Jetzt hat Braunschweig also ein Einkaufszentrum. Ganz dringend notwendig direkt neben der Innenstadt, in der sich das Einkaufen ja gar nicht lohnt, weil es da beinahe gar keine Geschäfte gibt. Für die Infrastruktur einer provinziellen ehemaligen Zonenrandstadt wie Braunschweig ist so ein ECE-Center also hochnotwichtig. Oberbürgermeister Doktor Gert Hoffmann verließ extra die NPD, um auf der Karriereleiter in seiner neuen Partei, der CDU, hoch genug steigen zu können, um über die Umwegen Gifhorn und Dessau seinem Braunschweiger Volk in Eigenregie Gutes zu tun, auch gegen den Willen dieses seines Volkes, das ja manchmal zu seinem Glück erst gezwungen werden muß. „Der Führer schenkt den Klonen eine Stadt“, wie Extrabreit einst sangen, denn eigentlich sind die „Schloß-Arkaden“, die geschwulstartig in all ihrer Häßlichkeit aus der Fassadenrekonstruktion des im zweiten Weltkrieg zerstörten Residenzschlosses wuchern, eine Stadt in der Stadt, eine eigene Welt, ein eigener Planet.
Was soll all das Gemotze, heißt es, den Hochten-Bau, der jetzt „Galeria Kaufhof“ heißt und lange schon unter Denkmalschutz steht, wollte zunächst auch niemand haben, auch den wollte man zuerst boykottieren, doch heute denkt niemand mehr daran und konsumiert dort, als gäbe es den Bau schon immer und als wäre nichts Böses damit verknüpft. So wird es, sagen die Befürworter, den Menschen mit den „Schloß-Arkaden“ später auch ergehen. Erst beschweren sich Tausende, dann kaufen sie dort auch wie selbstverständlich ein.
Natürlich nähert man sich diesem Betonklotz, wenn man dies schon muß, von rechts, das geht gar nicht anders. Man stürzt sich ins Gewimmel, das nach 18 Uhr an diesem Eröffnungstag bereits merklich nachgelassen hat, verglichen mit dem, was von Radio und Kollegen warnend berichtet wurde, und schlendert an Hochten vorbei auf den Schloßpark zu, der gegenüber der häßlichsten Straße Braunschweigs nurmehr ein platter Platz ist, in dessen Mitte das Ziel aller suggerierten Konsumententräume prunkt. Die Enthüllung des goldenen trojanischen Kalbs leider gerade so versäumt, imaginiert man sich Tumbleweeds, die zwischen den wie panisch in den rettenden Tempel flüchtenden Bevölkerungshorden umherwehen. Spielt da nicht jemand auf seiner Mundharmonika? Nein, es ist vielmehr das elektrische Summen des rettenden Raumbahnhofs in der Einöde des Alls. Die Erde ist geplündert, ihre überreste verkümmern im „Innenstadt“ genannten Teil der bekannten Welt, einzig der künstliche Planet „Schloß-Arkaden“ bietet Schutz vor den tödlichen Strahlen, die den Raum dazwischen unbewohnbar machen, denn niemand setzt sich noch freiwillig dem längst unmeßbar gewordenen Feinstaub aus.
Oder doch? Vor dem selbstverständlich ansehnlichen winzigen schloßähnlichen Teil der nach ihm, dem Schloß, benannten „Arkaden“ lungern Jugendliche auf den Treppen herum. Dieses Bild kennt man noch aus seligen Schloßpark-Zeiten, nur hat heute noch niemand Nadeln im Arm, und ungefähr 200 Bäume fehlen auch. Gefühlte 42ha unbewohnbare, lebensfeindliche Steinfläche trennen das veraltete europäische Konzept „Fußgängerzone“ vom doch so viel besseren amerikanischen Konzept „Shopping Mall“. Die Sockel, die eines Tages die den John-F.-Kennedy-Platz gerade noch so verschönernden Reiterstandbilder mit den netten Pferden und den politisch mehr als nur zweifelhaften Reitern aufnehmen sollen, ragen noch wie Stumpen aus dem Pflaster. Man sollte Sprayern erlauben, sie mit „Nazis raus!“-Parolen zu verschönern. Daran vorbei, es blendet so, man erträgt die Pracht nicht, da, der Portikus, was kommt danach? Ein Springbrunnen mit Zeitschaltuhr und ein weiterer Eingang in die Grotte der Erlösung. Nun gut, es muß wohl so sein. Augen zu und durch.
Augen wieder auf ist eine schlechte Idee. Die erste innere Regung ist Entsetzen. Das pure, blanke Entsetzen. Man hat ja schon viel Elend gesehen, aber das, was sich hinter der Schiebetür offenbart, unterbietet jede Horrorvision. Der Herumgereiste hat sich diverse Vergleichseinrichtungen ansehen müssen, im In- wie im Ausland, und hat sich jedes Mal gewundert, wie man, als Beispiel, einen gleichgeschalteten Starbucks einem natürlich gewachsenen Giallo-Rosso vorziehen kann. Die Schloß-Arkaden bieten ungefähr die Geborgenheit und Wohlfühlatmosphäre des Raumschrotthändlers in „Episode I“. Und ein ähnliches Publikum, auf das der Werbeslogan „Shopping In Elegance“ genausowenig zutrifft wie auf das Gebäude selbst. Ob das fontänenbestückte Planschbecken im Keller eines Tages, wenn Braunschweig hoffentlich erneut von den Alliierten befreit worden sein wird, auch für dämliche Fotos von „Journalisten in Hoffmanns Badewanne“ herhalten muß?
