DER ENGEL IST EINE FRAU – UND HEIßT GABRIEL

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“Time Slips” –  mit Demenz Bilder neu entdecken

Ein Gruppe ziemlich älterer Menschen –  mit ein paar jüngeren mittendrin –  sitzt locker im Herzog-Anton-Ulrich-Museum (HAUM) vor dem Bild “Die Verkündigung an die Hirten”  des spanischen Barock-Malers Mateo Gilarte.

Mateo Gilarte (1625-1675), Die Verkündigung an die Hirten, (c) Herzog Anton Ulrich-Museum, Michael Lindner

Oft selbstbewußt, manchmal auch leise und nach Worten suchend, immer aufmerksam und engagiert bei der Sache, beschreiben die Teilnehmenden mit  Worten und Sätzen das Geschehen auf dem Gemälde:

“Der Engel ist eine Frau und heißt Gabriel.”

 “Er ist gerade gelandet.”

“Er hat ein Konzept aus dem Himmel mitgebracht. “

“Er verkündet: “Freuet Euch, fürchtet Euch nicht”

“Wenn er das alles gesagt hat, sollen die Hirten suchen und er fliegt wieder in den Himmel zurück”

Manchmal schauen die vorsichtig vorbeigehenden Museumsbesucher vielleicht auch etwas erstaunt auf die eher grauhaarige Gruppe, die sich da intensiv und konzentriert mit dem Verkündigungsbild beschäftigt und die Phantasie dabei spielen lässt.

Möglicherweise fragen sich die diskret neugierigen Besucher, wer da wohl in dieser besonderen Truppe sitzen mag – vielleicht,  weil sie gerade gehört haben, dass die Teilnehmer – moderiert von Simone Weiss – gerade beschlossen haben, dass der Engel eine Frau ist und jetzt darüber diskutieren, wie der Herr hinter diesem Hund, der gerade so skeptisch die Engel anschaut, wohl heißen könnte. Man einigt sich dann auf Jacob-David-Joseph.

Moderatorin Simone Weiss mit Teilnehmern im Städtischen Museum Foto Ambet (c) Klaus G. Kohn, BS

Vielleicht fragen sie sich aber auch, warum Simone Weiss immer mal wieder so gar nicht sonderlich kunsthistorischen Fragen in die Runde wirft: “Welchen Beruf könnten die Männer wohl ausüben?” “Wen schaut der Esel an?” “Wenn er reden könnte, was würde er wohl sagen?”

Die Antworten der Teilnehmer werden alle von ihr als gleichwertig akzeptiert, von den “Echoern” wiederholt, von Schreiber*innen “protokolliert” – und am Ende ist eine wunderbar phantastische Geschichte daraus geworden, die der Gruppe dann noch einmal vorgelesen wird.

Alles, was die erstaunten Museumsbesucher gerade erleben, sehen, hören,  ist wohl eines der schönsten und kreativsten Projekte für Menschen mit Demenz.

Es heißt “Time Slips also  Zeitschnipsel” und benennt eine Methode, die  von der amerikanischen Theaterwissenschaftlerin Dr. A. Basting entwickelt wurde. Ziel ist es, an Demenz erkrankte Menschen kreativ zu aktivieren. Die Methode “TimeSlips” nimmt den dementen Menschen mit all seinen Erfahrungen, Erinnerungen und Fantasien in den Mittelpunkt und lässt ihm/ihr freien Raum für das spielerische Aufgehen im bildlichen Geschehen . Die Kunstwerke werden zum Anlass und zum Auslöser für die kreative Beschäftigung mit sich und der Welt.  

Bei “Time Slips” kann jede(r) mitmachen, denn es geht dabei nicht um kunsthistorische Fakten oder Kenntnisse,  sondern allein  um persönliche Eindrücke, Gefühle, Erinnerungen. Und die Entwicklung einer Geschichte.

Dabei gilt: Alles ist dabei wichtig, alles ist richtig.

Simone Weiss ist eine in der Methode “TimeSlips”  ausgebildete und zertfizierte Moderatorin, die in Workshops und konkreter Arbeit ihr Wissen und ihre Erfahrungen weitergibt.

