Von Kerstin Lindner
Die etablierten Parteien versuchen sich in der Mikrationspolitik zu überbieten. Ausländer raus vernimmt man nicht nur von den Biertischen. Dabei geht verloren, dass diese Flüchtlinge in den meisten Fällen in ihrer Heimat lebensgefährlichen Situationen ausgesetzt waren. Soran ist vor dem mordenden Islamischen Staat nach Braunschweig geflohen.
Vor kurzem habe ich Soran kennengelernt. So nenne ich ihn. Aber er könnte auch Azad oder Ali heißen. Er ist Kurde und hat es vor 3 Jahren nach Deutschland geschafft. Bei einem Schluck Tee wollen wir gemeinsam ein kleines Zeitfenster überbrücken. Zaghaft, mühsam, da die fremden deutschen Vokabeln nicht immer zur Stelle sind, beginnt Soran von sich zu erzählen:
Leben mit Behinderung
25 Jahre ist Soran alt und nahe Khanaqin aufgewachsen. Das ist ein Ort mit ca. 175 000 Einwohnern im nordöstlichen Irak nahe der iranischen Grenze in von der kurdischen Regionalregierung beanspruchten Gebieten. Khanaqin ist ca. 4 Autostunden von Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan entfernt. Soran ist bei seiner Großmutter und bei Tante und Onkeln aufgewachsen und nicht bei seiner Mutter in der großen Stadt Erbil. Mutter hatte bereits 5 Kinder und dann meldeten sich noch mal Zwillinge an. So wurde entschieden, dass eines der Zwillinge, um Mutter zu entlasten, in die Obhut von Großmutter gegeben wurde. Vermutlich war Sorans missgestalteter Arm ein Grund für diese Wahl. Der Irak hat 2013 die Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Aber es braucht sehr viel Zeit zu deren Umsetzung. Noch immer gelten Menschen mit Behinderung als minderwertig und werden versteckt. Soran hat einen ganz normal gewachsenen rechten Arm, auf der linken Seite aber hat er einen kleinen kurzen Armstummel. Oft hat er davon geträumt, an einem Ort zu sein, wo er deswegen nicht stigmatisiert wird.
Wirken der Volksmobilisierungskräfte Al-Haschd Asch-Schaabi
Sorans rechter Arm ist stark. Aber auch ein völlig gesunder Soran könnte nichts tun gegen die Schiitischen Milizen, die die Ursache für unterschwellige Angst im Dorf sind, da ihr Wirken willkürlich ist. Nach der Beendigung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der USA und
ihrer Verbündeten gegen den Irak (01.05.2003; George W. Bush) zerfielen die Strukturen des irakischen Staats. Es entwickelten sich bürgerkriegsähnliche Zustände, die 2013 zum Krieg der verbliebenen staatlichen Kräfte gegen den Islamischen Staat (IS) führten. Ayatollah Ali al-Sistani, der zu dieser Zeit einflussreichste schiitische Kleriker im Land, rief deshalb 2014 dazu auf, den Staat bei der Bekämpfung des IS zu unterstützen. Zehntausende Männer (v.a. schiitische, aber auch sunnitische Kämpfer, sowie christliche, turkmenische, jesidische und Schabak-Milizen) folgten dem Aufruf des Klerikers und versammelten sich unter dem losen, sehr heterogenen Dachverband der
Volksmobilisierungskräfte (Al-Haschd Asch-Schaabi – PMF). Heute (10 Jahre nach deren Gründung) ist der PMF eine von der Regierung
anerkannte Sicherheitskraft (deren Mitglieder zu Teilen Sollt vom Staat erhalten), die strategische Gebiete im Irak kontrolliert und dessen Aktivitäten bis in die Kurdengebiete reichen. Die Bürger haben Angst vor dem PMF, da er seine Vorrechte missbraucht, sich (Maffia-ähnlich) zu einer autarken Kraft zum staatlichen Sicherheitsapparat entwickelt hat und u.a. konfessionell motivierte Strafaktionen durchführt.
Religion
Soran ist kein Moslem wie 97 % der irakischen Bevölkerung. Er gehört der Religionsgemeinschaft der Ahl-e Haqq (Yarsan oder auch Kaka’i) an (den Menschen der Wahrheit Gottes), die schiitische Facetten und solche des Jesiden- und Alevitentums in sich vereinen und die nicht in der Islamischen Republik, wohl aber in der autonomen Republik Kurdistan, eine anerkannte Religion ist. Trotz allem ist es beunruhigend, zu einer religiösen Minderheit im Irak zu gehören.
