Rechtsstaat zunehmend gefährdet – und keiner merkt es?

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Foto: Pixabay

Auf unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat sind wir stolz – zu Recht. In den letzten Jahren mehren sich allerdings Vorgänge und Ereignisse, bei denen wir den Eindruck haben, sie seien mit dem, worauf wir stolz sind, nicht so recht zu vereinbaren (über den Fall Julian Assange etwa haben wir erst kürzlich berichtet). Nun aber tritt ein gewichtiger Zeuge auf,    der nicht nur einzelne Verstöße sieht, sondern in unserem Staat schwerwiegende Tendenzen erkennt, die die Rechtsstaatlichkeit insgesamt unterhöhlen und gefährden. Der Zeuge ist niemand anders als der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier. 

In einem Vortrag (Quelle: Nachdenkseiten, 30.09.2023) liest er der Gesetzgebung, der Verwaltung und sogar der Justiz die Leviten – wenn auch oft in vorsichtigen Formulierungen. Sie hätten im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Corona die Anforderungen des Rechtsstaates „nicht immer hinreichend beachtet“. Oder noch deutlicher: Natürlich sei die Forderung nach wirkungsvollen Maßnahmen gegen Corona berechtigt, aber, und das wörtlich:

„(Sie) rechtfertigen nicht eine antidemokratische Regierungsstruktur…“

Es sei falsch, nach dem Motto zu verfahren, die Not kenne kein Gebot oder der Zweck heilige jedes Mittel. Eben diese Einstellung scheine „auch in diesem Land bisweilen hintergründig die Politik zu bestimmen“. Er kritisiert ausdrücklich die Äußerung des jetzigen Bundeskanzlers Olaf Scholz, der während der Pandemie die Position vertreten habe, bei deren Bekämpfung gebe es keine roten Linien; mit anderen Worten: der Staat darf machen, was er für zweckdienlich hält – Rechtsstaat und Verfassung hin oder her. Dem Staat sei (nach Papier) eine letztlich unbegrenzte Genehmigung erteilt worden, „Freiheitsbeschränkungen und Grundrechtssuspendierungen jeder Art und jeden Ausmaßes zu erteilen“, was aber gegen jede rechtsstaatliche Ordnung verstoße. 

Obrigkeit, Reglementierung, Überwachung…

Die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger dürften nicht zugunsten eines auf „Obrigkeit, Reglementierung, Überwachung und eines die freien Bürgerinnen und Bürger dieses Landes letztlich als Untertanen behandelnden Fürsorgestaates“ eingeschränkt werden. Der Staat werde so selber zum „Risiko für den Rechtsstaat“. 

Papier schließt in seine Kritik ausdrücklich das Bundesverfassungsgericht ein. Es habe daran mitgewirkt, dass die Anforderungen des Rechtsstaates „nicht immer hinreichend beachtet und vor allen Dingen nicht durchgesetzt wurden“. Auch zeigt er sich überrascht von den „autoritären Versuchungen … , mit denen nicht nur die Politik aufgewartet hat“, sondern auch der „intellektuelle Bereich“.

„Flankierende Maßnahmen“ der Medien

Er deutet damit an, dass auch die Medien – jedenfalls in ihrer großen Mehrheit – willig, aktiv und eben meist ohne die notwendige kritische Distanz die kritisierte Politik unter das Volk gebracht haben. Das verschärft die Gefahr für Rechtsstaat und Demokratie erheblich: wer nicht mehr mit allen notwendigen Informationen versorgt wird, wer sich daran gewöhnt, dass ein Teil der Bürger wegen „abweichender Meinung“ diffamiert wird und sogar Einzelne (Beispiel Kimmich) regelrecht fertig gemacht werden – wie soll der (oder die) sich noch in Ruhe eine eigene, abgewogene Meinung bilden? Und angesichts dieser Störung der freien Meinungsbildung – wie soll unter diesen Umständen eine stabile Demokratie erhalten bleiben?-  Die Rolle der Medien beim Thema Ukrainekrieg oder beim Thema Naher Osten scheint dafür zu sprechen, dass sie sich bereits an diese Art „Berichterstattung“ gewöhnt haben. Ein dramatischer Befund angesichts der existentiellen Bedeutung von freier Information und Meinungsbildung. 

Gewöhnen wir Bürger uns an die Unterhöhlung des Rechtsstaats?

Die kritisierten Vorgänge haben nicht nur den Rechtsstaat beschädigt. Sie sind darüber hinaus mit der Gefahr verbunden, dass sich die Bürgerinnen und Bürger an die Verstöße gegen den Rechtsstaat gewöhnen; schließlich war bzw. ist es für einen guten Zweck. Dass Papier keineswegs der Meinung ist, dass das Problem mit dem Ende der Coronapandemie entfallen ist, zeigt seine Bemerkung, dass die Rechtsstaatlichkeit etwa auch beim Thema Klimapolitik einzuhalten sei – auch hier heilige eben nicht der Zweck jedes Mittel.

