„Wir sind in Putins Fadenkreuz!“ – Wirklich?

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Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Carsten Breuer, oberster Soldat der Bundeswehr, ist sich ganz sicher: wir sind in „Putins Fadenkreuz“: „wenn wir Putin zuhören, ist leicht festzustellen, dass seine Ziele über den fürchterlichen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinausgehen“; der „aggressive Neoimperialismus“ der Russen ziele ganz klar auch auf uns, ein Angriff sei bereits in fünf bis acht Jahren möglich. Beleg? Keiner. (BZ,22.3.24)

Ben Hodges, vor einigen Jahren Oberkommandierender der Streitkräfte der USA in Europa, spricht sogar von „Putins unmissverständlich artikulierten Plänen zur weiteren Eroberung Europas“. Belege? Fehlanzeige. (FAZ,23.3.24)

Inzwischen prasseln Meldungen zum kommenden Krieg von allen Seiten auf die Bürger ein: wir müssen uns auf einen „Landkrieg“ vorbereiten, sagt Minister Habeck, die Krankenhäuser müssen sich auf Krieg einstellen, so Minister Lauterbach, die Bundeswehr muss in den Schulen die Kinder und Jugendlichen auf die Kriegsgefahr mental vorbereiten, meint die Bildungsministerin, auch der Zivilschutz müsse dringend ausgebaut werden. Die Bundeswehr arbeitet an einem „Operationsplan Deutschland“, und der 100-Milliarden-Kredit für die Aufrüstung der Bundeswehr soll nur der Anfang sein, heißt es. Ab 2027/28, wenn diese Sondermittel verbraucht seien, müsse der Etat für die Bundeswehr weiter massiv erhöht werden.

Keine Frage: wenn die vorgetragenen Einschätzungen stimmten, wäre Vieles von dem, was jetzt propagiert wird, schlimm, aber unvermeidlich. Aber stimmen die Einschätzungen überhaupt? 

Um eine realistische Antwort zu gewinnen, sollten folgende Gesichtspunkte einbezogen werden:

Verfügt Russland über eine Ideologie, die auf Eroberung aus ist?

Nicht selten wird von Politikern und Medien ein einfacher Vergleich angestellt: Putin sei der neue Hitler, wie dieser strebe er die Eroberung und Beherrschung ganz Europas an. Nur – die Nazis hatten eine klare Ideologie, nach der es notwendig sei, für das arische Deutschland „Lebensraum im Osten“ zu erobern, um dann letztlich den Kampf um die Weltherrschaft zu führen. Damit war eigentlich auch klar, dass es für die Gegenseite allenfalls taktisch einen Sinn machen konnte, Hitlerdeutschland durch Verhandlungen für eine gewisse Zeit aufzuhalten. Wichtiger wäre gewesen, ein Bündnis – etwa zwischen Frankreich, Großbritannien und der Sowjetunion – zu schaffen, das Deutschland hätte aufhalten können, und gleichzeitig nach Kräften aufzurüsten. Leider versäumten vor allem Großbritannien und Frankreich diese Chance, so dass der Weltkrieg nicht mehr aufzuhalten war (darüber streiten allerdings die Historiker noch). 

Hat Russland nun heute wirklich eine ähnliche Ausrichtung wie Deutschland damals? Richtet es seine Bevölkerung auf eine Ideologie der Expansion aus? In Zeiten des Kalten Krieges vertraten manche Politiker und Medien im Westen die Auffassung, die marxistische Ideologie  fordere die Weltrevolution, weshalb die Sowjetunion nach Expansion dränge. Schon gegen diese Auffassung ließen sich viele Argumente anführen. Aber diese Ideologie ist mit der Sowjetunion untergegangen. Man muss das politische System in Russland nicht sympathisch finden, aber dass es eine Ideologie der Expansion und der Eroberung Europas verfolgt, ist nicht festzustellen.  

  • Ist Russland der NATO militärisch überlegen oder wenigstens ebenbürtig?

Wollte die russische Föderation dessen ungeachtet ein oder mehrere Länder angreifen, hätte sie es sofort mit der NATO zu tun. Hätte sie dann überhaupt militärisch die Chance auf Erfolg?

