Sexuelle Gewalt an Kindern ist eine Form von Folter. Interview mit Helen Simon

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Helen Simon, die Regisseurin von „Nirgendland“

Die Welt ist derzeit besonders kompliziert: Kriege, Flüchtlingsdramen, Terrorismus, Überwachung durch NSA und BND … Sexuelle Gewalt an Kindern ist auch schlimm, aber man kann sich nur auf wenige Themen konzentrieren. Warum sollte ich mir den Film ansehen?

Dass was von der Ferne auf uns einwirkt ist beängstigend. Ich würde die Themen nicht gegeneinander aufwiegen wollen. Es geht also weniger um die Quantität der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, als vielmehr um die Qualität der Auseinandersetzungsmöglichkeiten, die wir haben. Wir müssen unsere Quellen sorgsam wählen. Filme, die uns die Möglichkeit geben das Abstrakte und Bedrohliche zu erleben, zu erfahren was Kriege, Terrorismus oder wie im Fall Nirgendland sexuelle Gewalt für uns persönlich bedeutet sind rar. Solche Filme eröffnen uns Räume, in denen wir tief berührt unser Leben bereichern dürfen. Nirgendland gibt uns diese Möglichkeit. Zwar ist es schmerzhaft, was wir erleben, aber es wird dadurch authentisch und echt für uns. Eine Erfahrung, die wir in unserer heutigen doch sehr abstrakten und diffusen Zeit brauchen.

Können Sie statistische Aussagen zum Thema machen? Wie hoch schätzt man den Anteil Familien in Deutschland, in denen Missbrauch an Kindern vorkommt, und wie hoch ist der Anteil davon, der juristisch verfolgt wird?

Es gibt keine wirklich stichhaltigen Statistiken. Ein Versäumnis mit weitreichenden Folgen, welches das Schweigen und Verdrängen unter dem wir leiden, bestätigt und verstärkt.

Der sexuelle Missbrauch, der hier thematisiert wird, erfolgt an Kindern. Es braucht eine lange Zeit, meist langwierige Therapien, ehe diese in der Kindheit durchlebten Schrecken als Missbrauch wahrgenommen werden. Nach maximal 30 Jahren in besonders schweren Fällen aber ist dieser juristische Tatbestand „sexueller Missbrauch“ in Deutschland verjährt. Ist Ihnen bekannt, ob es ernstzunehmende Anstrengungen gibt, diesen Zeitraum zu entfristen?

Es gibt diverse Bemühungen, doch fehlt die gesellschaftliche Debatte gänzlich. Solange wir glauben, dass sexuelle Gewalt an Kindern Einzelphänomene sind und keine weitreichenden Folgen für die Gesellschaft haben, wird sich das nicht ändern (siehe auch fehlende Statistiken).
Wir müssen als Gesellschaft begreifen, dass wir eine grundlegende Aufgabe haben, der wir bisher nur unzureichend nachgekommen sind: dem Schutz von Kindern.

Wie entstand der Titel der Dokumentation? 

Tina singt in Nirgendland ein Text von Masha Kaleko: „Kein Kinderlied“. Dieses Lied behandelt das Gefühl derjenigen, die aus ihrem Leben herausgerissen  und ins „Nirgendland „ verstoßen“ werden, die niemals irgendwo ankommen werden- denen die menschlichen Grundrechte nach Sicherheit, Geborgenheit und Unversehrtheit entzogen wurden. Dieses Nirgendland ist das Land der Traumatisierten. Das Land vor dem wir die Augen verschließen, weil es uns zu sehr an unsere eigenen Narben erinnert, weil es uns zeigt, wie fragil der Mensch ist und wie angewiesen auf andere. Für mich ist „Nirgendland“ das Land der Geister- Stimmen unserer tiefsten Sehnsüchte- Ohne dieses Land jemals betreten zu haben, werden wir meiner Meinung nach das Leben nicht verstehen.

Wie begegnet man dem Thema in unseren Nachbarländern? Wird dort sexuelle Gewalt an Kindern in den Medien thematisiert?

Sexuelle Gewalt wird, soweit ich weiß, überall ähnlich behandelt. Es gibt die mediale Aufbereitung, doch bleibt diese an der Oberfläche hängen. Sie traut sich nicht ins Nirgendland. Das Schweigen und Verdrängen ist ein globales Phänomen.

Sehen Sie Missbrauch überhaupt als das passende Wort für ein Verbrechen, bei dem es um die vorsätzliche Inkaufnahme von Tod oder schlimmsten psychische Schäden, also um Zerstörung eines Lebens geht? Handelt es sich nicht um schwerste Körperverletzung mit lebenslangen Schäden?

Es gibt viele Debatten- ich bevorzuge „sexuelle oder sexualisierte Gewalt“. Missbrauch suggeriert, dass es einen richtigen Gebrauch gäbe. Für mich hat sich herausgestellt, dass sexuelle Gewalt an Kindern eine Form von Folter ist. Und ich verlange, dass es auch so politisch und juristisch behandelt wird.

Wären bei der Richterausbildung an den Universitäten Lehrinhalte zu familiären Gewaltverbrechen zielführend.

Unbedingt! Doch ich würde noch mehr verlangen: Richter müssen in fortlaufender Weiterbildung sein. Und es muss eine Möglichkeit der Qualitätsprüfung geben. 

Wie kann man die Komplizenschaft der Mütter verhindern?

Zuerst ist es wichtig, dass wir uns von dem Ideal der „Mutter“ verabschieden. Es ist ein Tabu darüber zu sprechen, dass Mütter ihrer Aufgabe nicht nachkommen können. Oftmals werden sie moralisch härter bestraft als die Täter selber. Wir müssen die Widersprüche, die Traumatisierungen hervorrufen, aushalten lernen, Empathie lernen. Nur so schaffen wir ein vertrauensvolles Umfeld, in dem sich Mütter öffnen und aus dem System ausbrechen können.  

Sollte man in Schulen über solche Sexualverbrechen sprechen?

Ja, unbedingt!

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