Die schwerwiegenden offenen Worte des Zeitzeugen Papier haben bisher, soweit wir das sehen, nicht die angemessene Aufmerksamkeit in den Medien gefunden. Wir können es nun beobachten: tun sie einfach Herrn Papier als „Mann von gestern“ ab, so wie sie es mit nicht wenigen anderen Persönlichkeiten getan haben – etwa mit Generalinspekteur Kujat, mit Diplomat von der Schulenburg, mit Horst Teltschik oder mit Klaus von Dohnanyi? Oder können sie an diesem Beispiel zeigen, dass sie der autoritären Versuchung doch noch nicht ganz erlegen sind?

4 Kommentare

  1. Keiner merkt es?

    Ich glaube ja schon lange nicht mehr an neutrale Justiz, was ich selbst erlebt, ist für einen Rechtsstaat, wie Deutschland, nicht normal.

    Mein erschütternder Lebenslauf erinnert mich fatal an die unerhörte Entrechtung und Entmenschlichung bei Gustl Mollath durch die bayerische Justiz und die sogenannten Gutachter. Mollath saß ja lange hinter Gittern, alles eingefädelt von seiner Ex-Frau und willfährigen Politikern. Dass dieser Skandal am Ende doch öffentlich wurde und Mollath befreit werden konnte, ist seinem eisernen Widerstandswillen und Mut und zu einem kleinen Teil auch der Medienberichterstattung zu verdanken.

    Das Ärgerliche ist, es wird leider nicht darüber berichtet.

  2. Braunschweig war in telepolis – Meldung vom 16. Okt:
    Polizei gegen Dokumentarfilm: Wie weit darf Kritik an der Justiz gehen?
    https://www.telepolis.de/features/Polizei-gegen-Dokumentarfilm-Wie-weit-darf-Kritik-an-der-Justiz-gehen-9335203.html
    Ueber Joerg Bergstedt kann man hier im BS-Spiegel lesen.

    Betrachte ich den Kuschelkurs gegen Nazis hier und Hausdurchsuchungen ohne Hintergrund, haette ich mehr Sorgen vor Chatgruppen u.ae. in Polizei, Justiz, (Steuer-)Verwaltung, …
    (Dass es Buecher gibt, die vor einem ‚Antifa-Staat‘ warnen, ist eine schlechte Lachnummer – aber es gibt Volk, die glauben sowas.)

    Leider verstaerkt die Politik das auch noch: eine FDP, die immer kompliziertere Gesetze bastelt (und vorne Buerokratie beklagt :-); Minister, die Zollfahndern verbieten, an das Finanzamt zu melden; ministerielle Nichtanwendungserlaesse gegen buergerfreundliche Urteile; Rechnungshoefe, der den ‚Standortvorteil laxe Steuerpruefung‘ beklagen – ein tiefer Griff in die politische Trickkiste.

  3. Braunschweig war in telepolis – Meldung vom 16. Okt:
    Polizei gegen Dokumentarfilm: Wie weit darf Kritik an der Justiz gehen?
    https://www.telepolis.de/features/Polizei-gegen-Dokumentarfilm-Wie-weit-darf-Kritik-an-der-Justiz-gehen-9335203.html
    Ueber Joerg Bergstedt kann man hier im BS-Spiegel lesen.

    Betrachte ich den Kuschelkurs gegen Nazis hier und Hausdurchsuchungen ohne Hintergrund, haette ich mehr Sorgen vor Chatgruppen u.ae. in Polizei, Justiz, (Steuer-)Verwaltung, …
    (Dass es Buecher gibt, die vor einem ‚Antifa-Staat‘ warnen, ist eine schlechte Lachnummer – aber es gibt Volk, die glauben sowas.)

    Leider verstaerkt die Politik den Eindruck auch noch, dass es nicht immer mit rechten Dingen zugeht: eine FDP, die immer kompliziertere Gesetze bastelt (und vorne Buerokratie beklagt :-); Minister, die Zollfahndern verbieten, an das Finanzamt zu melden; ministerielle Nichtanwendungserlaesse gegen buergerfreundliche Urteile; Rechnungshoefe, der den ‚Standortvorteil laxe Steuerpruefung‘ beklagen – ein tiefer Griff in die politische Trickkiste.

  4. Keiner merkt es?
    Die Opfer merken es immer – wie der vorhergehende Leserbrief deutlich macht!

    Ein inhaltsleere Verweis auf den Rechtsstaat wirkt seit langem als Drohung, mit der Menschen zum Verstummen gebracht werden können, die begründete Zweifel an ihm hegen.
    In der Corona-Phase wurde zu diesem Zweck folgende Fetisch-Formuliereung ersonnen: „…Delegitimierung des Staates und seiner Institutionen/Vertreter …“, was die Überwachung durch den so genannten Verfassungsschutz rechtfertigen soll.

    Die Allermeisten der schreibenden Zunft haben das mehr als beherzigt, ja sie haben die sprachliche Kultur so verstümmelt, dass die grossen Medien abseits „erlaubter“ Narrative fast nichts zu bieten haben.
    Wir haben einen Bildungsnotstand bei den Medienschaffenden und Politikern (meint nicht ihre Eloquenz); der schafft zudem einen selbst verstärkenden Mangel an verwertbaren, zuverlässigen Informationen, was in der Masse der Bevölkerung
    eine Besorgnis erregende Orientierungslosigkeit erzeugt.