Das unabhängige Stockholmer SIPRI-Institut analysiert fortlaufend die Rüstungsausgaben der Staaten der Welt. Für das Jahr 2022, also das erste Kriegsjahr, meldet es 877 Milliarden Dollar für die USA, für Russland dagegen 86,4 Milliarden. Allein die sechs wichtigsten europäischen NATO-Länder plus Großbritannien kommen auf etwa 254 Milliarden Dollar, zusammen mit den USA gaben sie also mehr als 1.100 Milliarden aus. Nun muss man in einem umfassenden Vergleich natürlich weitere Faktoren berücksichtigen, etwa die industrielle Basis beider Seiten (klarer Vorteil der NATO), die Waffentechnik (bei Überschallwaffen etwa hat Russland derzeit gewisse Vorteile), die militärischen Fähigkeiten, Kampferfahrung, Opferzahlen in vergangenen und gegenwärtigen Kriegen, die Motivation der Soldaten und Vieles mehr. Unter dem Strich kann man aber feststellen, dass die NATO insgesamt im Kriegsfalle Russland schon jetzt deutlich überlegen wäre. Die Aussichten Russlands, in einem großen Krieg gegen die NATO irgendwelche Siegchancen zu haben, sind gleich Null.

  • Riskiert die russische Führung wirklich einen Angriff auf NATO-Gebiet?

Vor allem aber: In dem Moment, wo ein NATO-Mitglied von Russland angegriffen würde, greift die Beistandspflicht nach Artikel 5 des NATO-Vertrages: alle Mitglieder der NATO müssten sich verhalten, als seien sie selbst angegriffen worden. Selbst wenn „nur“ das kleine Estland oder Luxemburg angegriffen würden, würde der Aggressor es mit der geballten Kraft der NATO zu tun bekommen. Durch Truppenstationierungen etwa in Litauen, Polen oder Rumänien wie durch Großmanöver wird das von der NATO demonstrativ unterstrichen. Die Wahrscheinlichkeit, dass in so einem Großkonflikt Atomwaffen eingesetzt werden, ist groß; und dass sich daraus ein alles vernichtender Atomkrieg entwickeln könnte, kann keine der beiden Seiten ausschließen. Ein russischer Angriff auf NATO-Gebiet hätte also etwas Selbstmörderisches: „Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter“, würde also nur wenige Minuten länger leben als der Angegriffene. Selbst wenn man der russischen Führung die übelsten Absichten unterstellen würde, Dummheit oder Gedanken an einen kollektiven Selbstmord kann man getrost ausschließen.

„Es gibt keine Beweise …“

Der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer stellt fest, die gängige Meinung im Westen sei, dass Putin im Grunde ein Imperialist und Expansionist sei, der zunächst die gesamte Ukraine erobern wolle und dann weitere Länder in Osteuropa, um ein neues Russisches Reich zu schaffen. Sein Urteil fasste er jüngst so zusammen:

    „Es gibt keine Beweise, die die gängige Meinung im Westen stützen:

      Es gibt keine Beweise dafür, dass Putin ein Großrussland schaffen wollte.

Es gibt keine Beweise dafür, dass er die gesamte Ukraine erobern wollte.

      Und es gibt sicherlich keine Beweise dafür, dass er neben der Ukraine

      auch andere Länder erobern wollte oder will.“ (Telepolis, 14.3.24)

Vielmehr habe die russische Entscheidung für den – von Mearsheimer verurteilten –  Krieg gegen die Ukraine damit zu tun, dass die NATO-Erweiterung in der Ukraine von Russland als existenzielle Bedrohung angesehen worden sei, die um jeden Preis zu verhindern sei. 

Im Fadenkreuz oder nicht? Jede(r) sollte sich in Ruhe eine eigene Meinung bilden. 

Wer hat nun recht? 

