Lernort Bauausschuss – ein aktueller Erfahrungsbericht

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Bild von stokpic auf Pixabay

von Edgar Vögel

Demokratie und Wahrheit:

Es ist Freitag, 08.09.23, 18:35 Uhr, Sitzung des Ausschusses für Planung und Hochbau in Braunschweig, 3:35 Stunden nach Sitzungsbeginn, Tagesordnungspunkt 13 von 25. Der Antragsteller von außerhalb des Ausschusses erhält das Wort für fünf Minuten. Es ist der stellvertretende Bezirksbürgermeister, Bezirksrat Südwest (222), Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen. Er begründet den Antrag im Namen seines Gremiums. Nach gut fünf Minuten ist seine Zeit um, mitten im Vortrag. Der Stadtbaurat L. erwidert und begründet seine Ablehnung. Es gibt keine Wortmeldungen. Der Antrag wird mit allen Stimmen abgelehnt. Nichts Ungewöhnliches also? Aber sehen wir doch einmal genauer hin. 

Was wollen die hier?

Der Bezirksrat hatte im Verlauf von 15 Monaten dreimal beschlossen, der Flächennutzungsplan in seinem Bereich möge geändert werden. Statt die Flächen im Südwesten an der Stadtgrenze zu Salzgitter mit einem riesigen interkommunalen Industrie- und Gewerbegebiet zu versiegeln, solle künftig die Landwirtschaft Vorrang haben, die dort schon immer stattfindet. Dreimal, weil der Bezirksrat sich unter Berufung auf die Niedersächsische Kommunalverfassung direkt an den Rat wenden wollte (der dafür letztendlich zuständig ist). Die Verwaltung wies ihn zweimal aus formalen Gründen ab, bis sie endlich einlenkte. Der Bezirksrat wollte das Damoklesschwert entfernt sehen, das seit dem ersten Scheitern der Gewerbegebietspläne 2018 (damals am Widerstand des überschuldeten Juniorpartners Salzgitter) über dem Bezirk schwebt. Darüber bestand zwischen SPD, Grünen und BIBS Einvernehmen im Bezirksrat.

Ja die Partei, die Partei, …

Dreimal stimmte Herr Mehmeti, SPD-Ratsherr, Bauausschuss-Mitglied und zugleich für seine Partei im Bezirksrat, dort dafür und war sogar an der Formulierung des Antrags beteiligt. Die Argumente hatten ihn offenkundig überzeugt. Jetzt, am Freitag im Bauausschuss, stimmte er ohne Begründung dagegen. Überzeugt wovon? In der Bibel wird bereits ein einschlägiger Fall beschrieben; allerdings von erheblich größerer Tragweite. Dort eine Tragödie – jetzt eher eine Komödie. Und anders als hier tragisch, und dazu noch doppelt tödlich endend: für Judas und Jesus. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass auch die beiden Grünen im Ausschuss ihrem Partei“freund“ aus dem Bezirksrat die Nase zeigten.

Jetzt wird es aber erst richtig bitter

In der Begründung des Bezirksrats spielen wissenschaftliche Erkenntnisse eine zentrale Rolle. Das Areal des geplanten Gebiets ist eines der wichtigsten Kaltluft-Entstehungsgebiete in Braunschweig. Über Kaltluftleitbahnen gelangt frische und kühlende Luft in der Hauptwindrichtung in die Stadt und bremst deren Aufheizung. Das haben Forschende der TU Braunschweig vom Institut für Geoökologie bereits 2019 wissenschaftlich nachgewiesen und publiziert. Wer das betreffende Gebiet bebaut, ruiniert das Stadtklima. Hier ganz vorne mit dabei: der Stadtbaurat. In der Erwiderung auf den Bezirksratsantrag: keine einzige Silbe zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Stattdessen: Ignoranz und Wissenschaftsfeindlichkeit, made in Braunschweig. Es ist allerhöchste Zeit, diese Realitätsverweigerung zu beenden! Und direkt dahinter: die Ausschussmitglieder. Ihnen waren durch eine Presseerklärung der BIBS am Tag vor der Ausschusssitzung die Zusammenhänge nochmals vor Augen geführt worden. Auch sie hätten es also besser wissen können! Aber nein: Für Steuermehreinnahmen, Arbeitsplätze und Wachstum haben wir Gewerbegebiete. Die müssen wir auch vorbeugend schon bevorraten, „das dürfen wir nicht aus der Hand geben“, so Herr L. Auf eines hinzuweisen vergaß er jedoch: Für das Klima gibt es das „Integrierte Klimaschutzkonzept 2.0“ (IKSK 2.0), das uns die Klimaneutralität bis 2030 bringen soll. Gibt es da etwa einen Widerspruch?! Nicht doch.

Es ist wahr, aber sonst ist alles Lüge (nach Rio Reiser)

Zentrale Argumentationsfigur zur Rechtfertigung ist die Einzigartigkeit des potenziellen Gewerbegebiets: es wäre „trimodal“ angebunden. Da es nicht gelingen wollte, einen zündenden Namen für das Gebiet zu finden, wurde von den Protagonisten als Narrativ die einzigartige trimodale Anbindung als Alleinstellungsmerkmal kreiert und propagiert – bis heute. Wahr ist: im Osten ist eine Bahnlinie, im Süden die Autobahn und im Westen der Stichkanal. Aber sonst …. Eine Bahnanbindung des Gebietes konnte nach der Machbarkeitsstudie frühestens nach dem 2. Bauabschnitt, also ca. 20 Jahren nach Baubeginn(!), erfolgen. Es gibt einen Kanal, aber keinen Hafen am Gebiet und auch keinen Platz dafür. Der Hafen in Beddingen, 5 km entfernt, ist in Privatbesitz, nur für Massengut (Erz, Kohle, etc), aber nicht für Container und nur für Tagbetrieb. Für Bahn- und Kanalanbindung sind in der Kostenkalkulation in der Machbarkeitsstudie 0,00 € veranschlagt. Noch Fragen zur Anbindung? Aber dann wenigstens das dritte Bein, die Autobahn? Na ja, für prognostizierte täglich 4.000 LKWs und 14.000 PKWs müsste eine zweite Autobahnausfahrt gebaut werden, zu der das Land 50 Millionen € beisteuern müsste (Stand 2018). Ob solche Verkehrsströme überhaupt noch klimapolitisch in die Zeit passen würden, weiß wohl auch nur Herr L. und sein Chef, der OB. Der warb im OB-Wahlkampf vehement dafür, die im ersten Anlauf gescheiterten Pläne erneut aufzunehmen:

