Von Tina Keller, Britta Rabe und Michèle Winkler
Entscheidung zur Gewalt. Grundrechtekomitee legt Bericht zu Demonstrationsbeobachtung rund um die Räumung von Lützerath vor.
Heute, am Internationalen Tag gegen Polizeigewalt, legen wir unseren Bericht zur Demonstrationsbeobachtung rund um die Räumung von Lützerath vor! Er basiert auf unseren Beobachtungen, auf Gesprächen mit Aktivist*innen, einer umfassenden Auswertung der Medienberichterstattung sowie Aussagen von Polizei und Landesregierung sowie auf Beiträgen des Ermittlungsausschuss und Demo-Sanitäter*innen.
Er kann hier als PDF abgerufen werden. In Kürze werden auch Druckexemplare des Berichts verfügbar sein.
Als Auszug findet ihr hier unser zusammenfassendes Fazi:
Verletzung der Versammlungsfreiheit auf mehreren Ebenen
Im Brokdorf-Beschluss von 1985 stellte das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich fest, dass es der Versammlung selbst obliegt, einen für sie und ihr Anliegen geeigneten Ort des Protests zu wählen. Örtliche Beschränkungen durch Versammlungsbehörden seien nur unter sehr hohen Voraussetzungen zulässig. Mit der Allgemeinverfügung und dem damit einhergehenden Aufenthalts- und Betretungsverbot wurde dieser Grundsatz während der Räumung und Zerstörung Lützeraths aus unserer Sicht grundlegend verletzt.
Obgleich das Areal Privatgelände ist, hätte im Sinne der Verhältnismäßigkeit und des Schutzes der Versammlungsfreiheit eine Möglichkeit geschaffen werden müssen, am Ort des Geschehens zu protestieren.
Die Besetzer*innen hätten als Teil einer Versammlung gewertet werden müssen, sofern sie sich gewaltfrei räumen lassen und auf diese Weise ihre Meinung zum Ausdruck bringen. Dass dies für einen Großteil der Besetzer*innen der Fall war, hat die Polizei selbst sowohl im Vorfeld vermutet, als auch im Nachhinein bestätigt. Auch Versammlungen außerhalb des Gebietes der Allgemeinverfügung wurden massiv eingeschränkt. Lediglich eine Straße wurde als Versammlungsroute genehmigt, obwohl es eine Vielzahl an Feldwegen und Flächen gibt, die weitaus näher an Lützerath liegen.
Versammlungen ohne Anmeldung, die ebenso von der Versammlungsfreiheit geschützt sind, wurden mit großer Härte zurückgeschlagen oder eingekesselt. Bei Versammlungsanmeldungen kam es zu stark verzögerten Bescheiden. Insbesondere für die Großdemonstration am 14. Januar wurde der Bescheid so spät zugestellt, dass effektiver Rechtsschutz verhindert wurde.
Pressefreiheit
Die Pressefreiheit war durch den faktischen Zwang zur polizeilichen Akkreditierung systematisch eingeschränkt. Zudem gab es diverse weitere Beschränkungen der Pressefreiheit durch die Polizei oder das Personal von RWE, bis hin zu vereinzelten körperlichen Übergriffen gegen Journalist*innen. In Einzelfällen wurden Journalist*innen sogar die Akkreditierung entzogen.
Lebensgefährdende Räumung von Lützerath
Obwohl die Polizei bis zu sechs Wochen für die Räumung eingeplant hatte, dauerte diese nur fünf Tage. Einen Tag vor der Großdemo, am Freitag, den 13. Januar, sollte einem Polizeisprecher zufolge schon bis zum Abend ganz Lützerath geräumt sein. Dies scheint uns ein Beleg dafür, dass ein Anlass für die besorgniserregende und lebensgefährdende Eile der Räumung unter anderem die angekündigte Großdemo am 14. Januar war. Ein noch aktiver Widerstand der Besetzer*innen innerhalb von Lützerath als zusätzliche Mobilisierungskraft für die Demonstration sollte aus Polizeisicht möglichst vermieden werden.
Während der gesamten Räumungstage in Lützerath stellte sich der Einsatz der Polizei und RWE als überaus hektisch und überstürzt dar: Räumung sowie Abriss- und Fällarbeiten verliefen parallel, in enger räumlicher Nähe und augenscheinlich oft ohne genügenden Sicherheitsabstand. Es kam zu mehreren lebensgefährdenden Situationen, bei denen Geäst aktive Traversen nur knapp verfehlte bzw. traf.
