Bernadette Gottschalk und ihr Mann Joachim vor dem Landgericht in Detmold. Foto: Uwe Meier
Eine Betroffene, Bernadette Gottschalk, die ihre Familie in Auschwitz verloren hat und aus Ungarn stammt, hat der Lippischen Landeszeitung einen offenen Brief geschrieben und diesen dem Braunschweig-Spiegel.de zur Verfügung gestellt. In dem Brief nimmt sie Stellung zu den Verhandlungen gegen den KZ-Bewacher, Herrn Reinhold Hanning, in Detmold und der Verhandlung in Lüneburg 2015 gegen SS- Lagerbuchhalter, Herrn Gröning. Der Brief wird im Folgenden veröffentlicht:
1.
Die Verhandlungsführung gegenüber dem Angeklagten Hanning war korrekt, fair und verständnisvoll. Die Verhandlungsführung gegenüber den Nebenklägern war darüber hinaus von großer Einfühlsamkeit und Empathie geprägt. Die heutige Justiz Deutschlands kann auf die Durchführung des Auschwitz-Prozess von Detmold wie auch auf die des Auschwitz-Prozess von Lüneburg berechtigt stolz sein. Eine jahrzehntelange Lethargie mit Unterlassungen von Anklageerhebungen gegen nationalsozialistische Verbrechenstäter ist beendet worden.
2.
Was hat der Prozess bei mir ganz persönlich, individuell bewirkt und verändert?
2.1.
Die Zeugenaussagen haben mir geholfen eine emotionale Verbindungsspur zu meinen Großeltern herzustellen, zu vertiefen und zu festigen. Deshalb bin ich den Zeugen für ihre Aussagen sehr dankbar.
2.2.
Durch den Gutachter, Stefan Hördler, und dessen Veröffentlichung des Höcker-Albums – Auschwitz durch die Linse der SS – habe ich definitiv erfahren, dass der am 20.08.1965 vom LG Frankfurt freigesprochene SS-Zahnarzt, Willi Schatz, dem ich Anfang der 70’er Jahre auf der Straße und beim Bäcker in Hannover zwangsläufig begegnete, er wohnte in meinem Wohnumfeld, ein Täter, ein Mörder war. Er gehörte zu den Selektierern auf der Rampe – womöglich hat er auch meine Großeltern selektiert. Zu seiner Tätigkeit hat der BGH in seiner Revisionsentscheidung noch im Jahre 1968 ausgeführt:
„Der Angeklagte [hat] zwar gelegentlich die „Zahngoldschmelze“ im Krematorium aufgesucht, ihre Arbeit überwacht und Zahngold abgeholt. Daß er mit diesen Handlungen […] den Vernichtungswillen der verbrecherischen SS-Führung bewusst gefördert hat, ist […] auszuschließen“.
3.
Das gesamtgesellschaftliche reale und geistige Zusammenhangsgefüge NS-Deutschlands vom 30.Januar 1933 bis zum 08. Mai 1945, insbesondere der Zusammenhang von Krieg und gewollter Gruppenermordung in und außerhalb von Vernichtungs-/Konzentrationslagern, wird bis heute nicht genügend erfasst. Verdeutlicht wird dieses durch zahlreiche Militärdenkmale denen keine deutliche aufklärende Kommentierung zur Seite gestellt wird.
3.1.
Beispiel:
Die Hansestadt Lüneburg hat während des Auschwitz-Prozesses 2015 den Überlebenden der Shoah, den Nebenklägern zugemutet, den Prozessverhandlungsort, die Ritterakademie am Graalswall im Angesicht eines 50 Meter entfernten Wehrmachtsdenkmals von 1960 betreten zu lassen. Es trägt die Aufschrift: „Es sage keiner, dass unsere Gefallenen tot sind“. Den Geist einer derartigen Aussage hatte Josef Goebbels schon in seiner längeren Kolumne „Die Vollendeten“ vom 27.Dezember 1942 in derWochenzeitung „Das Reich“ näher dargelegt:
2
„[…]
Wir können uns heute gar nicht vorstellen, welche Gewalt die Toten über die Lebenden besitzen, wenn wir sie nur zu Wort kommen lassen. Das Heer der Gefallenen hat die Waffen nicht niedergelegt. Es marschiert in Wirklichkeit in den Reihen der kämpfenden Soldaten mit. Es steht als Mahnung und nationales Gewissen über der ganzen Nation, und in seinem ewigen Schweigen wird eine fordernde Sprache vernehmbar, die gar nicht überhört werden kann.