Islamischer Staat
Am schlimmsten aber – lebensbedrohlich – sind die noch immer im Irak agierenden Gruppen des IS. Der IS wurde 2017 im Irak in der Fläche besiegt. Trotzdem bleibt er als terroristische Organisation eine Gefahr und in der Lage, landesweit Anschläge zu verüben. Insbesondere in den zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der kurdischen Regionalregierung in Erbil umstrittenen Gebieten ist ein Sicherheitsvakuum entstanden. Dort sind Elemente des IS im Untergrund aktiv. Vor 4 Jahren hat der IS Sorans Dorf überfallen. Bei diesem Anschlag sind viele seiner Bekannten getötet worden. Er selbst konnte sich retten. Noch immer gehören solche Anschläge zum irakischen
Alltag.
Fluchtweg
2021 hat sich Soran entschieden, den Weg über die Belarus-Route zu wagen, um nach Deutschland zu kommen. Mit der Hilfe des Internets, das ihm zum entsprechenden Reisebüro geleitet hat, erhielt er das Visum für Belarus sowie Tickets für den Flug über Dubai nach Minsk für 3000 Euro. Ab dann wurde es konspirativ. Eine kurdische Familie mit mehreren Kindern bezogen ihn in ihren Familienverband ein und übergaben ihm die Verantwortung für den kleinsten Spross der Familie während der Flucht über die polnische Grenze, so dass Soran von den bereits erfolgten Absprachen der Familie mit einem Schleuser partizipieren konnte. Wobei die Familie immerhin noch einen Obolus von 1500 Euro für das gesamte Unternehmen von Sora einforderten. Eine Woche war vergangen, in der er mit der Familie und weiteren ca. 50 Flüchtenden in Grenznähe gelangte. Von hier begann eine 4-tägige Odyssee zu Fuß zur polnischen Grenze unter Führung eines Schleusers. Die Nacht verbrachte Soran im Schlafsack im Wald. Und dann war die Grenze erreicht. Die Drahtzäune wurden sorgfältig in der Nacht mittels Scheren von den Flüchtenden geöffnet.
Der Gruppe, der Soran und das Kind angehörten, gelang es aber nicht, unbemerkt zu bleiben. Eine Menge schier unübersehbarer polnischer
Grenzschützer attackierten die Menschen mit Pfefferspray und setzten einen Pushback nach Belarus durch. Beim Zurückdrängen wurde Soran an Kopf und Arm verletzt. Der Körper schmerzte, die Augen brannten fürchterlich.
Gebannt schaue ich auf Soran. Mittlerweile ist das 3. Glas Tee gelehrt und der geplante Termin verstrichen, aber ich kann mich nicht von seinem Mund lösen.
Ca. die Hälfte der Flüchtlinge war nach diesem ersten Versuch nicht mehr in der Lage, eine weitere mögliche Grenzübergangsstelle zu erlaufen. Soran und sein Mündel schlossen sich jedoch einem wiederholten Grenzübergangsversuch mit Schleuser an. Und in dieser Nacht gelang das Unternehmen. Ein Schleuser auf der polnischen Seite empfing die Flüchtenden barsch. Soran wurde der Schlafsack entrissen. Er konnte sich nicht wehren, da er das Kind zum Schutz fest an seine Brust drückte. Das den Flüchtenden in Aussicht gestellte Fluchtauto ließ auf sich warten. Weitere 2 Nächte verbrachte Soran mit dem Kind, nun ohne Schlafsack, auf dem bloßen Waldboden. Am 3. Tag nahm sie ein Auto auf. Nach kurzer Fahrt hielt das Auto jedoch. Die Angst überwältigte den Fahrer. Die Insassen mussten den Wagen verlassen. Der Fahrer floh. Endlich, nach einem weiteren langen Tag, gelang es, Kontakt zu einem zweiten Fluchtfahrzeug aufzunehmen.
Ankunft in Deutschland
Nach einer 8-stündigen Fahrt erreichten die Flüchtlinge Bautzen. Hier wurde die kleine Notgemeinschaft aufgelöst. Die Familie, nun wieder mit dem kleinsten Spross vereint, fuhr nach Dresden. Nächste Stationen für Soran war Braunschweig. Von hier gelangte er in das Ankunftszentrum Bad Fallingbostel (17 Tage Quarantäne wegen Corona), dem folgte ein Aufenthalt in Osnabrück (1 Monat-Flüchtlingsunterkunft mit Interview) und ein zweiter Aufenthalt in Lingen (3 Monate). Heute hat er eine Wohnung in Braunschweig, absolviert einen Sprach- und Integrationskurs, ist in der Freiwilligenagentur für Jugend, Soziales und Sport tätig und hat eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Wenn alles gut geht, sagt er, wird er ab 2025 als Handwerker in Braunschweig arbeiten und hoffentlich eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für Deutschland erhalten.
Ich wünsche ihm alles Gute und viel Glück für sein Leben in Braunschweig.