Offener Brief gegen Populismus in der Migrationsdebatte

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Bild von Marc Manhart auf Pixabay

Von Seebrücke Braunschweig

Vor einer Woche hatte die Seebrücke Braunschweig einen offenen Brief an den Oberbürgermeister und die Fraktionen im Rat der Stadt geschickt. In der Begründung dafür heißt es unter anderem: „Wir sind nämlich überzeugt, dass der aktuell von fast allen politischen Kräften verfolgte Antimigrations-Diskurs in weiten Teilen auf unhaltbaren Argumenten beruht. Die vielfach verwendeten populistischen verbalen Zuspitzungen sind dazu geeignet, die Gesellschaft zu spalten und die extreme Rechte weiter zu stärken. Wir wollen in unserer Stadt eine transparente und offene, aber sachliche und fachlich korrekte Diskussion darüber führen, ob wir als Bürgerinnen und Bürger in einer auf gewaltsamer Abschottung beruhenden Festung Europa und in Gemeinden voller Ressentiments und Diskriminierungen leben wollen. Oder ob wir uns eine solidarische und weltoffene Gesellschaft wünschen, in der alle Menschen die Möglichkeit erhalten, ihren Teil beizutragen und zu erhalten.“

Wir dokumentieren nachfolgend den offenen Brief, um die Diskussion dieses Themas ein kleines Stück weiter in die Öffentlichkeit zu tragen. (Red)

Offener Brief

Offener Brief mit der Aufforderung zu einer klaren, solidarischen und anti-populistischen Positionierung zur Migration durch die Stadt Braunschweig als Sicherem Hafen

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Dr. Thorsten Kornblum, Sehr geehrte Mitglieder des Rates der Stadt!

Unser Land erlebt aktuell einen rasanten politischen Rechtsruck. Wir, die Seebrücke Braunschweig und viele andere zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich für eine solidarische, emanzipatorische, weltoffene Gesellschaft einsetzen, beobachten das mit extremer Besorgnis. Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen auf der Flucht sehen sich mit einer kaum mehr einzudämmenden Flut populistischer Anfeindungen konfrontiert. Wir alle, auch die Stadt Braunschweig, stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Überall auf der Welt zwingen die Probleme unserer Zeit Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Diese Menschen als das eigentliche Problem hinzustellen, führt nicht zur Lösung der eigentlichen Probleme. Es führt vielmehr zu Stigmatisierung und Rassismus.

Braunschweig hat sich im Dezember 2018 zum Sicheren Hafen erklärt. Es erklärt damit seine „Bereitschaft, aus Seenot gerettete und/oder in überfüllten Aufnahmelagern gestrandete Schutzsuchende zusätzlich zur Verteilungsquote aufzunehmen.“ Damit einher geht auch die Verpflichtung, sich für eine solidarische und menschliche Migrationspolitik einzusetzen. Das beginnt mit einer objektiven und sachlichen Kommunikation.

Leider geht diese in den letzten Monaten zunehmend verloren, wenn etwa von einer „drohenden Überforderung“ geredet wird. Diese Formulierung findet sich auch in der „Braunschweiger Erklärung zur Flüchtlings- und Migrationspolitik“ der SPD ‚Bezirk Braunschweig‘. Als sicherer Hafen hat Braunschweig aber eine Verpflichtung, dem sich lawinenartig verbreitenden populistischen Narrativ von der „Überforderung“ durch Schutzsuchende entgegenzustellen!

Es ist unsere Wahl, ob wir die Migration primär als Bedrohung oder als Chance begreifen – als Chance für die Menschlichkeit, aber auch für eine weitere dynamische Entwicklung unserer Städte und Gemeinden. Das geht und wird von den Bürgerinnen und Bürgern mitgetragen, wenn nicht populistisch Ängste geschürt, sondern sachlich korrekte Einordnungen vorgenommen werden. Das zeigen die Beispiele von Gemeinden wie Riace in Italien oder Rüsselsheim am Main.

