Gegenstandpunkt: Die neueste „Große Gesundheitsreform“

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Der Deutsche Kulturrat äußert sich recht eindeutig, d. h. „entsetzt“. In Braunschweig solle „man zur Kenntnis nehmen, dass das Mittelalter vorbei ist.“

Ebenso die TAZ vom heutigen Tage mit einem Bericht:
„Braunschweigs Oberbürgermeister Gert Hoffmann ist oberster Chef der Stadtverwaltung – und macht von seinen Befugnissen großzügigen Gebrauch in eigener Sache. Weil er die Kritik des bekannten Braunschweiger Satirikers Hartmut El Kurdi nicht mehr hören kann, hat er ihn von der Stadtverwaltung kurzerhand zur Persona non grata erklären lassen: Mitarbeiter der Stadt dürfen nicht mehr gemeinsam mit El Kurdi an Veranstaltungen teilnehmen“ und einem Kommentar: „Majestät sind beleidigt“

Es muss fast erstaunen, aber sogar in der der Braunschweiger Zeitung, das heißt in ihrer Kulturredaktion – die Dr. Gert Hoffmann sonst kaum zu kennen scheint – schwingt einen Tag später sanfte Verwunderung an in einem Bericht und sanfte Kritik in einem Kommentar.

Die Hannoversche Allgemeine bringt ebenfalls einen fast erstaunlichen Bericht: „Die Akte El Kurdi“ – denn es müsste doch wirklich heißen: „Die Akte Dr. Gert Hoffmann“ – mit einer erstaunlichen politischen Symmetrie: „Wie Braunschweigs Oberbürgermeister Gert Hoffmann (links) den kritischen Schriftsteller Hartmut El Kurdi (rechts) aus der Stadt zu drängen versucht.“ …. Leider ist der Artikel nicht zu verlinken.

Auch die FreiePresse – ja, es gibt sie wirklich – meldet sich in der Sache zu Wort.

Und auch die Verwaltung hat dann gestern in einer Presseerklärung Stellung genommen.
Es ginge der Verwaltung gar nicht um die Kunst. Und eben genau da liegt das Problem: es geht Dr. Gert Hoffmann gar nicht um Kunst, es geht um verletzte Eitelkeiten: und getrieben von diesem durchaus unästhetischen Motiv wird denn das Kulturamt und „im Interesse einer gleichmäßigen und transparenten Verfahrensweise aller städtischen Institutionen“ alle anderen städtischen Ämter und Behörden gleich mit, von der Verwaltung angewiesen (d. h. von Dr. Gert Hoffmann), den Künstler El Kurdi zu diskriminieren.
Dazu auch die Stimme eines Mitglieds im städtischen Kulturausschuss zur innerbehördlichen Kehrseite der Diskriminierung:
Dr. Gert Hoffmann nimmt seine ihm untergebenen Behörden für seine persönlichen Animositäten „in Sippenhaft!“

Die neueste „Große Gesundheitsreform“:
Wie bei möglichst geringen Lohnnebenkosten mit der Volksgesundheit ein gutes Geschäft gemacht werden soll – Die Betreuung eines politisch ins Werk gesetzten Widerspruchs

Seit Jahrzehnten wird im deutschen Gesundheitswesen reformiert: Zur Kostendämpfung wurden Praxisbudgets, Arzneimittelfestpreise und Fallpauschalen im Krankenhaus erfunden. Insbesondere für die Kranken halten diese Reformen immer neue Zumutungen bereit: Zuzahlungen bei Medikamenten und Zahnersatz, Praxisgebühren und laufend steigende Beiträge. Allerdings führt all das Reformieren zu keinem Ergebnis, das wenigstens die Regierenden befriedigen würde. Im Gegenteil: Die große Koalition will wieder einmal „das Gesundheitssystem von Grund auf ändern“. Doch das Resultat ihrer ganzen Bemühungen löst schon wieder ein einziges Gejammer aus: eine „Chronik des Totalversagens“ konstatiert der Spiegel, die Süddeutschen Zeitung schimpft über „den fehlenden Mut der Koalitionäre“ und der ehemalige Gesundheitsminister der CSU orakelt, dass „die Reform keine 2 Jahre halten werde“.

