„1, 2, 3, …“

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In der Folge des schweren Unfalles am Braunschweiger Hauptbahnhof, in welchem ein Polizeifahrzeug, in falscher Fahrtrichtung fahrend, einen Lehrer überfuhr und schwer verletzte, gab es viel Kritik. Kritik gab es vor allem an einem Flugblatt, in welchem der Katastrophe und dem Grauen mit einem Kinderreim begegnet wurde (der niedersächsische Pessimist Wilhelm Busch trieb dies rhetorische Verfahren zu literarischer Blüte). Kritik gab es mehr noch an Ratsfrau Heiderose Wanzelius von der BIBS, welche als Privatperson in der Folge eine Demonstration zwar nicht organisierte, aber anmeldete und damit die volle Verantwortung für die Veranstaltung übernahm.

(Flore Bedelo bei der Auflösung der Demonstration, die vom Hauptbahnhof zum Rathaus führte

  • Carsten Müller (CDU) sprach von einer „Vorverurteilung der Polizei“, einer „Geschmacklosigkeit sondergleichen“, einer „Schande“, Wanzelius mache sich zum „Sprachrohr von Leuten, die unsere Polizei durch Wort oder Gesten beleidigen“, was von mangelndem „Respekt vor dem Rechststaat und seinen Prinzipien“ zeuge. Außerdem ermuntere sie damit „andere zu Beleidigungen“.
  • Manfred Pesditschek (SPD) sprach von „übler Stimmungsmache gegen eine Berufsgruppe, die unter schwierigen Umständen für unsere Sicherheit sorgt.“
  • Ralph-Herbert Meyer (CDU) sprach von einer „Verhöhnung des Opfers“. Der Unfall werde „aufs Schändliche ins Lächerliche gezogen“, was „Verantwortungs- und Geschmacklosigkeit“ bewiese und „plumpe Hetze“ sei.
  • Und Innenminister Uwe Schünemann (CDU) verurteilt, Ralph-Herbert Meyer folgend, die „Ratsfrau“ wegen dieser „Verhöhnung des Opfers“, wo sie doch „eine besondere Verantwortung“ habe.

Der Braunschweig-Spiegel  bat Heiderose Wanzelius, die Rede, die sie an der Demonstration hielt, für eine Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen:

„Viele kleine Leute, die in vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können das Gesicht der Welt verändern“,

so lautet eine afrikanische Spruchweisheit. Ich bin zutiefst beeindruckt, wieviele Menschen unserem gemeinsamen Aufruf gefolgt sind, ihrem Gewissen folgend aufzustehen, um ein Signal der Menschlichkeit auszusenden. Es ist demjenigen gewidmet, dessen Namen wir nicht einmal kennen, aber dessen Schicksal uns zutiefst berührt und bewegt hat.

Wir wollen hier und heute ein Zeichen setzen, das ihn, seinen Freunden, die ihn an jenem schicksalshaften Tag begleitet haben, aber auch ganz besonders seinen Eltern gilt. In Bruchteilen von Sekunden hat ein Ereig­nis ein ganzes Leben aufgewühlt und verändert.

Niemand kann nachempfinden, wie es ist, die Nachricht zu erhalten, dass der eigene Sohn verunglückt ist. Von diesem Moment an ist es, als wenn der Boden unter den Füßen weicht – man wird hilflos aus den alltäglichen Strukturen geschleudert und verliert sich. Von einem Moment zum anderen ist nichts mehr so, wie es einmal war. Alle, die diesem Menschen einmal nahestanden oder auch noch nahe sind, werden im Angesichts dieser Situation verletzlich. Es ist, als wenn eine schützende Haut zerreißt und das Innere bloß legt.

Dennoch liegt in diesem Augenblick eine ungeheure Chance – wir können zusammenrücken und uns wärmen, Kraft schenken und gemeinsam eines Stücks Weges gehen. Unser ganzes Mitgefühl gilt in diesem Moment allen den Menschen, die von dieser Katastrophe betroffen sind, die kurz vor Heiligabend hier in unmittelbarer Nähe passierte und Erschütterungen auslöste.

Wir dürfen angesichts des schrecklichen Ereignisses nicht erstarren, sondern müssen aus den Dingen, und seien sie noch so schmerzlich, lernen und unsere Schlüsse fürs Leben ziehen, die Möglickeit beim Schopfe packen, uns befreien von allen gesellschaftlichen und politischen Zuständen, in denen wir hineingeboren sind und ganz allein unserem Gewissen unserer inneren Stimme folgen.