Sobald man also die Demarkationslinie zwischen „Außen“ und „Innen“ überschritten hat und mit vor Entsetzen sperrangelweit geöffnetem Mund im offenbar von Eitergeschwüren geplagten Schloßsubstitutappendix steht, verliert man sofort den Bezug zu Raum und Zeit. All das hat man doch schon mal gesehen – wo war das nur? War es in San Fransisco, in Malmö? Oder war es „Fisketorvet“ in Kopenhagen? War es in Hamburg, Berlin, München? Oder in der verhaßten Nachbarmetropole Wolfsburg, die sich einen ähnlichen unappetitlichen Schandfleck hat aufschwatzen lassen, der dort nur nicht so auffällt, weil der Rest genauso unappetitlich ist? Oder doch nur wie der „City Point“ ein paar Meter weiter, der ja auch schon ein ECE-Ding ist? Von Draußen nach Drinnen ist nicht nur ein einzelner Schritt, das ist eine Reise, eine Reise an einen Ort, der nicht mehr länger Braunschweig ist. Das ist die pure Willkür, das ist gesichts- und charakterlos, das ist glatt, häßlich, eng und laut. Das ist eine Aneinanderreihung von 150 Ladenketten, die zu gefühlten 80% ohnehin mindestens eine Filiale im alten Stadtzentrum haben und den ganzen Kasten noch verwechselbarer machen, weil man all diese Läden in jedem anderen Einkaufszentrum, hier kurz EKZ genannt, ebenfalls vorfindet. Wo genau also befindet man sich, wenn man im Innen ist? Das muß eine weite Reise gewesen sein, das ist wahnsinnig fern von allem, was man mag und dem man vertraut. Und was treibt in Zeiten der Rezession all diese Kreaturen hierher, die übers Jahr ihre schwindenden Luxusbudgets beklagen, dann aber zur vermeintlichen Schnäppchenjagd im Kohleköder alles verprassen, was sie nach eigener Aussage gar nicht haben?
Man läßt die uniformierten Aliens an sich vorbeiziehen, dreht sich um und verläßt zum Innenraumbeschallungsgeplärre Marke „Feinstaub für die Ohren“ das zum Krängen verurteilte Handelsschiff am Bohlweg. Beim Schritt in die Sonne, vorbei an so individuellen Gourmetstationen wie McDonald’s, überlegt man, wie lange es dauern wird, bis der erste Laden in der Satellitenstadt dort hinten wieder schließen muß und welcher es sein wird. Die Auswahl ist groß, ganz konträr zum Angebot, das dort herrscht. Die Sonne scheint und wärmt sogar ein bißchen, der Platz ist weitläufig, der Bohlweg fern, abstoßend und doch lockend, verheißt er doch das Gute, das er gekonnt verbirgt, denn hinter ihm befindet sich das alte Braunschweig, das echte Braunschweig, eines, das es nur dort gibt, nicht auch in Los Angeles, Rom, Bochum. Man schüttelt sich wie nach einem schlechten Traum und kann in seiner Vorstellung nicht zusammenbringen, was nicht zusammengehört: Die Schloß-Arkaden und seine Heimatstadt. Nein, denkt man, das gibt es hier nicht, so etwas wird doch niemand hier bauen wollen, das ist ein vorübergehendes Phänomen, so abstoßend wie eine Freakshow, von der man aber weiß, daß sie nach kurzer Zeit die Stadt wieder verlassen und weiterziehen wird. Doch das wird uns bei den Schloß-Arkaden leider zunächst verwehrt bleiben, sofern der Untergrund nicht schneller weicht, als von den einen befürchtet und den anderen erhofft, und den Sündenpfuhl schwappend und schmatzend in sich aufnimmt.
Ein Plakat, das den Verkehr nicht halb so stark beeinträchtigt wie in heißen Phasen die Massen von Wahlplakaten, von denen zumeist unansehnliche Führerfiguren stimmenheischend auf die Autofahrer herabblicken, hängt an einer einsamen Lampe. Die „Schloß-Allianz 1:1 Original“ bewirbt die nach der Aussage des Oberbürgermeisters originalgetreue Rekonstruktion des Residenzschlosses, das seinerzeit anstelle eines noch älteren Schlosses gestellt wurde, das wiederum von den mit seinen Herrschern unzufriedenen Braunschweigern kurzerhand angezündet wurde. Das waren noch Zeiten! Aber der heutige Residenzschloßrekonstruktionsversuch, der ein paar Meter weiter südlich steht als vor seiner Demontage, wird leider nicht brennen – er ist aus Beton.
Exit Planet Führerbunker