Woher rührt bloß diese ganze Unzufriedenheit? – Das liegt zunächst einmal an der 1. Korrekturmaßnahme der Koalition: Beschlossen wurde die Erhöhung der Kassenbeiträge für 2007 um 0,5 %. Es wird also wieder einmal der Beitrag erhöht, um „Löcher im Krankenkassenbudget“ zu stopfen. Natürlich ist für die Reformer dabei nicht das Problem, dass der beschlagnahmte Lohnanteil das Nettoeinkommen der Lohnabhängigen schmälert, sondern dass die Lohnkosten durch die Sozialabgaben verteuert werden – und das wegen des 50%igen Arbeitgeberanteils auch noch mit jeder Steigerung der Krankenkassenbeiträge automatisch. Gerade in Zeiten, in denen infolge von Arbeitslosigkeit und sinkenden Löhnen das Beitragsaufkommen der Krankenkassen immer weiter schrumpft, soll eigentlich vermieden werden, mit Erhöhungen der Beitragssätze das Minus beim Beitragsaufkommen zu decken. Die Politik will die Kosten der Arbeit schließlich senken, um dadurch den Wirtschaftsstandort zu stärken und den Einsatz von Arbeit in Deutschland für Unternehmer lohnender zu machen.
Doch die Senkung der Lohnnebenkosten für Unternehmer und der aus Steuern finanzierten Ausgaben hat auch eine andere Seite: Der Finanztopf der Krankenkassen ist die Grundlage für das Geschäft einer blühenden und auf Wachstum angewiesenen Gesundheitsbranche. So weiß der Spiegel zu berichten: „Längst ist die Gesundheitsindustrie der mit Abstand größte Wirtschaftszweig der Republik.“ (27.06.06)
Angesicht massenhafter Erkrankungen durch Verschleiß am Arbeitsplatz sowie die Vergiftung von Umwelt und Nahrungsmitteln im Sinne der profitablen Nutzung von Land und Leuten durch die Unternehmerschaft hat der deutsche Staat es sich von vornherein zur Aufgabe gemacht, die Herstellung und bedingte Erhaltung der Brauchbarkeit seines Arbeitervolks selbst zu organisieren. Und zwar gleichzeitig als rentable Wirtschaftssphäre, deren Wachstum seitdem vor allem aus den Mitteln der Krankenkassen finanziert wird. Das Resultat ist ein medizinisch, technisch und pharmakologisch hoch entwickeltes Gesundheitswesen, das gesundheitspolitische Vorgaben und kapitalistische Geschäftszwecke gleichermaßen zu erfüllen hat. Das staatliche Medizinwesen hat sich deswegen, bei aller gebotenen Sparsamkeit, keineswegs grundsätzlich für die „billigste Lösung“ entschieden. Vielmehr hat sich der Staat mit so viel Geld, wie er dafür gerade für nötig hält, gleichzeitig zum Förderer, Geldbeschaffer und Aufsichtsführenden für und über die florierende Gesundheitsindustrie gemacht. Nicht nur die Pharmakonzerne bedienen sich aus dem Topf der Krankenkassen; auch die Geräteindustrie und die ständisch-kleinunternehmerisch praktizierenden Apotheker und Ärzte sollen sich bereichern dürfen.
Mit eben dieser Organisation des Gesundheitswesens hat sich die Politik das „Dauerproblem“ geschaffen, an dem sie voller Eifer herumreformiert. Sie hat zwei einander ausschließende Standpunkte in die Welt gesetzt, an deren Vereinbarkeit zu arbeiten, sie nicht müde wird:

  • Auf der einen Seite gilt das unverrückbare Dogma, dass zu hohe Lohn- und -nebenkosten hauptverantwortlich sind für die Konkurrenzdrangsale des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Die Beitragssätze, die den Lohn teuer machen, müssen also sinken. So entstehen die – mühsam herbeiregierten – „knappen Kassen“, die wiederum ganz „natürlich“ erfordern, dass bei den „Leistungen“ gespart und mehr Konkurrenz zwischen allen Leistungserbringern organisiert wird.
  • Andererseits sind aber die Beiträge die Ressource, aus der die Waren und Dienstleistungen der gesamten Gesundheitsbranche versilbert werden. Diese Branche hat wie jede andere ein Recht auf Wachstum, das ihr die Hüter des Standortes auch keinesfalls bestreiten wollen. Ganz im Gegenteil: Das hochmoderne deutsche Gesundheitswesen und seine zuliefernden Industrien, sollen nicht nur den nationalen, sondern am besten gleich den ganzen Weltmarkt bedienen und, soweit möglich, „beherrschen“, damit ihre Geschäfte die nötigen Renditen abwerfen.

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Zitiert aus Quelle:
Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora München jeweils montags
GegenStandpunkt – Kein Kommentar! im Freien Radio für Stuttgart jeweils mittwochs

http://www.gegenstandpunkt.com/

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