Die Gruppe wird stets begleitet von ehrenamtlichen jungen und älteren Helfern, den “Schreiber*innen” und den “Echoern”, ohne die eine erfolgreiche “Schnipsel-Arbeit” nicht möglich wäre.

Simone Weiss und ihr Team sorgen für eine entspannte, freundliche Atmosphäre. Viele Teilnehmende machen regelmäßig mit und man sieht die Freude, die Begeisterung  und die positive Aufregung in ihren erwartungsvollen Gesichtern. Es sind stets offene Fragen, die gestellt werden und die spontan assoziierten und geäußerten Gedanken oder Zwischenrufe – manchmal von den “Echoern” wiederholt und verstärkt, verdichten sich, werden protokolliert von den “Schreiber*innen”,  und runden sich allmählich zu einer eigenen, phantasievollen, gemeinschaftlich erarbeiteten Story.  

Zum Schluss sucht und findet man dann noch einen gemeinsamer Titel für das heutige Werk.

Begeistert schreibt Dr. Sven Nommensen, HAUM Abteilungsleiter Museumspädagogik, über seine Teilnahme: “Es war für mich ein Vergnügen mitzuerleben, welche phantastischen Geschehnisse, welche kuriosen Abenteuer sich entsponnen. Jede der Geschichten birgt das Zeug für ein fabelhaftes Drehbuch oder für die Vorlage für eine neues, unbeschreiblich sagenhaftes Gemälde.”

Der “TimeSlips”– Runde im Museum schließt sich das „Erzählcafè“ im Museums-Café, dem “Bistro Anton´s” an. Hier können die Teilnehmer*innen bei Kaffee und Kuchen ihre Geschichten weiterspinnen oder sogar mit ihrem eigenen Wissen und Erfahrungen noch vertiefen. Oft genug profitiert sogar die konkrete Museumsarbeit, wenn Teilnehmende zum Beispiel darüber sprechen, wie der technische Ablauf war, als ihre Großmutter früher Flachs gesponnen hatte oder jemandem plötzlich der traditionelle, längst vergessenen Spezialbegriff für ein Handwerkszeug wieder einfällt.

Die Teilnehmer an den “TimeSlips”-Gruppen spüren und zeigen eine Wiederbelebung und sogar ein Wachsen ihrer Kreativität und fühlen eine konkrete Steigerung ihres Lebensgefühls und ihrer Lebensqualität. Auch ihre Ausgeglichenheit und ihr Gesamtverhalten verbessern sich merklich.

Das HAUM war von Anfang an ein begeisterterer Förderer des Projektes, das unter Anderem durch Gelder der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz und der Stadt Braunschweig gefördert und unterstützt wird.

Mit zu den Projektpartnern gehören AMBET e.V. Braunschweig, das Augustinum Wohnstift und die Bethanien gGmbH der Ev. Stiftung Neuerkerode. Das Projekt ist offen für alle am Mitmachen  Interessierten in leichten bis mittelgradigen demenziellen Stadien. Angehörige der Teilnehmer*innen sind natürlich ebenfalls herzlich willkommen.

An den Gruppen nehmen immer wieder auch Auszubildende in der Altenpflege und Studierende teil. Die Mitarbeit hilft ihnen, eigene Unsicherheiten im Umgang mit dementiell Erkrankten abzubauen, deren Ressourcen neu zu sehen und das große Wissen und die oft verborgene Kreatitivät der Teilnehmenden aktiv wahrzunehmen.

Kultur trotzt Demenz (Foto: Website https://kultur-trotzt-demenz.de/)

Die Diplom-Sozialpädagogin und Diplom-Sozialarbeiterin Simone Weiss ist eine der erfahrensten unter den zertifizierten Time-Slips-Moderator*innen in Deutschland. Außergewöhnlich aufgeschlossen für Kunst und Kreativität als Bestandteil ihrer Arbeit, hat Simone Weiss auch eine  Ausbildung Gestalttherapeutin und als Clownin erfolgreich abgeschlossen. Sie war viele Jahre Lehrende an der Ostfalia Hochschule für Angewandte Wissenschaften, wo sie u.A. Biografiearbeit und Improvisationstheater gelehrt hat.

Weitere Informationen und Links finden sich hier: https://kultur-trotzt-demenz.de

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