Wäre es Mearsheimer, würde man zwar grundsätzlich darauf achten, die eigene Verteidigungsfähigkeit zu erhalten; zusätzliche weitere Hochrüstung wäre aber völlig überflüssig. Statt immer weiter an der Spannungsspirale zu drehen, würde man auf diplomatischem Wege auf ein Ende des Krieges hinarbeiten, ein neues Sicherheitssystem anstreben und wieder auf den Pfad der kontrollierten beiderseitigen Abrüstung zurückkehren – wozu erhebliche Anstrengungen, viel Zeit und Geduld nötig wären, das aber dann mit einiger Aussicht auf Erfolg. Mit dem einstigen „Erbfeind“ Frankreich hat es schließlich auch geklappt (wenn auch erst nach zwei Weltkriegen).

Wären es Breuer und Hodges, so müssten wir uns tatsächlich auf Blut, Schweiß und Tränen einstellen. Diplomatische Lösungen anzustreben erschiene dann als vergebliche Liebesmüh. Man müsste aufrüsten, ziemlich sicher auf Kosten des Wohlstands der meisten Bürger, man müsste sich auf ein wirtschaftliches Zurückfallen einstellen und tiefgehende soziale Spannungen in Kauf nehmen; der für den Klimaschutz dringliche Wandel würde zurückgeworfen und vermutlich nicht mehr ausreichen, um das Schlimmste zu verhindern. 

Es gibt also für jede und jeden von uns gute Gründe, nicht voreilig eine Behauptung zu schlucken, komme sie auch von noch so prominenter Seite und werde sie noch so häufig in den meisten Medien wiederholt. Wir sollten es zur „Chefsache“ machen, das selber genau zu überprüfen, auch wenn es Zeit und Mühe kostet. 

4 Kommentare

  1. NTV sagte am 28.3.2024:
    Russland habe keine Pläne, einen NATO-Staat anzugreifen, auch nicht Polen, die baltischen Staaten oder Tschechien.
    „Wir haben keine aggressiven Absichten gegenüber diesen Staaten“, so Putin. „Die Vorstellung, dass wir irgendein anderes Land angreifen werden – Polen, die baltischen Staaten und die Tschechen haben auch Angst – ist völliger Unsinn.“ Aber NTV glaubt die Aussage Putins im weiteren Artikel nicht. Dann wird über Zitate gesagt, dass sich die EU 5-8 Jahre lang auf einen Krieg vorbereiten müsse. (Ende NTV)
    Das Russland gar nicht die Ressourcen für einen Besetzungskrieg gegen die EU hat, wie Andreas beschreibt, wird geflissentlich ausgeblendet. Warum sollte Russland eigentlich 5 oder mehr Jahre warten, wenn es diese dumme Absicht hätte? Russland hat seine Mängel in der Rüstung korrigiert und stellt jetzt hochmoderne Waffen in großen Mengen her. Warum sollte Russland warten, bis die EU in einigen Jahren nachzieht. Entweder man glaubt seinen eigenen Argumenten nicht, oder man hat keine Ahnung von den großen Mengen an Waffen, die Russland augenblicklich produziert. Aber trotz dieser Mengen an Waffen Russlands wäre es ein dummes Abenteuer die EU und damit die NATO anzugreifen, Russland bräuchte dafür noch viel mehr Waffen und Soldaten.
    Die Idee der EU-Kriegstreiber ist es Soldaten in die Ukraine zu schicken und darauf zu hoffen, dass das böse Russland vielleicht doch nicht so böse ist und keine Atomwaffen einsetzt. Wenn von ukrainischem Boden aus, mittels NATO-Soldaten, Russland angegriffen wird, etwa mit Taurus-Raketen, dann gibt es für Russland noch eine Zwischenstufe, die geflissentlich ausgeblendet wird. Russland wird nicht mit Panzern in die EU einmarschieren und seine Möglichkeiten überdehnen, sondern wird mit Fernwaffen, wie den Hyperschallwaffen ohne atomaren Sprengkopf, Gegenschläge in ganz Europa ausführen. Natürlich kann das ganz schnell zum atomarem Weltkrieg führen.
    Nur Friedensverhandlungen führen aus diesen Kriegsüberlegungen heraus!

