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Deutschland nach Corona – Eine Rezension des Buches von Christoph Butterwegge

Die Bewährungsprobe hat die Bundesrepublik nicht bestanden.

Der Armutsbericht 2021 des Paritätischen Gesamtverbandes vom Juni 2022 bringt Zahlen:-Die Armut hat im zweiten Corona-Jahr in Deutschland ein bis daher nie erreichtes Niveau erreicht. Nämlich 16.6 Prozent der Bevölkerung oder 13,8 Millionen Einwohner. Vor allem Kinder, Rentner und Selbständige sind betroffen. Noch nie hat sich die Armut in jüngerer Zeit so rasant ausgebreitet wie in Deutschland, stellt der Geschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes fest- Dabei sind in dieser Statistik weder die Flüchtlinge des Ukraine-Krieges noch die Opfer der Inflation enthalten. Man kann also in dem rasanten Anstieg die Auswirkungen der Pandemie erkennen.

Christopher Butterwegges jüngst erschienene Abhandlung über „Die polarisierende Pandemie“ wird durch dieses nüchterne Statistik-bestätigt und gibt zusätzliche Aufschlüsse über die Ursachen der steigenden Verelendung. Butterwege, bis vor wenigen Jahren Soziologe und speziell Armutsforschern an der Universität Köln, hat zahlreiche Spezialuntersuchungen zur Pandemie und ihren Auswirkungen zusammengefasst. Er bewertet sie unter sozialen und politischen Gesichtspunkten und zieht Lehren aus ihnen für den künftigen Umgang mit der Seuche. Sie weiten sich aus zu einer Diagnose unserer gespaltenen Gesellschaft und zu Maßnahmen für deren Heilung. Butterwegge schreibt klar und sachlich, aber nicht immer sine ira et studio („ohne Zorn und Eifer“). Er hat Gründe für seinen Zorn, und es wäre nützlich, wenn seine Schrift von vielen Verantwortlichen gelesen und beherzigt würde.

Sein Leitfaden ist die Frage, ob die soziale Ungleichheit, die er für das Hauptübel unserer Gesellschaft hält, durch das Infektionsgeschehen selbst, die ökonomischen Folgen der Schutzmaßnahmen so wie die Hilfsmaßnahmen des Staates vergrößert oder verkleinert wurden.

Er unterscheidet drei Ebenen:

  • Die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie (Infektionszahlen sowie Auswirkungen auf einzelne Personengruppen)
  • Das Reißen der Lieferketten sowie Einbruch der Arbeitsmärkte durch /Schutzmaßnahmen bis zum Lock down.
  • Die Verteilungswirkung von staatlichen Beihilfen zur Stabilisierung der Wirtschaft statt auf einzelne Bevölkerungsschichten.

Bereits bei mittelalterlichen Seuchen ergab sich eine Differenzierung: Die Wohlhabenden hatten mehr Möglichkeiten, sich der Ansteckung zu entziehen. Weitgehende Verelendung ist als Folge der Seuche zu verzeichnen. Die Seuche selbst war nicht Ursache der gesellschaftlichen Ungleichheit, aber sie trat als Brandbeschleuniger auf. Diese Konsequenz hat sich, so Butterwegges These, bis heute erhalten.

Aufschlussreich im Falle der Corona-Pandemie ist die Tatsache, dass sich die Infektionszahlen nicht nur nach arm und reich verteilen, sondern dass auch politische Faktoren eine Rolle spielen: Die Orte, in denen Coronaleugner in der Mehrzahl waren, erwiesen sich als Hotspots der Krankheit.

Die Bettenmisere in den Krankenhäusern ist bekannt. Der Leser/die Leserin weiß, dass die vielgelobten, „systemrelevanten“ Pflegekräfte auch zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie noch immer viel zu schlecht bezahlt werden und daher oft aus dem Beruf aussteigen. Immerhin ist es nützlich, dass Butterwegge auf den systembedingten Charakter dieses Missverhältnisses hinweist.

Was die staatlichen Maßnahmen betrifft, so machen sie sich nicht nur bei der Unterschicht, sondern dank zahlreicher Insolvenzen auch beim Mittelstand bemerkbar. Während im Privat- und Reproduktionsbereich strikte Kontaktbeschränkungen angeordnet wurden, blieb der Produktionsbereich davon verschont. Detailliert geht der Autor auf die Missstände beispielsweise in der Fleischverarbeitungsindustrie ein, die weitgehend migrantischen Zeitarbeiten betraf es mit voller Wucht. Offensichtlich sollte die Großindustrie vom Lock down verschon bleiben, der ihre Wettbewerbsfähigkeit geschmälert hätte. Das entspreche neoliberaler Standortlogik, konstatiert Butterwegge und erläutert bissig, während Veranstaltungen unter freiem Himmel verboten wurden, standen die Arbeitskräfte oft dichtgedrängt am Fließband. Selbst für Masken wurde erst sehr spät gesorgt.

Die Pandemie hat Deutschland nicht, wie manche erwarteten, zusammengeschweißt, sondern den Graben zwischen den Besitzenden und den Mittellosen, vertieft. Was zunahm, war neben der relativen die absolute Armut, die sich zumeist in Wohnungs- und Obdachlosigkeit manifestiert. Der Autor schätzt die Zahl der Obdachlosen im Frühjahr 2022 auf über 600 000. Für Kinder. Jugendliche, Alleinerziehende und Senioren ist das Armutsrisiko gestiegen. Lohn- und Kapitaleinkünfte driften weiter auseinander. Interessanterweise geht er auch auf die Gefängnisinsassen ein, die zumeist ihre Beschäftigung und den geringen Lohn dafür verloren haben.

