Aufrüstung oder Diplomatie? Wege zu Frieden und Sicherheit.

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Von Elke Almut Dieter

Am 3. April anlässlich der Goslarer Friedensgespräche hielt Michael Graf von der Schulenburg einen Vortrag in Goslar. Sein Thema: „Aufrüstung oder Diplomatie? Wege zu Frieden und Sicherheit.“ Michael von der Schulenburg ist einer der erfahrensten internationalen Konfliktberater, hat  Friedens- und Entwicklungsmissionen bei den Vereinten Nationen und bei der OSZE geleitet.

Der nachfolgende Bericht fasst den Inhalt des Vortrags zusammen:

  1. Teil: Das Völkerrecht – Ursprünge und heutiger Stand

Von der Schulenburg erinnert an das schlafwandlerische Schlittern Europas in den 1. Weltkrieg, weist darauf hin, dass den meisten Menschen hier der Kern des Ukrainekriegs nicht bekannt ist: die dahinterstehenden Interessen. Dass beide Parteien nur ihre jeweiligen Narrative verbreiten.

Worum geht es?

Für Schicksalsfragen wie den Weltfrieden ist die Ordnung entscheidend, die in Verträgen und in der UN-Charta festgelegt ist. Die 1945 erarbeitete Charta ist ein Dokument, das nach zwei verheerenden Weltkriegen weitere Kriege verhindern und die Menschlichkeit in den Mittelpunkt stellen sollte. Die USA haben die Charta unterschrieben, danach aber 143 Kriege geführt.

1990, am Ende des Kalten Krieges, wurde die Charta von Paris geschaffen – mit dem Ziel und der Hoffnung auf ein neues, gemeinsames Europa.

Heute haben wir die längsten und blutigsten Kriege seit dem 2. Weltkrieg, keine diplomatischen Ansätze, keine ernsthaften politischen Lösungen zu ihrer Beendigung.
Ein Grund ist: Mit dem 1991 erfolgten Zusammenbruch der Sowjetunion hat die Charta ihre Basis verloren. An die Stelle trat die US-Doktrin der militärischen Durchsetzung einer auf dem US-Konzept von Demokratie beruhenden staatlichen Ordnung weltweit.

1997: The New Century

Das „Project for the New American Century“ war eine neokonservative amerikanische Denkfabrik mit Sitz in Washington, D.C. Es wurde im Frühjahr 1997 als nicht kommerzielle Ausbildungsorganisation mit dem Ziel gegründet, für weltweite Führerschaft der Vereinigten Staaten von Amerika zu werben. Bill Kristol, der Begründer, griff Fukuyamas Parole vom „Ende der Geschichte“ auf.

Der Ansatz beruhte auf 3 Grundgedanken:

  1. Was für Amerika gut ist, ist für die Welt gut
  2. Forderung des amerikanischen Verteidigungsbudgets auf 4%
  3. Zum Erreichen dieser Welt müssen wir militärisch aktiv werden

Bush, Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz, Perle und die übrigen Neokons standen hinter diesen Zielen (Wolfowitz-Doktrin). „The National Security Strategy“ (NSS, auch bekannt als Bush-Doktrin) der Vereinigten Staaten von Amerika vom September 2002 ist Teil regelmäßig ergänzter und überarbeiteter Berichte zur außenpolitischen Nationalen Sicherheitsstrategie, die von der US-Regierung dem Kongress vorzulegen sind.

Der US Kongress berichtete in seinem Report 22 von 251 militärischen Operationen in 10 Ländern – die Regime Changes in der Ukraine und im Jemen nicht mitgerechnet – Alle endeten im Chaos, im Leiden, in zerschlagenen Staaten – aber mit 700 US amerikanischen Militärbasen weltweit. Die Idee der Pax Amerika ist gescheitert. Die UN-Charta wurde ausgehebelt, ihre Souveränität beschädigt. In der unilateralen Welt erkannte man keine Verträge mehr an. Jeder interpretiert sie nach seinem Gusto. Es führte zur Aufgabe des vertraglich begründeten Völkerrechts.

Die NATO wurde 1994 von einem Verteidigungsbündnis zu einem Angriffsbündnis mit Out of Area Einsätzen, von denen 239 illegal waren – durch den UN-Sicherheitsrat nicht genehmigt.

In dem 2016 heraus gegebenen Bundeswehr-Weißbuch der BRD wurde die UNO-Charta noch nicht einmal erwähnt, Einsätze wurden nur an die parlamentarische Zustimmung gebunden, nicht ans Völkerrecht. Auch der Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde nicht erwähnt, in dem sich Deutschland verpflichtet, keinen Soldaten ins Ausland zu schicken, keine Verfügung über Atomraketen zu haben. Von der Schulenburg lud dazu ein, diese Verträge einmal nachzulesen. Deutschland ist gerade im Begriff, atomwaffenfähige F35-Bomber anzuschaffen. Wenn sie dann, wie geplant, mit Atombomben bestückt werden, ist das ein Bruch des Völkerrechts durch Deutschland.

