08./10.05.06 Der Mörder ist immer der Architekt oder die Verschiebung von Wahrheit (Teil 9)

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…. fragt sich nur welcher Architekt? – Am 6. April brachte die Braunschweiger Zeitung einen Artikel, der an eine folgenreiche Weichenstellung für die Stadt erinnerte. Vor 60 Jahren, im Mai 1946, begann die geordnete Räumung der zum größten Teil zerstörten Braunschweiger Innenstadt vom Trümmerschutt des Bombenkriegs. Link
Damit begann auch der planvolle Wiederaufbau der Stadt. Schon ein Jahr zuvor, „im Sommer 1945“, habe der Architekt Friedrich Wilhelm Kraemer den Plan für „die Verwirklichung eines neuen Stadtgrundrisses …. der britischen Besatzungsmacht vorgelegt. …. Doch damit begann ein ‚Häusermord‘, der sich viele Jahre hinzog und schmerzliche Wunden ins Stadtbild riss.“

Kraemer wird – wenn nicht des Mordes – so doch der Anstiftung zum Mord beschuldigt, er habe das zerstörerische Komplott gegen das historische Braunschweig geschmiedet. Die Braunschweiger Zeitung spricht einfach vom „Kraemer Papier“, wenn es um die „für Braunschweig so bittere und folgenreiche Verkehrskonzept-Entscheidung“ geht. „Die rigoros geschlagenen Straßen-Schneisen und die seelenlosen 50er-Jahre-Bauten (erkauft mit dem Abriss unzähliger historisch wertvoller Hausfassaden) stechen ins Auge. …. Die Folgen sind verheerend und verschandeln unsere Stadt bis heute.“

Und gleich doppelt mache sich Kraemer schuldig: nicht nur, dass er die Pläne entwarf, nach denen der „Häusermord“ vollstreckt wurde, nein, als das todbringende Messer gezückt war und die Abrissbagger anrücken, gebietet er ihnen noch nicht einmal Einhalt: „Nur massive Bürgerproteste konnten verhindern, dass auch noch das Magniviertel vierspurig wegasphaltiert und der Gaußberg abgetragen wurden (für den geplanten Durchbruch zur Hamburger Straße). Von einem Veto des Architektur-Stars Kraemer, dessen Wort in Braunschweig enorm viel galt, ist nichts bekannt.“ Und wenn er sich schon einmal engagierte, etwa „in der so genannten Schloss-Kommission, die den Abbruch stoppen wollte“, dann „zu spät und – zu halbherzig.“

Wenn im Vorspann des Artikels „Rob und Léon Krier, zwei international renommierte Luxemburger Baukünstler“ zitiert werden: „Architekten haben in verheerendem Maße die Städte ruiniert“ und gleich hinzugefügt wird: „Braunschweig ist eine davon“, dann ist hier zweifellos das Wirken von Friedrich Wilhelm Kraemer gemeint. (*Anm.)

Viel Mut zeigt der in Anonymität sich versteckende Autor in der Braunschweiger Zeitung zwar nicht, wenn er Kraemer, den er einmal für die „seelenlosen 50er-Jahre-Bauten“ verantwortlich macht, dann doch bescheinigt: „Seine architektonischen Leistungen stehen wohl außer Zweifel“, und wenn er sich ein anderes Mal in verschrobenen Gedankengängen windet, wie: „Leichtfertige Kritik ist heute zwar allgegenwärtig, dennoch muss die Feststellung erlaubt sein: Kraemer hatte bei der Stadtplanung zwar eine Vision, aber es war – subjektiv gesehen – eine falsche.“
– Wenn die Vision – subjektiv gesehen – falsch war, stellt sich die Frage, ob sie dann – objektiv gesehen – richtig war?
– Muss tatsächlich – wenn leichtfertige Kritik sowieso schon allgegenwärtig ist – hier eine weitere (leichtfertige) Feststellung des anonymen Autors erlaubt sein, wie er in verquerer Logik folgert? – rühren wir nicht weiter an diesem Gedankenkomplex; schließlich hatte am 6. Mai auch Sigmund Freud einen runden Geburtstag, seinen 150sten. Herzliche Gratulation!

Wenn auch nicht mutig vorgebracht ist es schon ein starker Vorwurf an Kraemer, der „in ganz Deutschland mit seinen funktionalen und schnörkellosen Bauten …. enormen Zuspruch fand“. Aber hat dieser Vorwurf der Anstiftung zum massenhaften „Häusermord“ eine Grundlage? Ist er plausibel? Haben die Braunschweiger Zeitung und ihr Anonymus hier recht?