  2. Persönlich finde ich es ein wenig schade, wenn solche gelungenen Artikel nur in einem Regionalblog veröffentlicht werden.
    Von der Qualität passt der Artikel auch in die Nachdenkseiten oder in den Blog Globalbridge ( https://globalbridge.ch/ ). Vielleicht kann man ihn dort auch als Gastartikel einreichen, um eine größere Leserschaft zu erreichen.
    Dem weiteren Kommentarschreiber schließe ich mich an: „Nur Friedensverhandlungen führen aus diesen Kriegsüberlegungen heraus!“
    Viele Grüße & lieben Dank für die unabhängige Berichterstattung!

  3. 1. „Russland zerstört Europa“?

    Ein Land mit dem Bruttosozialprodukt von (kombiniert) Italien und Griechenland (*) greift die Nato an und gewinnt?
    [ * oder Texas, oder meinetwegen New York plus Kansas :-)]

    2. zu US-Hyperschall ‚Dark Eagle‘

    wird seit Jahren getestet und funzt nicht.

    Zitat ‚Warzone‘:
    “It’s definitely a launcher problem,” Bush said, according to Breaking Defense. “There’s no new science, it’s just a mechanical engineering problem to make sure … that missile works with that launcher … because both were new and normally you don’t do it that way.“
    https://www.twz.com/launcher-woes-causing-dark-eagle-hypersonic-missile-test-aborts

    uebersetzt: „‚Launcher‘ (Startgeraet) und Waffe sind beide neu – normal macht man das so nicht.“
    m.a.W.: normal baut man ein Startgeraet fuer die Rakete und passt nicht die Rakete an den Starter an.

    Hintergrund: die Hyperschall-Raketen sollen im selben (standardisierten) Startgeraet gelagert werden wie die Flugabwehrraketen, die schon in Europa sind.
    m.a.W.: dass man die Startcontainer von aussen (von Flugabwehrrakten) nicht unterscheiden kann, ist eine so wichtige Eigenschaft dieser Waffe, dass man mit ihrer Indienststellung jahrelang wartet.

    Der Gegner kann in Zukunft also nicht erkennen, was gerade gestartet wurde – eine FlaRak, eine Atomrakete, oder was?

    Was plant die Nato? Einen Erstschlag? Einen ‚Enthauptungsschlag‘ (Toetung einer Regierung), in Kombi mit einem Abfangmanoever eines (russ.) Gegenschlags mit ‚Patriot‘ o.ä.?
    Wie intelligent ist Europa, und wie vertrauenswuerdig ist die Nato?

  4. Minister Pistorius vergleicht Putin mit Hitler

    Das Handelsblatt (handelsblatt.com,11.4.24) meldet, dass Pistorius anlässlich einer Buchvorstellung über Churchill Folgendes gesagt hat:

    „Putin wird nicht aufhören, wenn der Krieg gegen die Ukraine vorbei ist, das hat er klar gesagt. Genau so klar wie Hitler, der auch immer sagte, dass er nicht stoppen würde.“

    Wohlgemerkt, der Minister hat nicht etwa gesagt, dass man Putins Worten nicht trauen könne, sondern er behauptet unverfroren, dass Putin den weiteren Vormarsch nach Westen selber angekündigt habe. Das Gegenteil stimmt: Putin weist diese Behauptung seit Wochen zurück. Minister Pistorius kann denn auch keinerlei Belege anführen; er scheint darauf zu vertrauen, dass die stetige Wiederholung der Behauptung durch Politiker und Medien bei den Bürgern schon ihre Wirkung erzielt hat.

    Dass er auch bezüglich geschichtlicher Fakten eher nach Gefühl und Wellenschlag vorgeht und im Geschichtsunterricht nicht immer aufgepasst hat, zeigt seine Aussage über Hitlers Vorgehen. Hitler sagte keineswegs „immer“, dass er nicht stoppen würde. So behauptete er im Zusammenhang mit dem Münchner Abkommen, dass er mit dem „Erwerb“ des tschechischen Sudetenlandes seine letzte territoriale Forderung durchgesetzt haben würde, so dass dann dem Frieden nichts mehr im Wege stehe. Im Folgejahr begann er mit dem Angriff auf Polen den Zweiten Weltkrieg.

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