Es ist unser humanistisches Kapital, das frei ist von äußeren Belohnungen oder Sanktionen. Das humanistische Gewissen gründet sich auf die Tatsache, dass wir als menschliche Wesen intuitiv wissen, was menschlich ist, was Leben fördert und was es zerstört. Dieses Gewissen hilft uns, als menschliche Wesen zu funktioniern. Es ist, in den Worten des Philosophen Fromm gesprochen, die Stimme, die uns zu uns selbst, zu unserer Menschlichkeit zurückruft.

Du und ich, wir alle besitzen eine uns wesensgemäße Fähigkeit, intuitiv zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch, Menschlich und Unmenschlich zu unterscheiden.

Dies ist es, was uns aufhorchen ließ, nachdem wir die ersten Artikel der Braunschweiger Zeitung gelesen hatten, die den Unfall vor Weihnachten beschrieben, dessen Autor nicht locker gelassen hat und allen Zeugen eine Stimme verlieh.

Uns ist klar geworden, dass dort ein Unrecht geschehen ist, das vertuscht werden sollte. Wobei die Polizei eine maßgebliche Rolle spielte, die in meinen Augen im Moment ein Vertrauen zerstört und uns völlig irritiert und wütend werden lässt.

Von Kindesbeinen an wurde uns immer wieder gesagt, dass die Polizei dein Freund und Helfer ist, wir haben vertraut und uns in Gefahren an sie gewendet – eine Demokratie ohne Polizei wäre nicht denkbar – doch jetzt fordern wir sie auf, endlich Licht in das Dunkel der Ereignisse zu bringen, die in besagter Nacht vom 18. zum 19. Dezember 2010 geschehen sind und unwiderruflich in ein Leben eingebrochen sind, dessen Ausgang noch im Ungewissen liegt.

Wir stehen auf und fordern gemeinsam, dass diejenigen, die in dieser Nacht den Unfall auf dem Gewissen haben, sich ihrer Verantwortung als Mensch stellen.

Dabei wollen wir keineswegs die Polizei zum Sündenbock der Nation abstempeln, sondern weiterhin in eine Staatsgewalt vertrauen können, die uns Sicherheit verspricht und auch in den meisten Fällen einlöst.

Es ist uns klar, dass der Dienst als Polizist von vielen Problemen überschattet wird, dennoch fordern wir gegenseitigen Respekt. Wir wünschen uns eine kritische Polizei, die wachsam ist und uns beschützt und uns nicht verrät.

Alles existiert nur durch unsere Aufmerksamkeit – dies ist ein Spruch an einer Berliner Plakatwand.

Eines ist sicher, wir werden so lange unsere Stimme erheben, bis das Unrecht gesühnt ist, dass dem uns unbekannten Mann, dessen Freundeskreis und seiner Familie angetan worden ist.

Ich möchte mit dem Zitieren eines Gedichtes von Sophie Goll enden – es trägt die Überschrift:

Selbstbewußtsein

Sei
wie du bist
nicht irgendwer

Sag
was du denkst
nicht irgendwas

Frag
dein gewissen
nicht irgendwen

Fang
heute an
und hier
nicht irgendwo

Tu
was sein muß
bald
nicht irgendwann

Laß dir
nicht aufschwatzen
irgendwas
irgendwie
irgendwo
irgendwann
und irgendwem

Kein Himmel blaut
kein Regen rauscht
kein Tau fällt
kein Sturm bläst
in die Windstille der Halbherzigen

In diesem Sinne möchte ich meine Rede enden und hoffe auf Euch, auf uns und auf unsere Kraft, die Mauern zum Einstürzen bringt durch die Hoffnung, die in uns blüht. Wir müssen auf die Stimme unseres Herzens vertrauen.

Mein ganz besonderer Dank gilt Flore Bedelo, ihren Kindern und Freunden, die mit all ihrer Leidenschaft uns wach gerüttelt und den Anstoß für diese Veranstaltung gegeben haben. Ich weiß, dass ihr im letzten Jahr verstorbener Mann – wir kennen ihn nur unter dem Namen „Pflanze“ – uns dabei begleitet und uns Flügel verleiht.

Heiderose Wanzelius

 

 


Kommentare   
 
0 #1 Sabine 2011-01-12 09:46
Danke für diesen guten Beitrag! Hoffentlich lesen ihn viele Menschen, die von dem Vorfall über die Zeitung erfahren haben!
 
 
 

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