Das alte Braunschweig – Postkarte, abgestempelt am 12.05.1909

Kraemer oder Rosenberg?

Der anonyme Autor der Braunschweiger Zeitung stützt seinen schweren Vorwurf – soweit sichtbar – auf einen Aufsatz von Gudrun Fiedler, mit dem sie auf ca. 50 Seiten die politische, wirtschaftliche und kulturelle Geschichte des gesamten Großraumes um Braunschweig von der Wiederaufbauzeit nach 1945 bis zur Wiervereinigung 1989 aufarbeitet. Unschärfen im Detail lassen sich bei solcher Breite der Thematik kaum vermeiden.

Fiedler schreibt: „Grundlegend für die Wiederaufbauplanung der Braunschweiger Innenstadt war das von dem damaligen Oberbaurat und späteren Professor für Gebäudelehre und Entwerfen, Friedrich Wilhelm Kraemer (1907-1990), im Frühsommer 1945 erstellte Verkehrskonzept, an dem der Stadtplaner Franz Rosenberg gleichberechtigt beteiligt war.“
Dem prominenteren, nach dem Krieg bekannteren Architekten Kraemer widmet Frau Fiedler aber in dem Zusammenhang ein kleines Portrait und ordnet ihm das Verkehrskonzept (im Hauptsatz) zu, während Rosenberg daran (im angehängten Nebensatz) eben doch nur „beteiligt“ war.

Beim Anonymus in der Braunschweiger Zeitung kommt Rosenberg dann überhaupt nicht mehr vor, Kraemer wird als alleiniger Täter für das Verkehrskonzept verantwortlich gemacht.

Gudrun Fiedler stützt sich nun weiter auf eine Dissertation von Angelika Meyer, in der Kraemer und Rosenberg nahezu gleichwertig die urheberliche Verantwortung zugeschrieben wird: „Als Urheber der Verkehrsplanung sind Friedrich Wilhelm Kraemer …. sowie Franz Rosenberg …. anzusehen.“ Meyer schrieb der frühen Planung auch noch weniger vernichtende Ziele zu: Die „Wiederaufbauplanung für die Braunschweiger Innenstadt“ verfolgte das doppelte Ziel: „Der historische Stadtgrundriss sollte weitgehend erhalten bleiben, zugleich aber ‚modernisiert‘ werden, was vor allem bedeutete, sich den Anforderungen des modernen Straßenverkehrs anzupassen.“ Dagegen schreibt die Braunschweiger Zeitung dem folgeträchtigen „Krämer-Papier“ die revolutionäre „Verwirklichung eines neuen Stadtgrundrisses“ zu.

Angelika Meyer griff nun wiederum auf eine sehr umfassende Arbeit von Werner Durth und Niels Gutschow zurück, die eher in Franz Rosenberg das Subjekt der Planung sehen: „Im Herbst 1945 kommt es bereits zu exemplarischen Verkehrsplanungen, die den Kern historischer Städte zu Drehscheiben des Verkehrs machen, so etwa in Braunschweig, wo Franz Rosenberg, der seine Arbeit am 11. Juni 1945 im Stadtplanungsamt beginnt, anfangs mit dem kommissarischen Stadtbaurat Friedrich Wilhelm Kraemer und ab 26. Juli 1945 mit Stadtbaurat Johannes Göderitz …. einen Plan entwirft, der im Kern der Stadt ein ‚Tangentenviereck‘ von Hauptverkehrsstraßen bildet.“

Denn Rosenberg, vier Jahre jünger als Kraemer, war beileibe kein unbeschriebenes Blatt. Seit Juli 1938 war er enger Mitarbeiter von Herbert Rimpl (biographische Angaben von Carolin Schönemann), der während des Krieges für das Rüstungsministerium mit „Planungen für die Krupp Werke, Geheimaufträgen für die Planungen von Industrieanlagen in Frankreich und anderen besetzten Gebieten sowie Aufträge zur unterirdischen Verlagerung von Rüstungsindustrien“ tätig war. Als Prüfstelle für Großvorhaben war Rimpls Büro mit der „überwachung sämtlicher Bauvorhaben der Rüstungsindustrie über eine Million innerhalb des Großdeutschen Reiches und der angegliederten Gebiete“ betraut. Unter Rimpl war Franz Rosenberg (biographische Angaben von Durth und Gutschow) anfangs Abschnittsleiter bei einem Städtebauprojekt der „Reichswerke Herrmann Göring“ in Salzgitter Watenstedt, war mit Industrieanlagen im Sudetengau und in Frankreich befasst, arbeitete 1944 in einem Pariser Büro – der Stadt, der Präfekt Haussmann im 19. Jahrhundert mit zahlreichen großen und weiträumigen Straßendurchbrüchen ein neues metropoles Gepräge gab und zum Vorbild machte für den Stadtumbau aller Metropolen. Bevor Rosenberg dann nach Braunschweig kam, wo er bis 1949 blieb, war er seit dem Herbst 1944 mit Wiederaufbauplanungen des zerbombten Wuppertal befasst.