    Glücklicherweise gibt es nach wie vor noch den Buchmarkt. Dort ist das Canceln nicht so einfach durchzusetzen.
    (nur – leider können sich die unteren Einkommensschichten – ca. 50%, die ohne nennenswerte Rücklagen von der Hand in den Mund leben – kaum eine Bibliothek aufbauen, mit der sich arbeiten liesse, wenn das Internet längst um kritische Inhalte bereinigt wurde.)
    Deren freie Verbreitung ist aber Voraussetzung für rechtsstaatliche Demokratie,
    weil die freie Meinungsbildung unmittelbar daran anknüpft.

    Erstaunlicherweise waren trotzdem über die gesamte Corona- und Ukraine-Zeit kleine Verlage mit hohen Auflagen von Sachbüchern in den Spiegel-Bestsellerlisten präsent, die den Mangel an fundierter Recherche und in der Quellenlage ausglichen.
    Eine Folge davon ist, dass die durch Lobbyismus und Korruption herbeigeführten politischen Beschlüsse zum Umleiten wesentlicher Teile des Staatshaushaltes in destruktive Projekte mehrheitlich nicht mehr mitgetragen werden, weil die Bevölkerung keine Verhältnismässigkeit erkennen kann.

    Das Wahren von Verhältnismässigkeit ist aber eine Grundvoraussetzung eines Rechtsstaates und worin die besteht, wird offen diskutiert, nicht verordnet!
    Deshalb bin ich ausserordentlich dankbar über diesen Artikel, auch wenn er, ebenso wie Jürgen Papier, vorsichtig bleibt und nie konkret wird.

    Notzugelassene Impfungen zur direkten Erprobung an der Weltbevölkerung (nach einer nachgewiesenermassen mehrjährigen Planung) und Waffenlieferungen in
    den Ukrainekrieg werden aktuell nicht mehr bejubelt.
    Ausser in gewissen Kreisen.
    Auf diese Kreise sollten sich Medien und Rechtsstaat konzentrieren,
    damit es zu einer Art geistigen Erneuerung kommen kann.

    Dazu werden viele der längst in Rente und Pension gegangenen hochqualifizierten
    Menschen noch dringend gebraucht werden, vor allem, weil sie meist relativ unabhängig agieren können.
    Die unerträgliche „Flexibilität“ von Entscheidungsträgern in Konzernen und Politik, die keinerlei Verantwortung wahrnehmen, kostet unmittelbar aber auch indirekt unglaublich viele Menschenleben.

    Die ursprüngliche Erwartung, dass der Rechtsstaat für Gerechtigkeit sorgen kann und muss, sollt langsam wieder im Bewusstsein der Menschen Fuß fassen, sonst werden sie, wie in den Dystopien eines Klaus Schwab (siehe: die 4. industriuelle Revolution, 2016) vollmundig versprochen, mittels social engineering und modernster Technik zum Bestandteil eines omnipräsenten Computernetzwerkes und sonstigen technischen Equipments degradiert – wo der menschliche Geist und das Denken und Fühlen ausschliesslich als irgendwo im Kopf verortbare Gehirnleistung verstanden werden.

    Diese technokratischen, dystopischen Pläne liegen bis ins Detail ausgearbeitet,
    in den Schubladen von ein paar neofeudalen Wahnsinnigen, die ausdrücklich unser gesamtes Menschenbild auf eine funktionale, technische (Selbst-)Betrachtung reduzieren wollen. Das ist unser Zeitgeist, wie er von grossen Teilen der Eliten
    zum Teil ganz offen vertreten wird.

    Ein Rechtsstaat oder Verfassungsstaat, wie Hans Jürgen Papier sagen würde,
    würde sofort erkennen, dass die Menschenwürde der ihm anvertrauten Bürger in Frage gestellt wird und dass ein anderes Herrschaftsmodell implementiert werden soll.
    Was macht unser Staat angesichts dieser Bedrohung?
    Nach einer völlig utilitaristischen Wettbewerbslogik möchte er „ganz vorne mit dabei sein“ und macht sich zum Erfüllungsgehilfen dieser ideologisch motivierten
    Menschenfeinde.
    Das psychologische Vorgehen dieser Möchtegern-Weltherrscher von der Davos-Clique kann man in Naomi Kleins Grundlagenwerk „Die Schockstrategie“ sehr gut nachvollziehen.
    In diesem Sinne waren auch die „Corona-Krise“ und die „Ukraine-Krise“ inszenierte Schock-Ereignisse.

    Für Interessierte wiederhole ich nochmal die 2 wichtigsten Literaturangaben,
    mit denen man das komplexe Bild der geostrategischen Lage etwas abrunden kann.
    Naomi Klein: „Die Schockstrategie“ von 2007
    Klaus Schwab. „Die 4. industrielle Revolution“, Jun. 2016

    C.

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