Der Bürgermeister von Riace, Domenico Lucane, begriff die Zuwanderung als Chance, dem starken Bevölkerungsverlust seiner 1000-Seelen Gemeinde entgegenzuwirken. Es funktionierte: 2014 hatten 800 geflüchtete Menschen in dem Ort Wohnung und Arbeit gefunden. Dadurch entstanden auch für die einheimische Bevölkerung neue Jobs. Rüsselsheim am Main hat sich auf die ankommenden Menschen auf der Flucht mit Investitionen in neue Unterkünfte, Weiterbildungen der Verwaltung, Infrastruktur und Daseinsvorsorge eingestellt. Die kommen allen Bürger*innen zugute. Bürgermeister Dennis Rieser stellt fest, dass behauptete Überlastung vor allem auf ein Politikversagen und mangelnde vorausschauende Vorbereitung verweist.

In diesen Beispielen haben politisch Verantwortliche entschieden, Migration als Faktum unserer Zeit anzuerkennen. Sie zeigen, wie mit solider Politik konstruktiv damit umgegangen werden kann. Auch in Braunschweig kann der Zuzug als Chance gesehen werden. Seit 2012 ist die Bevölkerungsentwicklung hier in vielen Jahren gerade noch stabil geblieben. Die Entwicklung der Zahl der Geflüchteten kann kaum als krisenhaft beschrieben werden. Fakt ist, dass die Zahl der Asylanträge deutschlandweit aktuell nur bei einem Bruchteil derer liegt, die 2016 gestellt wurden.

Im Januar 2023 gab es in Braunschweig insgesamt 1.100 Plätze zur Unterbringung von Geflüchteten. Die Belegungsquote in den Wohnstandorten lag 2023 relativ konstant bei 75 Prozent. Überquoten hatte es 2022 in der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine gegeben. Diese Zuweisungen sind seit November 2022 stark rückläufig. Das relativ hohe Verteilungskontingent Niedersachsens aus dem Jahr 2022 wurde landesweit nicht erreicht. Die Unterbringungen in Sporthallen für ukrainische Geflüchtete konnten in Braunschweig deutlich
schneller geschlossen werden als ursprünglich geplant.

Unter zwei Prozent der Menschen mit Flüchtlingsstatus waren in Niedersachsen im September 2023 akut ausreisepflichtig. Die anderen Menschen müssen mittel- und langfristig untergebracht werden. In Braunschweig beläuft sich der Wohnraumbedarf für anerkannte Flüchtlinge bzw. Asylbewerber*innen, die Anspruch auf eine reguläre Wohnraumversorgung haben, laut Wohnraumversorgungskonzept 2023 auf rund 129 Haushalte bis 2035. Insgesamt wird im Wohnraumversorgungskonzept der Stadt demgegenüber von einem zusätzlichen Bedarf an mindestens 1500 neuen Wohnungen im öffentlich geförderten Segment ausgegangen.

Weder mit Blick auf die kurz- und mittelfristige Unterbringung der Geflüchteten noch mit Blick auf die planbare, längerfristige Entwicklung deutet etwas darauf hin, dass die Migration zu krisenhaften Entwicklungen auf kommunaler Ebene führt. Es gibt keinen Anlass, von einer drohenden Überforderung zu reden. Eine solche Rhetorik hilft nicht bei den anstehenden Aufgaben; vielmehr erschwert sie ihre Lösung, weil sie in der Bevölkerung unnötige Ängste und Ressentiments schürt. Die Zuwanderung kann gerade in einer wirtschaftlich vielfältigen Stadt wie Braunschweig eine Chance darstellen. Migration wird aber nur zur Chance, wenn wir uns dazu entscheiden, sie als solche zu sehen.

Braunschweig kommt zudem als Sicherer Hafen eine besondere Verantwortung zu. Es sollte nicht nur

– die Investitionen in Infrastruktur und Köpfe tätigen, die nötig sind, um die Potentiale der zugewanderten Menschen zu mobilisieren.
– Es sollte sich auch allgemein für die Anerkennung der Realität zunehmender Fluchtbewegungen einsetzen.
– Es sollte die Überforderungsrhetorik offen kritisieren und als das bezeichnen, was sie ist: billiger Populismus auf Kosten von Schutzsuchenden.
– Und es sollte durch sein eigenes Beispiel dabei helfen, ein anderes, menschenfreundlicheres und der Zukunft zugewandtes Migrationsnarrativ zu entwickeln.