Zu verzeichnen sind hohe Krankenzahlen durch schichtspezifische Vorerkrankungen: Adipositas, Diabetes mellitus, Asthma,Depression. Viele prekär Beschäftigten verloren Jobs und Nebenjobs in der Gastronomie.

Dagegen stehen exorbitante /Gewinne vor allem in der Pharmaindustrie. 1,5 Billionen Steuergelder flossen in die Wirtschaft. Butterwegge konstatiert einen Klassencharakter der Finanzhilfen: Kleine und Soloselbständige mussten hohe Hürden überwinde, um an staatliche Hilfen zu kommen. Positiv hingegen bewertet wurde das Kurzarbeitergeld, das eine höhere Arbeitslosigkeit verhindern half.

Der Autor nimmt einzelne Bevölkerungsgruppen in den Fokus, so „das erschöpfte Geschlecht“: Frauen, insbesondere Mütter, die durch Schul- und Kitaschließungen zusätzlich belastet wurden. Oft standen nur kleinere Wohnungen zur Verfügung. Vielfach kam es zu einem Rückfall ins Patriarchat.

Senioren litten unter Pflegenotstand und Besuchsverbot. Es gab die Tendenz zum „Wegschließen“ der Alten. Der Autor sieht darin eine Einschränkung des Grundrechts auf Selbstbestimmung.

Systemrelevanz erwies sich, insbesondere bei den Pflegekräften, als fragwürdige Kategorie. Erwartet wird reibungsloses Funktionieren in einem System, das man vorher kaputtgespart hat. Je länger die Pandemie dauerte, desto häufiger wurde der Appell an die Solidarität instrumentalisiert oder durch das neoliberale Vokabular von „Selbstverantwortung“ ersetzt. Und wer sollte für die Schulden haften? Offenbar die nächste Generation. Eine Diskursverschiebung vollzog sich; statt von der sozialen Solidarität war nun von Generationengerechtigkeit die Rede.

Auch auf Kinder und Jugendliche geht Butterwegge differenziert ein: Während die Schulen und Kitas ohne Widerspruch geschlossen wurden, stritt man sich, wie er mit bitterer Ironie bemerkt, über die Öffnung von Baumärkten, Biergärten und Bundesligaspielen. Viele Lehrkräfte waren am Limit. Die Geräteausstattung kam spät und ungleichmäßig. Den Schülern aus Hartz-IV-Familien wurden digitale Endgeräte erst nach langen Kämpfen gestattet. Die Kinder und Jugendlichen verloren wertvolle Jahre ihrer Entwicklung. Nachweisbar sind viele Wissenslücken bei den Schülern. Man kann von einer „Generation Corona“ sprechen; manche fürchten, dass ihre Abschlüsse nicht als vollgültig anerkannt werden. Die Schulen sollen als letzte geschlossen werden. Aber nicht das Wohl der Schüler war dafür ausschlaggebend, sondern die Industrie fürchtete, dass dann die Eltern wieder ausfallen würden. Es fehlte nicht nur an Lehrkräften, sondern vor allem an digitalen Endgeräten vor allem beim ärmeren. Der Mittagstisch für ärmere Kinder ging häufig verloren. Zentral war die Wohnungsfrage, gibt es ein eigenes Zimmer?

In vielem vergleichbar war die Misere der Studenten, die oft mehr als ein Semester verloren. Wegen verlorener Nebenjobs mussten sie öfters ihr Studium unterbrechen oder aufgeben.

Butterwegge hat Lehren aus den Pandemie-Erfahrungen gezogen. Der Charakter einer Gesellschaft zeige sich in solchen extremen Situationen. Die Pandemie war eine Bewährungsprobe, und die Bundesrepublik hat sie nicht bestanden.

Butterwegges Ratschläge für das Schulwesen entsprechen im Wesentlichen denen der Gewerkschaft Erziehung Wissenschaft: Mehr Lehrkräfte, mehr Schulpädagogen und Psychologen, eine bessere Ausstattung der Räumlichkeiten.

Seine Ratschläge für den Pflegebereich: Gesundheit ist keine Ware, daher solle man Pflege und Krankenhäuser nicht privatisieren! Der Ausbau der Krankenhäuser solle nicht nach Gewinnmaximierung, sondern nach Bedarf erfolgt.

Eine Rückkehr zur „Normalität“, d.h. zum Zustand vor der Pandemie, werde es nicht geben, Veränderungen seien unvermeidlich. Und da geht der Armutsforscher Butterwege, der kurz zuvor über die „Gespaltene Nation“ Deutschland ein Buch veröffentlicht hatte, auf das Grundübel unseres Gemeinwesens zurück: Die ökonomische Ungleichheit, die sich auch in der Pandemie unheilvoll manifestierte: Er analysiert verschiedene im Umlauf befindliche Theorien, die Abhilfe schaffen sollen. Am bekanntesten ist das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE), das er aber verwirft, zum einen weil es nach dem Gießkannenprinzip verfährt, zum anderen, weil es inkompatibel mit dem derzeitigen Sozialsystem ist. Stattdessen plädiert er für einen „inklusiven Sozialstaat“, der auf einer soliden Bürgerversicherung basiert. Sie muss aus einer bedarfsgerechten, armutsfesten, repressionsfreien Grundsicherung bestehen. Sie soll steuerfinanziert sein. Außerdem plädiert er für eine Erwerbstätigkeitssicherung, die das im Grundgesetz fehlende „Recht auf Arbeit“ ersetzen würde. Das erforderte allerdings einen vorausschauenden, risikobereiten Staat.

Doch dass wir in der jetzigen Situation einen solchen besitzen, wagen Leser und Leserin zu bezweifeln.

Christoph Butterwegge:

Die polarisierende Pandemie

Deutschland nach Corona

Beltz Juventa 2022

(19.95 €)

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