Und Kraemer? Schon wenige Monate nachdem er als Baurat angetreten war, trat er im Juli 1945 wieder ab. In der Zeit davor war er 1943 zum Wehrdienst eingezogen worden, wurde 1944 am Kopf verletzt und kam in ein Krankenhaus nahe Göttingen, wo er auch seine Dissertation über Theaterbauten und -planungen der Architekten Krahe und Ottmer beendete. In den fünfziger Jahren baute Kraemer die Gewandhausfassade wieder auf und trieb mit Kurt Seeleke auch das Konzept das Traditionsinseln voran.

Seine Interessen schienen zumindest um und nach 1945 in eine andere Richtung zu weisen. Ihm allein oder auch nur in der Hauptsache die Idee und die Urheberschaft für den „Häusermord“ von Braunschweig im Dienste der „autogerechten Stadt“ zuzuschreiben, ist wenig plausibel. Franz Rosenberg hatte weit mehr Erfahrung in der Planung und Durchsetzung von derartigen Großprojekten. 1949 wechselte er von Braunschweig in das Wiederaufbaureferat der Stadt Bremen.

Der „autogerechten Stadt“ blieb Rosenberg in Bremen verbunden, wie die zur Zeit laufende Ausstellung „Hochstraße – tieferlegen!“ einer Bremer Bürgerinitiative zeigt. Im Zentrum der Ausstellung steht ein reuiger Stadtplaner, Franz Rosenberg:

„Für die Hochstraße als Bauwerk war eine formal elegante Form gefunden worden, und die entlastende Funktion für den Bahnhofsvorplatz war evident. Trotzdem war ich entsetzt, als ich die Hochstraße zum ersten Mal befuhr, denn von einem Raumerlebnis konnte keine Rede sein, weder für die Autofahrer oben auf der Hochstraße, noch für die Verkehrsteilnehmer auf dem Straßenniveau des Breitenweges. Es war ein schmerzlicher Misserfolg, und es gab keine Entschuldigung, ich hatte mich vollkommen getäuscht, und das ich mich in guter und zahlreicher Gesellschaft befunden hatte, war kein Trost.“ Nicht ausgeschlossen, dass auch Erinnerungen an unmenschlichere Planungen den reuigen Rosenberg hier mit heimsuchen.

Das alte Braunschweig – Postkarte abgestempelt am 26.02.1910

alt

10.05.06
Friedrich Wilhelm Kraemer feiert heute seinen 99. Geburtstag. Der anonyme Autor zitiert in der Braunschweiger Zeitung Rob und Léon Krier als Zeugen und Richter herbei, um mit ihnen Kraemer der Urheberschaft des massenhaften „Häusermordes“ von Braunschweig zu bezichtigen. (*Anm.)

Léon Krier ist ein Apologet der Architektur Albert Speers, Hitlers Generalbauinspektor in Berlin. Im Auftrag des Führers hatte Speer die Aufgabe, Berlin zur Welthauptstadt Germania umzubauen. Goebbels umschrieb diese Vision 1938 in einer Festrede an Hitler: „Unverändert ist bis heute Ihre Idee und Ihre Entschlossenheit, das Chaos Berlin neu zu gestalten, und aus diesem planlosen Häusermeer eine Stadt zu formen, die der Größe unseres Volkes, dem Rang unserer Nation und der geschichtlichen Bedeutung unserer Zeit würdig ist.“

Die späteren Bombardierungen waren für die Vorbereitung zur Umsetzung dieser Vision erst einmal willkommen. Rudolf Wolters, der im Dezember 1943 Leiter des „Arbeitsstab Wiederaufbauplanung“ wurde, begrüßte die ersten, vereinzelten Bombenschäden 1941 wie folgt: „In der Nacht vom 25. auf den 26. April wurden bei einem Fliegerangriff drei Gebäude im Abrissgebiet südlich des runden Platzes getroffen. Der Engländer leistet damit wertvolle Vorarbeit für die Zwecke der Neugestaltung.“ (Johann Friedrich Geist und Klaus Kürvers) Die städtebaulichen „Erfolge“ der Bombardierungen fassen Geist und Kürvers aus dieser Sicht wie folgt zusammen: „Als die RAF im Januar 1943 mit der systematischen Flächenbombardierung Berlins beginnt, übernehmen die britischen und später auch amerikanischen Piloten die Arbeit, die im Rahmen der „Neugestaltung der Reichshauptstadt“ zum großen Teil den Berliner Abrissunternehmen zugedacht war – ungenauer zwar, aber schneller und billiger. Bei dem Ausmaß der von Speer vorgesehenen Abrissgebiete – denen ja noch fast die gesamte Altstadt zuzurechnen ist, …. war die gewünschte Trefferwahrscheinlichkeit jedoch relativ hoch.“

