Vor 75 Jahren: Fanatisierte Nazis ermordeten in Schandelah den Bürgermeister und den Arzt

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Dr. Diethelm Krause-Hotopp Foto: Privat

Vorbericht zum Vortrag von Diethelm Krause-Hotopp in der Gedenkstätte Schillstraße am 16.07.2020

Unmittelbar vor Kriegsende kam es zu tragischen Ereignissen in Schandelah (Landkreis Wolfenbüttel), denen zwei im Ort angesehene Männer zum Opfer fielen. Seit 1928 war Bauer Heinrich Jürgens, Mitglied der NSDAP seit 1937, zunächst Ortsvorsteher, später ab 1935 von der NSDAP eingesetzter Ortsbürgermeister. Dr. Fritz Zschirpe hatte seine Arztpraxis seit 1913 in Schandelah.

Foto (Krause-Hotopp) vom Gedenkstein am Ehrenmal.

Ereignisse in Braunschweig Anfang April 1945

Um das Geschehen in Schandelah zu verstehen, muss kurz auf die Ereignisse in Braunschweig eingegangen werden. Am 6. April erschien in der Braunschweiger Tageszeitung der fanatische Appell des Gauleiters Lauterbacher: „Lieber tot als Sklav!“ Darin wurde die Todesstrafe für Feiglinge und Verräter angedroht – in Braunschweig auch ausgeführt (z.B. Erschießung Landrat Dr. Bergmann am 11.04.).

In der Stadt überschlugen sich die Ereignisse um den 11. April. Die amerikanischen Truppen rückten unaufhaltsam auf Braunschweig vor. Hier führte der 30-jährige NSDAP-Kreisleiter und stellvertretende Gauleiter Bertold Heilig sein Schreckensregiment. Als er am 10. April gegen 23 Uhr erfuhr, dass die Stadt Braunschweig kampflos an die Amerikaner übergeben werden sollte, kam er aus der „Festung Harz“, in die er zuvor vom Gauleiter abkommandiert war, sofort nach Braunschweig zurück und übernahm wieder die Führung. Am Morgen des 11. April verkündete er über den Drahtfunk Braunschweig zur Festung, die „bis zum letzten Blutstropfen“ verteidigt werden sollte. „Braunschweig kapituliert nicht und wird nicht kampflos dem Feind übergeben“.

Am Abend des 11. April erkannte Heilig allerdings die Aussichtslosigkeit, resignierte und setzte sich gegen 22 Uhr Richtung Berlin ab. Gegen Mitternacht rückten die Amerikaner in die Stadt ein. Am 12. April 1945, kurz vor 3 Uhr, wurde vom Oberbürgermeister Dr. Bockler und vom Polizei-Hauptmann Stahl für die Stadt ein dreiseitiges Kapitulations-Schriftstück unterschrieben.

Situation in Schandelah

Auch in der Ortschaft Schandelah bereiteten sich die Menschen auf die Ankunft der amerikanischen Truppen vor. An den Ortseingängen wurden drei Sperren aufgebaut, um die amerikanischen Panzer am Eindringen in ihr Dorf zu hindern. Sicherlich waren davon nicht alle begeistert und fürchteten um ihr Dorf und ihr Leben. Aber noch befah-len besessene Nazis, und die Angst vor den Folgen der Verweigerung trieben die Men-schen zu sinnlosen Handlungen.

Am Vormittag des 10. April war Dr. Zschirpe in Weddel auf Patientenbesuch unterwegs. Im Drahtfunk hörte er von der Braunschweiger Kreisleitung, dass Panzersperren geöffnet werden sollten und teilte dies seiner Frau mit. Da in einigen Orten diese Sperren schon geschlossen worden waren, obwohl der Feind noch nicht vor Ort war, sollte der normale Verkehr nicht behindert und die Sperren auf 4 Meter geöffnet werden. Aus der Information, die Sperren zu öffnen, wurde in der Kommunikationskette (Frau Zschirpe an Frau Jürgens, die sagte es ihrem Mann weiter) nun ein Abbauen der Sperren. Aus der Mitteilung war nun ein Befehl geworden, den Bürgermeister Jürgens sofort an die Bevölkerung weitergab. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche Dorfbewohner dies mit Erleichterung aufnahmen.

Als ein Trupp Hitlerjungen zufällig an der Sperre am Bahndamm vorbei kam, verbot der Truppführer sofort den weiteren Abbau. In der Auseinandersetzung müssen dann wohl auch die Namen Jürgens und Zschirpe als Auftraggeber gefallen sein. Damit nahm das unheilvolle Geschehen seinen Lauf.

Bürgermeister Jürgens, bestens mit den Befehlsstrukturen des NSDAP-Apparates vertraut, hatte sich zur Absicherung beim Volkssturmbataillonsführer erkundigt und erfahren, dass die Sperren schnellstens wieder aufzubauen wären. Dies wurde von ihm auch sogleich angeordnet.

Inzwischen war die Information vom Abbau der Sperren zu Oberleutnant Kramm (er war für den Bau der Sperren in zwölf Orten zuständig) gelangt, der sofort nach Schan-delah fuhr, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Er führte mit Bürgermeister Jürgens und dem Ortsgruppenleiter der NSDAP Duwald ein ernstes Gespräch, dabei soll er darauf hingewiesen haben, was bei „Sabotage“ zu erwarten sei.

Über diesen Oberleutnant gelangten die Vorgänge in Schandelah an den Befehlsstand im Nussberg in Braunschweig. Dort musste Ortsgruppenleiter Duwald am Abend Rede und Antwort stehen. Wie das Gespräch in der angespannten Situation verlief, kann man sich gut vorstellen. Er machte aber deutlich, dass in Schandelah alles den Befeh-len entsprechend geordnet war.