Bereits 3 Wochen nach Inkrafttreten der UN-Charta, die auch die USA unterschrieben haben, führten sie die ersten Atombombentests in der Wüste von Nevada durch: Diese Ambivalenz des US-amerikanischen Handelns zeigt sich bis heute an der Entwicklung der Waffensysteme: Tarnkappenbomber, Überschallraketen, Kriegführung im Weltall, Cyberkrieg, Modernisierung der Atomwaffen zu „intelligenten“ Atombomben…

Das Problem: Grundsätzlich erfolgt die Einhaltung des Völkerrechts auf freiwilliger Basis. Es gibt keine Sanktionen bei Nichteinhaltung. Es geht darum, dem anderen zu versichern, dass man keine Kriege will. Es gab Verträge wie das Open-Sky-Abkommen, das die eigene Offenheit der anderen Seite zeigte, um Missverständnisse – Krieg aus Versehen – zu vermeiden.

Seit 2001 sind alle Rüstungsbegrenzungs-Verträge gekündigt, bzw. nicht verlängert oder nicht ratifiziert worden – außer den Salt II-Verträgen (später durch START I abgelöst, inzwischen ausgesetzt).

Aus beidem – Missachtung von UN-Charta und 2+4-Vertrag sowie Kündigung / Aussetzung aller wesentlichen Rüstungskontroll-Verträge – resultiert: es gibt kein funktionierendes Völkerrecht mehr. Wir leben heute in einer viel gefährlicheren Welt als im kalten Krieg. China ist der einzige Staat, der die UN-Charta nicht gebrochen hat.

Die Welt hat sich jedoch verändert: Die BRICS-Staaten sind inzwischen stärker als die G7. Afghanistan hat gezeigt, wie hohl die Macht des Westens ist. Die Taliban brauchten keine drei Tage, um die Macht wieder zu übernehmen, nachdem die NATO-Truppen abgezogen waren. Die US-instruierte und -bewaffnete afghanische Armee hat nirgends ihre Waffen gegen die Taliban erhoben und ist stattdessen geflüchtet.

  1. Teil: Die Ukraine und das Völkerrecht

These: Der Ukrainekrieg ist ein völkerrechtswidriger unprovozierter Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine…

Dazu sagt Von der Schulenburg:

Richtig ist: Das Völkerrecht verbietet militärischen Angriffe auf andere Staaten.

Richtig ist: Die Charta gibt allen Staaten das Recht auf Selbstverteidigung.

Die UN -Charta geht aber noch weiter: Wenn Kriege ausgebrochen sind, verpflichtet sie die Staaten zu verhandeln. Russland hatte eindeutig eine Rote Linie gezogen: die Ausweitung der NATO ins Schwarze Meer und in die Ukraine. Vor dem Einmarsch in die Ukraine hatte Russland Gesprächs- und im Dezember 2021 auch Vertragsangebote an die NATO und an die USA gemacht. Beide haben darauf nicht geantwortet. Stattdessen hat die USA die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als nicht verhandelbar bezeichnet.

Sofort nach Ausbruch des Krieges haben Russen und Ukrainer in Istanbul verhandelt. Die Ukraine hat ein 10-Punkte-Programm aufgestellt, und Putin hat das akzeptiert.

Am 24. März 22 gab es einen Sondergipfel der westlichen Staaten mit dem Ergebnis: Mit Russland gibt es keine Verhandlungen, solange es seine Truppen nicht aus der Ukraine abzieht.

Am 27. März sprach Selenskyj in einem Interview über ein Abkommen mit Russland, das bei Neutralität der Ukraine die Einheit der Ukraine zusichert. Schulenburg nennt es eine Meisterleistung der ukrainischen Diplomatie, da sogar der Friedensvertrag darin enthalten war. Die Ukraine gab nichts ab, die Krim wurde aus dem Vertrag herausgenommen, um innerhalb eines Zeitraums von 15 Jahren eine Lösung dafür zu finden. Die Lösung über den Donbass sollten die beiden Präsidenten miteinander ausmachen, zitierte Schulenburg. Mit dieser Lösung wären beide Kriegsparteien einverstanden gewesen.

Am 17. März gab es ein Interview in Russland, in dem Putin ankündigte, die Truppen aus Charkiw zurückzuziehen.

Der damalige britische Premier Boris Johnson verhinderte diesen Vertrag mit der Drohung: Wenn ihr ihn unterschreibt, wird Euch der Westen nicht mehr unterstützen. Damit hat der Westen die UN-Charta schuldhaft gebrochen, indem er den Frieden verhindert hat.

Das Recht auf Selbstverteidigung darf nicht zur Selbstzerstörung führen. Selbst die CIA und ein US Think Tank, das Quincy Institute, erklären: Wenn wir jetzt nicht verhandeln, wird die Ukraine zusammenbrechen. (The Martin Luther King, Jr. Center for Nonviolent Social Change)

Das Recht auf die freie Wahl eines Militärbündnisses: Von der Schulenburg weist auf das OSZE-Dokument von Istanbul 1999 hin. Es regelt die Sicherheit von Staaten als gemeinsame Sicherheit:

Die Europäische Sicherheitscharta ist ein internationales Abkommen für den Erhalt und die Sicherung der friedlichen Ordnung in Europa. Sie wurde am 19. November 1999 in Istanbul als Schlussdokument des OSZE-Gipfelkonferenz von 55 europäischen, asiatischen und amerikanischen Staaten verabschiedet. .. siehe unten*

Ein unprovozierter Krieg?