Es ist allein dem Glück zu verdanken, dass es keine schweren Verletzungen oder Schlimmeres gab. Der Polizeieinsatz war hinsichtlich der körperlichen Unversehrtheit von protestierenden Aktivist*innen in keiner Weise – wie durch die Polizei Aachen angekündigt – „besonnen und professionell“.
Die fast ohne Pausen stattfindenden Räumungsarbeiten durch die Nacht hindurch unter Lärm und Dauerbeleuchtung, die zunehmende Erschöpfung von Aktivist*innen sowie die schlechten Wetterverhältnisse, insbesondere der starke Wind mit Sturmböen, machten die Gefährdungslage für diese täglich brisanter.
Mit der Zerstörung der selbstorganisierten Essensinfrastruktur der Aktivist*innen am ersten Räumungstag wurde die gemeinschaftliche Lebensmittelversorgung unterbrochen und so den Besetzer*innen ein Teil der Grundversorgung vorenthalten. Demo-Sanitäter*innen mussten Lützerath verlassen, weil sie als Teil der Aktivist*innen gezählt wurden. Damit wurde eine adäquate medizinische Versorgung der Besetzer*innen unterbunden.
Polizeigewalt während Demonstrationen
Zeigte sich die Polizeigewalt während der Räumungstage in Gestalt einer Inkaufnahme lebensgefährdernder Situationen, trat sie während Demonstrationen und Aktionen als direkte Brutalität auf. Dabei fanden diese polizeilichen Handlungen mit Verweis auf das Hausrecht von RWE zum Teil auf Gelände statt, das nicht als Firmengelände gekennzeichnet war.
In besonderem Maße auf der Großdemo am 14. Januar setzte die Polizei diverse Gewaltmittel gegen Demonstrierende ein: Pferde und Hunde, Wasserwerfer und Pfefferspray sowie unvermittelt und wahllos Schlagstöcke und Faustschläge, die Verletzungen an Kopf, Gesicht und Gliedmaßen bei einer hohen Zahl von Demonstrierenden verursachten.
Der kollektive Ungehorsam der Demonstrierenden am 14. Januar war ein Ausdruck ungebändigter unmittelbarer Demokratie – der unnötigerweise mit vielen Verletzten endete. Außer dem Festhalten an der Allgemeinverfügung gab es keinen Grund, den Schlagstockeinsatz zu befehlen und so massiv gewaltvoll und unverhältnismäßig gegen die Demonstrierenden vorzugehen.
Selbst bei übersichtlichen Situationen wie auf den Versammlungen vom 12. und 17. Januar mit nur einigen hundert Teilnehmer*innen setzte die Polizei Hunde, Pfefferspray und Schlagstöcke ein. Polizeipferde wurden in stehende und sitzende Menschengruppen geritten. Protestierende wurden gekesselt und teilweise über einen längeren Zeitraum ohne Zugang zu Toiletten, Wärmedecken oder medizinischer Versorgung gelassen. Es wurden fast 100 Personen in Verbringungsgewahrsam genommen und 70 Kilometer entfernt ausgesetzt – diese Maßnahme ist im Polizeigesetz NRW nicht vorgesehen.
Die Polizei kompensierte die wenigen und kurzen Gewahrsamnahmen mit immenser Gewalt auf der Großdemonstration und während der Massenaktionen zivilen Ungehorsams: Mindestens acht Personen mussten vor oder anstelle des Polizeigewahrsams mit Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden. Die Demo-Sanitäter*innen berichten von weitaus mehr Fällen und insbesondere von Verletzungen am Kopf (Platzwunden, gebrochene Nasen, ausgeschlagene Zähne), welche nur durch gezielte und potentiell lebensbedrohliche Schläge von der Polizei entstanden sein können.
Es ist davon auszugehen, dass die Polizei systematisch – und nicht nur in Einzelfällen – direkt auf den Kopf von Versammlungsteilnehmer*innen schlug. Eine brutale und aggressive Polizeistrategie bei großen Versammlungen ist das Gegenteil von Deeskalation.
Maßnahmen nach Polizeigesetz, Versammlungsgesetz und Strafprozessordnung
Bei mindestens sieben Personen ordnete die Polizei innerhalb weniger Stunden das 7-tägige Gewahrsam zur Feststellung der Identität an, welches nach dem 2018 verschärften Polizeigesetz möglich ist (sogenanntes ‚Lex Hambi‘). In hunderten Fällen wurden Aktivist*innen vor Ort mehrere Stunden von der Polizei festgehalten und – in Lützerath und teilweise auf freiem Feld – erkennungsdienstliche Behandlungen (mobile/fast-ID) und Durchsuchungen durchgeführt.