Akademie für Jugendführung in Braunschweig (heute Braunschweig-Kolleg und Abendgymnasium Wolfenbütteler Straße)

1939 begann die Ausbildung für die höhere Führungsebene der Hitlerjugend. Am 02. April 1945 wurde der Lehrbetrieb offiziell eingestellt, und die Absolventen und das Lehrpersonal wurden dem Kampfkommandanten von Braunschweig, Generalleutnant Karl Veith, unterstellt. Der letzte Lehrgangsleiter Oberbannführer Heinrich Stünke übernahm zwei Bataillone, genannt: „HJ-Akademie-Kampfgruppe Braunschweig“ oder auch „Volkssturmbataillon Stünke“. Ab 8. April wurde der Verteidigungsabschnitt Ostrand der Stadt bezogen und in der Nacht zum 9. ging es nach Weddel.

Das Mordgeschehen

Während des 10. April hatte ein Teil des Bataillons, die Kompanie Giersberg, sich im Forsthaus Cremlinger Horn niedergelassen und einen Gefechtsstand eingerichtet. Bei Beobachtungsfahrten in die Umgebung müssen sie von den Ereignissen in Schan-delah erfahren haben. Man kann sich gut vorstellen, wie aufgebracht die fanatisierten Jungmänner der Führungsakademie waren. Sie nahmen die Durchhaltebefehle immer noch sehr ernst. Da die Kompanie Giersberg eine neue Verteidigungslinie im Elm auf-bauen sollte, kam es gegen Abend zu einer Besprechung mit Unterführern im Offiziersrang. Dabei war der Abbau der Panzersperren in Schandelah auch Thema. Sie machten Jürgens und Zschirpe für den Vorfall verantwortlich. Es kann davon ausgegangen werden, dass durch Alkohol die Stimmung noch zusätzlich aufgeheizt wurde.

Kam „der Befehl der Vollstreckung der Todesurteile durch das Standgericht von der Kreisleitung Braunschweig“ oder beschloss diese Versammlung „die Bildung eines Feme- oder Standgerichts“ mit dem Ergebnis, beide zu erschießen, „wegen Sabotage und defätistischen Verhaltens“?. Dieser Frage geht der Autor anhand der Prozessakten im Moment nach. Auf Motorrädern ging es nach Schandelah, das nur ca. 3 km entfernt lag.

Zuerst wurde Jürgens per Genickschuss auf einem Feld erschossen und dort in einem Loch verscharrt. Anschließend holten sie Dr. Zschirpe aus dem Haus, den sie in einem Waldstück Richtung Cremlingen erschossen. Seine Leiche bedeckten sie mit Laub und Zweigen.

Die Familien gingen davon aus, dass die Männer nach Braunschweig gebracht worden waren. Erst Tage später wurde zunächst die Leiche von Jürgens auf dem Acker gefunden. Danach machte man sich auf die Suche nach Dr. Zschirpe, den man im Wald fand.

Prozess gegen die Mörder

Im September 1949 fand vor dem Schwurgericht in Braunschweig der Prozess gegen fünf Angeklagte (ehemalige HJ-Bannführer und Offiziere der Jugendakademie des HJ-Führerkorps Braunschweig) statt. Im Urteil vom 8. September 1949 wurden zwei Angeklagte freigesprochen, einer erhielt vier Jahre Gefängnis, einer sechs Jahre und ei-ner sieben Jahre. Der Staatsanwalt hatte Zuchthausstrafen beantragt.

In der Folge setzten sich Familienangehörige für Haftverkürzung und Revision ein und waren damit auch erfolgreich. Ihnen ging es um den Nachweis der Unschuld der Täter. Am 3. Juli 1950 lässt der II. Strafsenat des Obersten Gerichtshofes für die britische Zone in Köln Revision der Staatsanwalt und der drei Verurteilten zu. Im Januar 1951 reduzierte dann das Landgericht in Braunschweig siebenjährige Haftstrafe auf sechs Jahre.

Während die Opfer des naheliegenden KZ-Schandelah in Vergessenheit gerieten, wurden zwei Straßen nach Jürgens und Dr. Zschirpe benannt und eine Gedenktafel am Ehrenmal an der Kirche angebracht.

Die Darstellung der Aufarbeitung innerhalb der Ortschaft Schandelah würde den Rahmen dieser Darstellung jetzt sprengen und wird demnächst erfolgen.

Zwei Fotos (Diethelm Krause-Hotopp) von an den Straßen angebrachten Zusatzschildern. Ob die Inhalte wohl so bleiben können?! Am Ende der Aufarbeitung wird es darauf eine Antwort geben!

1 Kommentar

  1. Dass Braunschweig von den Amerikanern nicht vollständig zerstört wurde, ist evtl. auch mit einem Anwohner aus Lehndorf, Hermann Hartmann, zu verdanken. Als die amerikanischen Panzer über die B1 Lehndorf immer näher kamen, fuhr Hartmann mit einer weißen Fahne auf seinem Fahrrad den Amerikanern entgegen, um zu zeigen, dass es keinen Widerstand in der Bevölkerung gäbe.

    Das war sehr mutig von Hartmann, denn er wußte ja auch nicht, wie die Amerikaner reagieren würden, und wie man mit ihm umginge. Hartmann war damals Meister in der MIAG, heute Bühler. Hier wurde intensiv für den Krieg gearbeitet und war immer ein Angriffsziel für die Bomber. Der gesamte Fabrikkomplex wurde von der Flak verteidigt. Nur eine einzige Bombe traf einmal einen Teil einer Werkshalle, was wohl keinen großen Einfluß auf die Produktion hatte.

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