Ähnliches berichtet Durth: „Gleichsam als makabre Vorahnung des Bombenkrieges zeigt eine Karikatur aus der Generalinspektion Speers 1942 die Freilegung der Großen Achse als Durchschuss aus einer überdimensionierten Kanone; wenig später werden die ersten Luftangriffe der Alliierten als Hilfestellung beim ohnehin geplanten Abriss von Altbauquartieren verhöhnt.“

Nachdem in vielen Stadtzentren durch Bombardierungen große Schäden entstanden waren, hielt Speer 1943 eine Grundsatzrede zum „Wiederaufbau deutscher Städte“ (nach Durth). Die Lösung der Verkehrsprobleme war dafür vordringlich: „Es soll hier also in der Hauptsache dem sonst unumgänglich zur Tatsache gewordenen Zustand eines Erstickens der Städte durch die Verkehrsnot entgegengetreten werden, wie er vor dem Kriege bestand und wie er nach dem Kriege zweifellos verstärkt kommen wird,“ – so Speer. Nicht der politische Wille, sondern die Not zwang dazu, „sparsam“ zu planen: „Es ist unmöglich,“ erklärt Speer, „dass wir hier nach Art der Stadtbaupläne vorgehen, die wir vor dem Kriege bereits von verschiedenen Städten bei uns vorliegen hatten und die grundsätzlich eine Ost-West-Achse und eine Nord-Süd-Achse hatten. Wir müssen in irgendeiner Form, soweit es geht, uns an die vorhandenen Straßenzüge halten und versuchen, diese Straßenzüge zu verbreitern.“ Bevor er nach Braunschweig kam, hatte Franz Rosenberg diese Richtlinien Speers in Wuppertal umzusetzen.

Für Braunschweig wurde innerhalb von nur wenigen Wochen, direkt nach Kriegsende, von Rosenberg und Kraemer ein Wiederaufbauplan vorgelegt, der wie nach Maßgabe Speers „zunächst ein städtebaulicher Grundplan“ zu sein hatte, was hieß: „er legt fest, was im einzelnen an Straßenzügen durch die zerstörten Stadtviertel durchgezogen werden soll ….“ Kraemer hat den Plan vielleicht unterzeichnet und der britischen Behörde vielleicht auch persönlich überreicht – er kam eben von einem politisch vergleichsweise unbelasteten Ort, aus einem Krankenhaus. Aber soll deshalb alles auf seine Urheberschaft zurückzuführen sein, seine Ideen und damit seine Verantwortlichkeit für den „Abriss unzähliger historisch wertvoller Hausfassaden“? – wie der anonyme Autor in der Braunschweiger Zeitung es unterstellt: Kraemer der Hauptverantwortliche für den Mord des historischen Braunschweig? – Wohl kaum, dann doch wohl eher ein (versuchter) Rufmord an Friedrich Wilhelm Kraemer.

(*) Eben sehe ich, dass der Vorspann des gedruckten Artikels, in dem die Gebrüder Krier zitiert werden, der oben verlinkten Internetversion des Artikels nicht beifügt ist: Dort heißt es:

„1946 begann die Trümmerräumung. Gleichzeitig wurde allmählich ein neuer Stadtgrundriss verwirklicht. So gab es nach dem Bombenkrieg in deutschen Städten eine zweite, nun von Stadtplanern geschürte Zerstörung historischer Substanz. Das Fazit von Rob und Léon Krier, zwei international renommierten Luxemburger Baukünstlern: „Architekten haben in verheerendem Maße die Stüdte ruiniert.“ Braunschweig ist eine davon.“

Wenn man, wie Krier, einerseits der Meinung ist, dass der emotionale Impakt der alle Kleinteiligkeit zermalmenden, monumentalen Machtarchitektur Albert Speers diesen zum größten Architekten des 20. Jahrhunderts macht, andererseits Architekten, die vielleicht noch zu retten versuchten, was zu retten war, aber nicht alles retten konnten, als Ruinierer unserer Städte verurteilt, zeigt man Blindheit auf mehr als nur einem Auge.

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