Nach Informationen des Ermittlungsausschusses waren die häufigsten (Straftat-)Vorwürfe während der Räumung, abgesehen von der Ordnungswidrigkeit der Personalienverweigerung, Landfriedensbruch, Widerstand gegen und tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamt*innen, Vermummung, Verstoß gegen die Allgemeinverfügung (und damit gegen das Versammlungsgesetz NRW) und Hausfriedensbruch.
Die beabsichtigte abschreckende Wirkung des Versammlungsgesetzes von NRW, welches beispielsweise das Tragen von weißen Anzügen oder Schlauchschals verhindern sollte, ist offenbar nicht eingetreten. Stattdessen haben sich viele mutige Menschen nicht davon abhalten lassen, ihre Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen.
Kooperation zwischen Polizei und RWE
Indem die schwarz-grüne Landesregierung und die Polizei das Eigentumsrecht des RWE-Konzerns über die Grundrechte von Zivilgesellschaft und Medien stellten, machten sie sich zu Handlangern eines Energiekonzerns. Besonders sichtbar wurde dies unter anderem an den folgenden Punkten:
Die Polizei nutzte nicht nur den Maschinenpark von RWE, um Räumungen durchzuführen und um Gefangene zu transportieren. Sie nutzte den Tagebau auch, um sich einen Weg zum Dorf zu verschaffen. Zudem errichtete RWE einen Zaun, ließ ihn durch einen Wachdienst bewachen und unterband Protest. Darüber hinaus forderte der Konzern die Akkreditierung für Presse und Beobachter*innen und ließ den Zugang nach Lützerath durch Polizei und seinen Wachdienst kontrollieren.
Während der Räumungsphase entstand der Eindruck, dass nicht die Polizei das Tempo vorgab, sondern die RWE Power AG. Dabei verteidigte die Polizei mit brutaler Gewalt ein Privatgelände, das zu großen Teilen zudem nicht als solches gekennzeichnet war.
Der Tunnel der Aktivist*innen „Pinky“ und „Brain“ wurde von der Polizei in die Verantwortung von RWE gegeben. Die technisch schwierige Räumung wurde dafür zur „Rettung“ umdefiniert. Dabei hätte auch die Polizei selbst externe Stellen beauftragen können, die Räumung durchzuführen.
Politische Legitimation der Polizeigewalt in Lützerath
Politik- und Polizeiführung schufen mit ihren Ankündigungen zur erwarteten Gewaltbereitschaft der Demonstrant*innen im Vorfeld eine Atmosphäre der Unsicherheit. Dies dürfte auch die Bereitwilligkeit von Polizist*innen zur Anwendung unmittelbarer Gewalt erhöht haben.
Mit der Rechtfertigungsrede von Innenminister Herbert Reul im Innenausschuss vom 19. Januar zum Polizeieinsatz in Lützerath wurde eine abschließende Erzählung geschaffen, die die Polizeigewalt als Reaktion auf eine einseitig von Demonstrierenden ausgehende Gewalt legitimieren soll. Die von unzähligen Menschen erlebte und beobachtete systematische Polizeigewalt wurde geleugnet und als „Einzelfälle“ verharmlost. Eine Scheindebatte über Schwerverletzte stellte Demo-Sanitäter*innen als unglaubwürdig dar. Gleichzeitig stellte man das eigentlich Relevante, nämlich die derartige Verletzungen verursachenden Gewaltmittel Schlagstock, Schmerzgriffe und Schläge auf Kopf und Gesicht, Bauch, Schlüsselbeine und Rücken, nicht in Frage.
Die Sitzung im Innenausschuss zielte auf einen Abschluss des Themas Lützerath. Und während es die Aufgabe eines Parlamentes wäre, die zuständigen Ministerien und die Polizei in Verantwortung zu halten, nahmen alle Parteien die Darstellungen hin und hinterfragten weder Ablauf der Räumung noch Umgang mit Versammlungen ernsthaft. In der Medienberichterstattung fand die übermäßige Polizeigewalt bei der Großdemo am 14. Januar zwar ihren Platz, aber als empörende Ausnahme wurde sie nicht grundsätzlicher problematisiert.
Völlig ausgespart wurden Fragen nach einer Bewertung der Polizeigewalt während der gesamten Räumungstage, und – noch wichtiger: Eine Auseinandersetzung mit dem Thema Polizeigewalt als inhärentem Teil des polizeilichen Gewaltmonopols.
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