Es gibt illegale Taten, Kriegsverbrechen. Aber die Frage der Verantwortung für den Ukrainekrieg ist komplexer: Es geht dabei um die Ausweitung der NATO. Russland sieht das als vitale Gefahrenlage. Es gibt moralische Argumente. Von der Schulenburg warnte aber: Wer einen Krieg rechtfertigen wolle, argumentiere meist moralisch. Wer die Lösung eines Konflikts wolle, suche nach einem Interessen-Ausgleich. Für das Erreichen von Verhandlungen spiele Moral keine Rolle, sondern nur 2 Dinge:
1. Das Kräfteverhältnis, also die Lage auf dem Schlachtfeld. Und:
2. die Interessen – was wollen die beiden Seiten. Also Einflusssphären, Ressourcen, Sicherheit…

Afghanistan sei eine Warnung an die veränderte, neue Welt. Er zitierte ein afghanisches Sprichwort: „Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit!“ (Artikel von von der Schulenburg: Frieden im Glashaus) Nach Abzug der US-Amerikaner dauerte es nur drei Tage, bis die Taliban die Macht wieder übernahmen. Die von westlichen Militärs ausgebildete, bezahlte und bewaffnete afghanische Armee hat sich sofort ohne Kampf ergeben.

Putin hat die Einhaltung der Charta von Paris von 1990 eingefordert, der Westen hat von Anfang an systematisch dagegen verstoßen.

  1. Teil: Europa in Gefahr

Fast alle aktuellen Kriege (insbesondere in der Ukraine und im Nahen Osten) liegen wie ein Gürtel um Europa herum, sind in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Europa ist fragmentiert, ist keine geeinte Superpower, auch nicht militärisch. Verhandlungen sind für uns ohne Alternative.

Wie soll die Ukraine gewinnen? Mit immer mehr Waffenlieferungen, mit Soldaten aus Frankreich? Das verbale Aufrüsten ist Schaumschlägerei. Für Europa ist ein Verhandlungsfrieden entscheidend.

Der globale Süden ist an dem Krieg nicht interessiert. Es unterstützt Russland und nicht Europa, das in seinen Narrativen gefangen ist. Europa braucht Frieden – wie in der Charta von Paris festgelegt. Eine Ausdehnung des Krieges ins übrige Europa wäre verheerend – mit den Atombomben in Büchel. Wir brauchen wieder Rüstungskontrollen. Die Politik und das Weißbuch verändern! Das Völkerrecht gilt weltweit – die UN-Charta muss wieder zur vollen Geltung kommen und unterstützt werden.

Von der Schulenburg fordert Realismus:

Wenn Trump die Wahl in den USA gewinnt, wird er Europas Krieg nicht unterstützen. Ihn uns nur bezahlen lassen.
China führt bereits im Stillen Verhandlungen im Ukrainekrieg, mit einem Team. Sie haben auch erfolgreiche Verhandlungen zwischen den Erzfeinden Saudi-Arabien und Iran erwirkt.
Die USA und Europa sind ausgeschlossen. Mit unserer jetzigen Politik bringen wir uns selbst um. Wir brauchen die anderen für den Handel, für unsere Existenz
Von der Schulenburg erinnerte abschließend an Martin Behaim, der im 15.Jahrhundert den ersten Globus** erstellen ließ und die Portugiesen brauchte, um an die Karten zu kommen.

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* 8. Jeder Teilnehmerstaat hat dasselbe Recht auf Sicherheit. Wir bekräftigen das jedem Teilnehmerstaat innewohnende Recht, seine Sicherheitsvereinbarungen einschließlich von Bündnisverträgen frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu verändern. Jeder Staat hat auch das Recht auf Neutralität. Jeder Teilnehmerstaat wird diesbezüglich die Rechte aller anderen achten. Sie werden ihre Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen. Innerhalb der OSZE kommt keinem Staat, keiner Staatengruppe oder Organisation mehr Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Stabilität im OSZE-Gebiet zu als anderen, noch kann einer/eine von ihnen irgendeinen Teil des OSZE-Gebiets als seinen/ihren Einflussbereich betrachten.

** Der Behaim-Globus, auch Martin Behaims Erdapfel genannt, ist der älteste erhaltene Globus von der Erde. Er hat einen Durchmesser von 51 cm und wurde ca.1492–1493 im Auftrag des Nürnberger Rates von verschiedenen Handwerkern unter der Anleitung Martin Behaims gefertigt. Der Globus wird heute in Nürnberg im Germanischen Nationalmuseum ausgestellt. Er ist eines der letzten kartographischen Werke, die die damals bekannte Welt vor der Wiederentdeckung Amerikas im Jahr 1492 darstellen.


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