Helmut Kramer schreibt zum 20. Juli 1944

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Zum 20 Juli, dem Tag des Attentats auf Adolf Hitler, sprach ich für den Braunschweig-Spiegel mit Herrn Helmut Kramer, dem ehemaligen Richter am OLG Braunschweig und Rechtshistoriker. Ich wollte wissen, wie er den 20. Juli sieht und ob er vielleicht auch eigene Erlebnisse hat. Ihm ist es hauptsächlich zu verdanken, dass der „Widerstand der kleinen Leute“ gegen das Hitlerregime, zwar nur langsam aber ständig, in das Bewusstsein der Bevölkerung eindringt. Die sog. politische Elite hat nach wie vor ihre Probleme mit dieser Form des Widerstands. Der B-S berichtete. (um)

Zeitzeugenbericht:

Lesen Sie hier wie Helmut Kramer die Zeit des 20. Juli 1944 und danach erlebt hat.

Als Jugendlicher, der schon in den Jahren vor 1945 mit erwachendem politischen Bewusstsein noch einiges von den nationalsozialistischen Verbrechen wahrgenommen hat, wusste ich zwar längst nicht alles. Ich kannte aber einiges. Ich wusste von den in einem Kalibergwerk in der Nähe von Helmstedt, bei Beendorf untertage schuftenden Zwangsarbeitern (die vier bis fünf Meter hohe Mauer, noch um weitere Meter erhöht durch Stacheldraht, hatte ich gesehen, als ich Anfang 1944 mit einem Schulfreund vom Rittergut der von Veltheim an der gegenüberliegenden Bushaltestelle wartete*). Schon vorher hatte ich Gesprächsfetzen im Helmstedter Luftschutzkeller über Lastwagen (mit darin zusammengepferchten Menschen) aufgeschnappt, in die die Motor-Abgase geleitet wurden.

*Aus dem von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Jahr 1997 herausgegebenen Buch von Hermann Kaienburg, „Das Konzentrationslager Neuengamme 1938 – 1945“ weiß ich heute, dass es sich um eine Nebenstelle des KZ Neuengamme handelte.

Auf dem Hof meines Vaters arbeitete als Zwangsarbeiterin eine junge Polin. Ich erinnere mich daran, wie ihr Bauch immer dicker wurde. Einige wenige Tage sah ich sie nicht. Wo aber war das Kind? Erst nach 1945 hörte ich von den „Entbindungsheimen“ und „Kinderheimen“, in denen die Säuglinge an den Folgen bewusst falscher Ernährung und mangelnder Pflege starben.

Das alles hatte sich bei mir so tief eingeprägt, dass ich als ich am Nachmittag des 21. Juli 1944 nach der Rückkehr mit meinem Vater von der Getreideernte im Radio von dem Attentat auf den „Führer“ hörte, tagelang an der Darstellung im Deutschlandsender gezweifelt hatte. Auch in den folgenden Nächten wartete ich vergeblich auf die erlösende Widerlegung der deutschen Propaganda durch „Radio London“ und andere „Feindsender“. Umso aufgebrachter war ich, als ich in der Braunschweiger Tageszeitung vom 09. August 1944 von dem ersten Schauprozess gegen die Attentäter des 20. Juli las („Das Volk richtet die Verräter“), mit den ekelhaften Schmähungen des Volksgerichtshofs-Präsidenten Freisler. Das Original der Zeitung habe ich bis heute in meinem Archiv aufbewahrt, als Dokument der Schande. Übrigens: So wie die AfD und andere Rechtsextremisten sich permanent auf das Volk berufen, sprechen sie die Sprache der Nazis.

Schon in meinem zweiten oder dritten Studiensemester (1953) habe ich gemeinsam mit einem Freund in der Freiburger Universität ein kleines Symposium organisiert. Dazu gewinnen konnte ich in persönlichen Gesprächen Professor Gerhard Ritter, der wegen seiner angeblichen Verbindung zu dem früheren Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler und zu Kreisen des konservativen militärischen Widerstandes selbst inhaftiert wurde, Zeitzeuge und Historiker in einer Person, sowie Constantin von Dietze (Mitglied des Freiburger Kreises der Bekennenden Kirche). Unbedarft, wie ich damals war, wusste ich noch nichts von der reaktionären Grundhaltung von Ritter.

Auf den „20. Juli 1944“ war ich jahrelang so fixiert, dass ich zum 10. Jahrestag 1954 von Freiburg nach Berlin gefahren bin. Da gab es noch keine öffentliche Gedenkveranstaltung. Trotzdem bin ich nach Berlin gefahren, und dann bald nach Ost-Berlin. In der blöden Hoffnung, dort einen „Zipfel des Mantels der Geschichte“ anfassen zu können, gleich in das Café „Warschauer“ in der Stalin-Allee (heute Karl-Marx-Allee). Dort, auf dem Balkon, hatte Otto John dem DDR-Rundfunk ein Interview gegeben. Otto John gehörte, ebenso wie sein Bruder Hans John (von Roland Freisler zum Tode verurteilt und am 23. April 1945 von einem SS-Kommando mit Genickschuss getötet), zu dem weiten Kreis des 20. Juli und war er dann über Portugal nach England geflohen. In der Bundesrepublik wurde er der erste Präsident des Verfassungsschutzamtes.

Am späten Abend des 20. Juli war er verschwunden und dann plötzlich in Ost-Berlin aufgetaucht. Nach seiner Behauptung: Sei er unter Einsatz von Drogen verschleppt worden. Wegen Landesverrats wurde John später vom Bundesgerichtshof zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt, mit einem sowohl in der Begründung wie im Strafmaß sehr hinterfragungsbedürftigen Urteil. An dem Urteil hatten mehrere ehemalige Wehrmachtsrichter und andere NS-Juristen mitgewirkt. Ungewöhnlich war auch, dass die Richter weit über das von dem Oberbundesanwalt Fritz Güde (der sich an einem kleinen Amtsgericht in der NS-Zeit durchaus ehrenhaft verhalten hat) geforderte Strafmaß hinausgingen.

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