Dann kann es zusammen mit anderen Städten und politischen Ebenen konstruktiv an der Bewältigung der anstehenden Herausforderungen zum Wohle aller arbeiten.

Wir erwarten von der Stadt Braunschweig, dass sie klar Stellung bezieht und öffentlich bezeugt, dass die Aufnahme Geflüchteter sie nicht überfordert und nicht zu den großen Treibern der Probleme etwa am Wohnungsmarkt oder auch in den Schulen gehört. Wir fordern die Stadt damit auf, sich zu der noch kleinen Gruppe solidarischer europäischer Kommunen zu gesellen. Diese Kommunen sagen laut und deutlich, dass sie die mit der Migration verbundenen Herausforderungen bewältigen können, ohne dabei ihren Glauben an Solidarität und Menschlichkeit preiszugeben. Braunschweig muss nicht den billigen populistischen Parolen folgen, die jetzt landauf, landab in den Räten und Parlamenten zu hören sind. Braunschweig kann eine andere Sprache sprechen! Braunschweig kann seinen Bürger*innen mit klaren Worten und Taten beweisen, dass sie und ihre Stadt an der Aufnahme Schutzsuchender wachsen können. Die Stadt kann dann mit überzeugenden Argumenten und mit Unterstützung der Bevölkerung die ihr zustehende Hilfe von anderen politischen Ebenen einfordern. Wir stehen ein für dieses starke und solidarische Braunschweig. Und wir hoffen auf die Unterstützung des Rates, der Verwaltung und des Oberbürgermeisters.

Mit erwartungsvollen Grüßen
Die Seebrücke Braunschweig

1 Kommentar

  1. Damit man sich ein Bild von beiden Seiten machen kann, hier der Antrag der Braunschweiger CDU für die nächste Ratssitzung, der Anlass für den offenen Brief war:
    ***
    Beschlussvorschlag:
    Der Ratsbeschluss vom 18. Dezember 2018 zur Deklaration Braunschweigs als „Sicherer Hafen“ (DS.-Nr. 18-09767) mit allen daraus resultierenden Auswirkungen (bspw. Beitritt zur Internationalen Allianz der „Sicheren Häfen“, Länderkoordination des Bündnisses für Niedersachsen und Erklärung zur Aufnahme von weiteren Flüchtlingen) wird aufgehoben, ebenso die in der Sitzung des Rates der Stadt Braunschweig vom 14. Februar dieses Jahres (DS.-Nr. 22-20258) beschlossene Patenschaft sowie finanzielle Unterstützung eines Schiffes im Mittelmeer.

    Sachverhalt:
    Die im Beschlussvorschlag genannten Anträge wurden in der Vergangenheit von der CDU-Ratsfraktion allesamt abgelehnt. Wir waren und wir sind der festen Überzeugung, dass es nicht Aufgabe einer Kommune ist, über die Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Deutschlands eigenständig zu entscheiden und sich einer privaten Initiative anzuschließen. Hierdurch werden Fehlanreize gesetzt, die weder den Flüchtlingen noch den Einwohnern helfen.

    Die Unterstützung von privaten Schiffen im Mittelmeer mittels Steuergeldern steht aus unserer Sicht zudem weder im Einklang mit dem Selbstverwaltungsrecht der Kommune, noch obliegt diese Aufgabe der Kommune im Rahmen des übertragenen Wirkungskreises. Seenotrettung ist eine hoheitliche Aufgabe des Bundes, zu der dieser völkerrechtlich verpflichtet ist. Innerhalb des Staatenverbundes der Europäischen Union existieren mehrere Operationen der EU-Agentur Frontex. Ebenso leisten die Mittelmeeranrainer mit ihrer Küstenwache und Marine aktiv Seenotrettung – und das jeden Tag.

    Viele Kommunen geraten bei der Flüchtlingsunterbringung und vor allem bei dem Versuch einer späteren Integration an ihre Leistungsgrenzen. Bürgermeister und Landräte appellieren parteiübergreifend seit Langem an die Bundesregierung, endlich zu handeln und die irreguläre Migration spürbar zu begrenzen.

    Auch in Braunschweig zeigen sich die Auswirkungen der viel zu langen Untätigkeit in der Ordnung und Steuerung der Migration. Gleichzeitig zeigt Braunschweig viel Herz bei der Integration und Unterbringung der Menschen.