 „Weil es eigentlich ein ideales Gewerbegebiet ist. Es ist trimodal, so heißt es, angebunden – bedeutet, wir haben das Auto, wir haben die Schiene und wir haben die Wasserverbindung der Wasserwege. Das ist natürlich etwas, gerade die Schiene, was natürlich für nachhaltige, CO2-arme Gewerbegebiete ‘ne wichtige (gute) Lösung ist.“ (OB-Kandidat Kornblum im Live-Interview mit TV38 am 19.02.2022)

In der Erwiderung von Hern L. auf die Argumente des Bezirksratsvertreters spielte diese Fiktion erneut eine zentrale Rolle. Freundlich ausgedrückt sind das Potemkinsche Dörfer. Haben wir in Braunschweig nicht Besseres verdient?

„Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt so ist, wie sie ist. Es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt“ (Die Ärzte, Song: „Deine Schuld“) 

2 Kommentare

  1. man sollte übrigens auch mal über den Tellerrand der Stadtgrenze schauen und darauf verweisen, dass die Stadt Salzgitter bei Thiede ein riesiges Neubaugebiet plant.
    Das Ganze befindet sich hier auf der Fläche als Schäferberg bezeichnet, nördlich der Danziger Straße bis zur A39: https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.25510&mlon=10.49908#map=16/52.1970/10.4668

    Also wenn ich bedenke, dass man da noch so schön vom Berg beim Steterburger Gemeindehaus in die Landschaft gucken kann und bald alles zubetoniert ist, frage ich mich schon was für NIMBY-Leute sich immer über die „Verspargelung der Landschaft“ durch Windkraftanlagen und Freileitungen in ihrem Sichtfeld vorm Haus beim Neubaugebiet aufregen. Alternativ gibts ja noch als Argument Infraschall oder Elektrosmog aus Hochspannungsleitungen, letzerer tritt ja bei teuer vergrabenen Erdkabeln und der Hauselektronik wie W-Lan und Handys anscheinend nicht so auf. Aus den Augen, aus dem Sinn, Südlink lässt Grüßen, zahlen tun das Einbuddeln leider alle Stromkunden, nicht nur die demonstrierenden NIMBY-Anwohner, die dafür verantwortlich sind.

    Und zwischen Geitelde und Rünigen steht auch eine Flächenversiegelung an, die Autobahnanschlusstelle Rüningen Süd ist bereits vorbereitet:
    https://www.openstreetmap.org/?mlat=52.25510&mlon=10.49908#map=16/52.2114/10.4811

  2. Hallo „Klimastreik“,

    nette Idee, mit Hilfe von Openstreetmap Flächenversiegelungen vorhersehen zu wollen.
    Im Juni 2009, als die Anschlussstelle Rüningen-Süd fertiggestellt wurde, war ein Grund, Richtung WOB auf der A39 bleiben zu können, ohne zwischenzeitlich auf die A 391 wechseln zu müssen. Der zweite hat tatsächlich etwas mit Versiegelung zu tun. Über die Anschlussstelle Süd sollte das geplante Gewerbegebiet „Rüningen-West“ angebunden werden. Dazu schrieb die BZ schon 2004 unter Bezug auf die Verwaltungsvorlage:
    „Mit der vorgelegten Planung, so die Vorlage weiter, „wird in erheblichen Umfang in den Bestand des vorhandenen Landschaftsschutzgebietes eingegriffen; zirka 80 Hektar und damit bis zu 25 Prozent des Landschaftsschutzgebietes sollen überplant und damit dem Natur- und Landschaftsschutz entzogen werden“.
    Es sei davon auszugehen, „dass mit der Planung auch negative Auswirkungen auf den Kernbereich des Landschaftsschutzgebietes, das Geitelder Holz selbst, verbunden sind“. Der Wald erfüllt die Voraussetzungen eines Naturschutzgebietes. Die Obere Naturschutzbehörde muss zustimmen.“
    Trotz Kenntnis dieser Umstände hat die Verwaltung aber die Planungen dennoch unverdrossen und knallhart vorangetrieben. Wie wir sehen, sind – wenn es um neue Gewerbegebiete geht – Belange des Natur- und Landschaftsschutzes eben zweitrangig. In diesem Fall ist die Ausführung dann an den nötigen allzu drastischen Eingriffen und am Widerstand der Rüninger*innen gescheitert. Schnee von gestern? Mitnichten! Die gleiche Ignoranz legt die Verwaltung jetzt beim Klimaschutz an den Tag. Weiterhin haben neue Gewerbegebiete absoluten Vorrang vor a l l e m anderen – siehe Herrn L.s Auftritt im Bauausschuss Das gilt auch dann, wenn wie jetzt, dabei wissenschaftliche Erkenntnisse völlig ignoriert werden müssen.
    Klimaschutz ist auch Menschenschutz? Ach so.

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