DIE LÄNGE DES HORIZONTS – die Künstlerin Kapwani Kiwanga im Kunstmuseum Wolfsburg
Fotografie, Film, Sound, Text, Zeichnung,Installation – zu erleben bis zum 7. Januar 2024
Auf den Besuch dieser Ausstellung sollte man auf jeden Fall Lust haben.
Lust auf Irritation, Lust auf Hintergründiges, Lust auf die Entschlüsselung künstlerischer und sozialer Codes und überhaupt Lust darauf, auch den eigenen Kunstbegriff (möglicherweise) erstmal in Frage zu stellen
Wer darauf aktuell eigentlich keine Lust hat und sich auch ungern irritieren lässt, sollte sich den Besuch gut überlegen – aber vielleicht dann einfach trotzdem hingehen, denn sich ab und zu mal verblüffenden künstlerischen Kraftfeldern und überraschenden Gefühlen und Erkenntnissen auszusetzen ist aufregend und inspirierend.
Ganz bestimmt gehört diese von Uta Ruhkamp (in direkter und aktiver Zusammenarbeit mit der Künstlerin) außergewöhnlich spannend kuratierte Schau aktuell zu den sehenswertesten Kunstausstellungen in unserer Region und weit darüber hinaus.
Beim Rundgang durch die faszinierend-irritierende, weltweit erste institutionelle, umfassende Mid-Career-Retrospektive dieser klugen zeitgenössischen Künstlerin, wird Besucher*in wohl manchmal verblüfft, aber immer auch inspiriert werden – oder irgendwann vielleicht sogar ganz neuen und unbekannten Gedanken-Koordinaten folgen wollen.
Die Pressemitteilung sagt dazu: “Skeptisch gegenüber jeden Kategorisierungen eröffnet Kapwani Kiwanga Möglichkeitsräume und lädt zu einem entgrenzten Denken ein. Auf poetische Art und Weise vermisst und erweitert Kapwani Kiwanga unseren gesellschaftlichen Horizont”
Der Rundgang beginnt schon mal mit einer ziemlich irritierenden Raum- und Farberfahrung – dem Gang durch den Farblichtkorridor pink-blue.
Diese tunnelartige Installation zwingt die Besucher*innen nicht nur in seine strenge Architektur, sondern auch zum sehr persönlichen Erspüren wie Licht und Farben, wie sie im alltäglichen urbanen Kontext und in Disziplinararchitekturen zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden. Diese Arbeit beruht auf farbpsychologischen Untersuchungen. So soll beispielsweise das sogenannte Baker-Miller-Pink eine aggressionsmildernde Wirkung auf Häftlinge haben.
In pink-blue kombiniert Kapwani Kiwanga diesen Pinkton mit dem ebenfalls verhaltensregulierend eingesetzten, fluoreszierenden Blaulicht, das in öffentlichen Räumen den intravenösen Drogenkonsum unterbinden soll, da die Venen in diesem Licht nur schwer lokalisierbar sind.
Kapwani Kiwanga verweist uns so eindrucksvoll auf die überall vorhandenen Disziplinarstrukturen des Alltags.
In der rund 1.800 qm großen Ausstellungshalle setzen sich die zentralen Arbeiten der Künstlerin zu einem sehr pointierten Rundgang durch ihr Werk zusammen.
Farbe, Licht und Material verbindet und verschmilzt die Künstlerin, Filmemacherin, Religionswissenschaftlerin und Anthropologin und erzählt dann damit wahrhaft wirkungsmächtig globale Geschichte(n) aus neuen und überraschenden Perspektiven.
Bei der farbgewaltigen Rauminstallation The Marias (2020) ist es zunächst das leuchtende Gelb der Wände und der Sockel, das die Betrachter*innen in ihren Bann zieht. Thematisiert wird mit den zarten Papierversionen des Pfauenstrauches die toxische Eigenschaft der Zierpflanze. Wie die Naturforscherin Maria Sibylla Merian (1647–1717) in ihrer berühmten Sammlung Metamorphosis insectorum Surinamensium beschreibt, wurde die Pfauenblume von Frauen in Surinam, die im Zustand der Sklaverei lebten, zu Abtreibungszwecken verwendet.
Eigens für ihre Ausstellung im Kunstmuseum Wolfsburg entwickelte Kapwani Kiwanga (black) BLUE HOUR eine acht Meter breite Wandarbeit aus Schattiernetzen. Die farblich variierenden Schattiernetze, mit denen Kapwani Kiwanga ihre sogenannten Shade-Cloth-Arbeiten als Wandobjekte, raumgreifende Installationen und skulpturale Paravents konzipiert, werden eigentlich in der industriellen Landwirtschaft eingesetzt, um Pflanzen besser oder außerhalb ihres ursprünglichen Lebensraums gedeihen zu lassen.
Im übertragenen Sinn stehen die Netze mit ihrer Verschattungseigenschaft so für europäische Kolonialprojekte, bei denen die Ökosysteme in den Kolonien so umgestaltet wurden, dass sie den europäischen besser entsprachen oder landschaftlicher Massenanbau mit hoher Ertragssteigerung möglich wurde.
In Flowers for Africa stellt die Künstlerin Blumen – und Pflanzenarrangemts nach, die auf historischen Fotografien der Unabhängigkeitsfeiern afrikanischer Staaten von ihren Kolonialherren zu sehen sind, wie beispielsweise den riesigen freistehenden Bogen aus geschnittenem Blattwerk zur Feier der Unabhängigkeit von Belgien. Diese echten Arrangements kommen übrigens von lokalen Gärtnereien und Blumengeschäften.
Sehr berührend ist auch die Serie Green Book, die sich auf das historische “The Negro Motorist Green Book” bezieht, ein zwischen 1934 und 1966 veröffentlichter Reiseführer für Schwarze Personen während der sogenannten Rassentrennung (der Film “Green Book – Eine besondere Freundschaft” machte diesen speziellen Reiseführer auch in Deutschland bekannt).
Besucher*in sollte sich (im positiven Sinne) zwischen den Werkinseln treiben lassen, sich viel Zeit nehmen, sich irritieren lassen, versuchen die Werke zu entschlüsseln, zu genießen oder sich auch mal aufregen. Nicht alles muss einem ja auf den ersten Blick gefallen, aber oft ist es auch der zweite oder dritte Blick. Und wenn nicht, hat Besucher*in auf jeden Fall die gerade vielleicht aufregendste Ausstellung im Braunschweiger Land besucht und davon bleibt immer etwas. Garantiert!
Zur Ausstellung bietet das Kunstmuseum Wolfsburg ein ausführliches Begleitprogramm.
Informationen finden sich unter www.kunstmuseum.de/veranstaltungen/kapwani