    Selbst wenn die Erweiterungspläne der Verwaltung für die dezentralen Wohnstandorte in der Gartenstadt, in Lamme und in Melverode sowie der Bau von Leichtbauhallen auf dem Messegelände zunächst ad acta gelegt sind. Die Übererfüllung der Braunschweiger Zuweisungsquote liegt zu aller erst an einer Verfahrensänderung der Landesaufnahmebehörde (LAB) und sorgt gleichermaßen für deren deutliche Überbelegung.

    Viele Bewohner Kralenriedes fühlen sich bereits in den Sommer des Jahres 2015 zurückversetzt, als in der LAB anstatt der zur Verfügung stehenden 750 Plätze mehr als 5.300 Menschen untergebracht waren. Auch die dramatische Überbelegung der LAB belastet die Situation in Braunschweig. Und dass deren Auslastung eine zusätzliche Belastung für unsere Stadt darstellt, hat das Land Niedersachsen dadurch anerkannt, dass die Kapazitäten am Standort an der Boeselagerstraße auf die Zuweisungsquote angerechnet werden.

    Innerhalb der Bundespolitik gibt es seit einigen Wochen eine wahrnehmbare Wende in der Migrationspolitik, die einerseits auf die konsequente und dauerhafte Oppositionsarbeit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und andererseits auf das Erstarken der Rechtspopulisten bei den zurückliegenden Wahlen in Bayern und Hessen zurückzuführen ist.

    So wurde erst am 8. November dieses Jahres Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) in der Braunschweiger Zeitung dahingehend zitiert, dass die Grenze der Belastung erreicht sei und es mehr Steuerung bei der Migration geben müsse. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz wurde im Vorfeld der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang November in der Tagesschau folgendermaßen zitiert, dass Deutschland mehr und schneller abschieben müsse. Darüber hinaus muss seiner Ansicht nach die irreguläre Migration nach Deutschland begrenzt werden, denn – so die Worte von Olaf Scholz – es kommen zu viele. Zugleich mache uns eine Begrenzung der Zuwanderung nicht zu Unmenschen, wie er unterstrich. Ebendiesen Flüchtlingsgipfel mit ersten Ergebnissen vor allem in Bezug auf die Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen bezeichnete Olaf Scholz als „historischen Moment“.

    Bereits 2015 hatte unser damaliger Bundespräsident Joachim Gauck in einem Interview mit dem Deutschlandfunk treffend festgestellt: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Diese Aussage macht sich auch die CDU-Ratsfraktion seit 2015 zu eigen und will für Braunschweig eine Neupositionierung in der Migration. Für uns steht fest: Wenn wir auch in Zukunft Menschen, die vor Krieg und politischer Verfolgung fliehen, Schutz bieten wollen, müssen wir jegliche Anreize für Flüchtlinge nach Deutschland zu kommen, drastisch reduzieren.

    Das Aufkündigen der Deklaration Braunschweigs als „Sicherer Hafen“ trägt dazu bei, irreguläre Migration zu begrenzen und Anreize für den oft tödlichen Weg über das Mittelmeer abzubauen.

    Mit der deutlichen Abkehr von einer Politik der offenen Tür, steht die CDU-Ratsfraktion fest an der Seite von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Dieser hat sich Anfang Oktober beim informellen Europagipfel in Granada davon distanziert, die Seenotrettung von Flüchtlingen durch Hilfsorganisationen im Mittelmeer öffentlich zu finanzieren.

    Die private Seenotrettung setzt auf das Recht des Stärkeren und lässt eine Unterstützung schwächerer Hilfsbedürftiger wie Frauen, Kinder und Älterer nicht zu. Sie fördert zudem ein aktives Schlepperwesen und ist damit Teil der Organisierten Kriminalität.

    Deshalb bedarf es Humanität und mehr Ordnung in der Migration – mit der Aufhebung der Beschlüsse zum „Sicheren Hafen“ kann Braunschweig seinen Anteil dazu leisten.
    ***
    Ergänzend dazu findet man auch eine andere Perspektive in diesem Interview mit dem Bürgermeister von Rüsselsheim:
    http://www.fr.de/politik/gefluechtete-und-kommunen-ein-buergermeister-erklaert-wie-es-geht-92562877.html

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