[…]
So gehen unsere Gefallenen für alle Zeit in den Mythos ihres Volkes ein; sie sind dann nicht mehr das, was sie unter uns waren, sondern nur noch die ewigen Sinnbilder unserer Zeit.“
3.2. Frau Alexandra Senfft schreibt zu diesem Wehrmachtsdenkmal in ihrer kürzlich erschienenen Publikation „Der lange Schatten der Täter“: Das Monument, um das es geht, ist eine Art Grabstein und gedenkt der 10.500 Mann, die 1944 in der Kesselschlacht bei Minsk gefallen sind: »Es sage keiner, dass unsere Gefallenen tot sind« ist darauf gemeißelt. Kein Wort darüber, dass diese Division an der Verschleppung von 50.000 Zivilisten beteiligt war, wie etwa der Film » Ozarichi 1944 – Spuren eines Kriegsverbrechens« von Christoph Rass (2006) darstellt. Wohl aus diesem Grund hat jemand das Wort »Mörder« auf den Stein gesprayt. Ich gehe zurück zur Tafel an der Straße: auch hier gibt es keinerlei Hinweis auf das Erbe dieser Soldaten, derer hier so unkommentiert und glorifizierend gedacht wird: » Das Kriegstrauma lässt die Toten nicht ruhen« steht da sogar geschrieben. Natürlich waren auch Soldaten und viele Deutsche durch den Krieg traumatisiert – doch warum wird hier nicht auch jener gedacht, die die Opfer des NS -Vernichtungskrieges waren? Später erfahre ich, dass Bernadette Gottschalk und ihr Mann Joachim seit geraumer Zeit gegen diese einseitige Darstellung der Geschichte kämpfen und Strafanzeige wegen Beleidigung der Ermordeten des Naziregimes erstattet haben – und im Herbst 2015 schließlich auch einen bescheidenen Erfolg verzeichnen konnten. Die Tafel wurde inzwischen ausgetauscht, der Text ebenfalls, nur den Hinweis auf die Opferrolle der deutschen Soldaten konnten sich die Stifter abermals nicht verkneifen.
Dem Vorschlag, dieses Wehrmachtsdenkmal zu verhüllen, ist die Hansestadt Lüneburg nicht nachgekommen.
3.3.
Die Wehrmacht ermöglichte einen unbändigen Angriffs- und Eroberungskrieg. In ihren Herrschaftsbereichen erfolgte millionenfacher Mord, und sie mordete auch selbst – im geographischen Bereich vom Nordkap bis Nordafrika, von den Pyrenäen bis zum Kaukasus – Regionen fern der Heimat – hierbei ein jeder Soldat in der Verpflichtung des Eides vom 2. August 1934 stehend, dem Führer, Adolf Hitler, unbedingten Gehorsam zu leisten.
Thomas Mann hat Anfang 1946 zu diesem Krieg in seiner Radiosendung für die amerikanischen Truppen in Deutschland benannt: Krieg lag von Anfang an im Wesen des Nazismus, und nie konnte das praktische Ergebnis seiner Lehren und seiner größenwahnsinnigen Ansprüche ein anderes sein als eben der Krieg. Das deutsche Volk hat Hitler geeinigt durch einen Terror, wie ihn das europäische Leben noch nie gesehen hatte, durch die rechtlose, gewalttätige Unterdrückung jeder freien Meinung und durch die Folterung und Ermordung eines jeden, der seinen katastrophalen Zielen entgegen war. Er hat die Deutschen geeinigt durch Konzentrationslager*.
Unterschrift
Gottschalk