem Flugverbot von Flügen unter 1000 Km nahm der Flugverkehr stark ab. Eine Reise nach New York dauerte wieder eine Woche. Die modernen Schiffe sind leise, sauber und schnell und werden mit Wasserstoff und elektronisch gesteuerten Drachensegel betrieben.

Die sechste Szene erfindet die urbane Mobilität neu. Ab dem Jahr 2015 gründet die Volkswagen AG eine Tochtergesellschaft im Bereich Mobilitätsservice namens VW Mobility. Längst hat das Unternehmen VW erkannt, dass auf Dauer mit dem Elektroauto kein Start zu machen ist. Ressourcenengpässe bei der Batterieherstellung, fehlendes Erdöl für die Leichtbaukunststoffe bei den Fahrgestellen und das Reichweitendefizit sprachen für sich.

Die automobilindustrielle Monokultur geriet auf ein Abstellgleis. VW Mobility verknüpfte die gegebenen Verkehrsinfrastrukturen und –produkte miteinander. Die firmeneigenen IT-Spezialisten entwickelten ein Netzwerk auf der Basis des mobilen Internets für den Großraum Braunschweig, um dem Kunden zu ermöglichen, seine Mobilität selbst zu organisieren. Er konnte Carsharing-Autos, Fahrräder, kleine Elektrofahrzeuge, Mitfahrgelegenheiten, Bahn- und Bustickets buchen, bzw. leihen oder kaufen. Überall im Großraum existierten dezentrale Mobilitätsstationen, die mit dem Handy freigeschaltet werden und die die Nutzungsgebühr abbuchen. VW Mobility avancierte zum Erfolgsmodell und kooperierte mit den öffentlichen Mobilitätsanbietern und der DB AG.

Szenario sieben lautet „Von Raststätten und Autobahnen“. Die Spinnerbrücke an der Berliner Avus verkörperte einst die kollektive Suchtstruktur der „Fleisch-Zucker-Alkohol-Nikotin-Benzin-Mobilität-Geschwindigkeits-Kultur“. Das Spinnerbrücken-Restaurant gilt heute als eine regionale Mobil- und Umsteigestationen am Fuße des Natur- und Kulturpark Wannsee-Potsdam. Dort lassen sich heute Elektrofahrzeuge, Fahrräder, Solar-Elektroboote und Segways ausleihen, im Park finden sich Pferdekutschen und Mulikarren. Ähnlich der Spinnerbrücke sind viele ehemalige Autobahnraststätten im Zuge des mobil-kulturellen Wandels umgedeutet und neuen Funktionen zugeführt worden: als Weghäuser für Fuß- und Radwanderer entlang der großen Autobahnschneisen, Kleinbetriebe, Schrebergärten, Spielplätze, Wohnhäuser, urbane Landwirtschaft und oft einfach als Stellfläche für Solaranlagen.

Mit „Tempolimit und Tempodrome“ wird das achte Szenario skizziert. Vor 25 Jahren galt Deutschland als eines der wenigen Länder ohne Tempolimit, in dem die großen Autofirmen ihre Boliden Auslauf gewähren konnten. Unweigerlich musste es aus volkswirtschaftlichen Gründen Tempolimits und Fahrverbote geben. Pfiffige Unternehmer kreierten die ersten Tempodrome – sie kauften alte Teststrecken, Bundeswehrgelände, stillgelegte Teilstrecken von Autobahnen und bauten sie zu Orten gut dosierten Geschwindigkeitsgenusses aus.

Die neunte Szene befasst sich mit dem Warentransport auf Schienen, Flüssen und Kanälen. Der Schlüssel dafür lag in der Kombination von IT-basierter Logistik mit innovativen Transporttechnologien und verkehrsträgerübergreifenden Denkweisen. Die Binnenschifffahrt im Systemverbund mit der Schiene und urbanen Elektroleichttransportern bewältigt heute einen Großteil des Güterverkehrs. Unter anderem der Transport der Nahrungsmittel und deren Produktion verantwortete einen großen Teil der von Menschen gemachten Emissionen und war zudem kostenintensiv. Auch hier verlief die Umstellung recht reibungslos – Nahrungsmittel stammen aus der Region und legen nur kurze Transportwege zurück. Zu den Grundnahrungsmitteln gehören Getreide und Hülsenfrüchte, die Menschen ernähren sich fleischarm und trotzdem ist das Angebot reichhaltig, abwechslungsreich und gut.

Das zehnte Szenario „Die Kreislaufwirtschaft in der Verkehrsmittelproduktion“ beschäftigt sich mit dem rasanten Ansteigen der Rohstoffpreise. Schrottplätze galten auf einmal als Rohstoffminen. Dennoch verbrannten Kunststoffe bei der Verhüttung und es wurde nach biologischen Kunststoffmaterialien geforscht. Die dritte industrielle Revolution sah vor, das jede Ressource von der Wiege zur Wiege („cradle to cradle“), quasi unendlich, zyklisch zirkulieren kann. Insofern können Autos heute fast vollständig wieder zu Autos werden oder zu Fahrrädern, Kühlschränke zu Kleidern und Kleidung zu Düngemittel. Diverse Forschungszweige zogen an einem Strang und so gibt es heute eine Kreislaufwirtschaft fast ohne Müll und Emissionen.

Szene elf setzt die „Immerläufer, Fußgeher und die Volksgesundheit“ in den Focus. Menschen gingen wieder wie früher zu Fuß. Viele Wege in normalem Tempo zu gehen dauerte den Immerläufern zu lange und sie begannen Distanzen in langsamen Laufschritt zurückzulegen. Der sportliche Impuls verband sich mit einer gesundheitsbewussten Grundhaltung, die auf alle Gesellschaftsschichten abfärbte.

Die letzte Szene widmet sich dem Regionalen Tourismus und grünen Ferienwelten. Ab dem Jahr 2020 zog es die Menschen aus Südeuropa in den Norden, weil es ihnen in der Heimat zu heiß und zu trocken geworden ist. Die Südländer hatten mit Wassermangel zu kämpfen und durch die hohen Flugpreise aufgrund der CO²-Kontingente wurde der Urlaub dort unattraktiver. Auch die Winterreisen in die Berge nahmen durch den fehlenden Schnee und die Gefahr von Schlammlawinen ab. Dennoch reisen die Deutschen viel, ihre Ziele sind heute die Nord- und Ostsee und die skandinavische Riviera. Auch die Tourismusbranche im Harz profitiert davon. Urlaubsregionen sind heute mit schnellen Nachtzügen gut erreichbar, doch die Menschen legen auf Schnelligkeit nicht mehr den großen Wert.

Das Finale läutet den Take Off einer neuen Mobilitätskultur ein. Stärker als alle anderen Verkehrsträger hatten die Schiene und die Schifffahrt in der Zeit des Wandels die riesige Verantwortung, Mobilität und Zugang zu Gütern weiterhin zu ermöglichen. Bei alledem rückte die Eisenbahn im Zuge ihrer zweiten Geburt in das Zentrum der Mobilität. Stand das Auto für die Epoche der Beschleunigung, der Individualisierung, des blinden Wachstums und der Zersiedlung, so steht die Eisenbahn Pate für einen Take Off: einer Kultur der Nachhaltigkeit, eines pulsierenden Netzwerkes der Synergie und der Kooperation für ein neues Zeitalter der Ökologie und des stabilen Gleichgewichts.

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