Vollbremsung oder Klimacrash?

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Grafik: Gerhard Mester/​Wikimedia Commons

Karikatur: Gerhard Mester/​Wikimedia Commons

Von Jürgen Tallig

Das Zeitfenster zur Begrenzung der Klimakatastrophe schließt sich

Die Menschheit befindet sich in einer Vielfachkrise und bewegt sich mit weit offenen Augen Richtung Katastrophe.

Zig Milliarden werden für eine sich ausweitende Spirale der Zerstörung und des Tötens ausgegeben und fehlen woanders, um Leben zu retten und zu schützen und die eskalierende Klimakatastrophe einzudämmen.

Wissenschaftler sprechen längst von Alarmstufe Rot, vom „Klima-Endspiel“, einem beispiellosen Artensterben, einem globalen Notstand, vom vielfachen Überschreiten planetarer Grenzen, von drohenden Kippprozessen und fordern einen sofortigen Kurswechsel, um die Verpflichtungen des Pariser Klimaabkommens und des Artenschutz-abkommens einzuhalten und eine weitere Eskalation der globalen Katastrophe zu verhindern.

Doch die zukunftsbedrohende Vielfachkrise der Menschheit verschwindet hinter einem Schleier von symbolischer Politik und wird übertönt vom üblichen Klappern der „Megamaschine“ mit seinem Mantra von unendlichem Wachstum und Fortschritt.

Die Klimaschreckensmeldungen aus aller Welt und die immer ernsteren Mahnungen und Warnungen der Wissenschaft und der Klimaberichte erreichen immer nur kurz die mediale Oberfläche, um sofort wieder in einem Meer von populistischer Manipulierung, Tagespolitik, Kriegsberichterstattung und kunterbunter Abstumpfung zu versinken.

Optimismus beruht bekanntlich auf Mangel an Information und auf dem Übermaß an nicht relevanten Informationen. Die Stimmen des fossilen „Weiter so!“ sind noch viel zu laut in der Gesellschaft und die Macht der Fossill-Lobby scheint ungebrochen.

Weder die Gesellschaft, noch die Politik haben scheinbar den wirklichen Ernst der Lage begriffen, siehe die Gemeinsame Erklärung von Wissenschaftlern, Klimaaktivisten und Bürgerrechtlern zur Räumung von Lützerath, geschweige denn, dass man zu einem wirklichen Kurswechsel bereit wäre.

Darauf angesprochen, dass die derzeitige Politik die Klimaziele missachte (vor allem im Verkehrssektor) und daher rechtswidrig sei, äußerte Minister Habeck, dass es dann künftig höhere negative Emissionen geben müsse und offenbarte damit eine fahrlässige Unkenntnis der naturwissenschaftlichen und juristischen Faktenlage.

Statt das Klimagesetz einzuhalten, wird es geändert

Die Aktivisten der Letzten Generation, mit denen wir solidarisch sein sollten, weisen mit ihren spektakulären Aktionen vor allem auf die Fortführung einer rechtswidrigen, unverantwortlichen Verkehrspolitik hin, die fortwährend gegen die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes verstößt. Mittlerweile hat der BUND, der größte Umweltverband Deutschlands, wegen Nichteinhaltung des Klimagesetzes Klage gegen die Bundesregierung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingelegt. Es ist höchste Zeit, zu klären, wer hier eigentlich die Gesetzesverletzer sind.

Die Reaktion der Bundesregierung bestand in der Änderung des Klimaschutzgesetzes. Bewertungsgrundlage ist jetzt nur noch das CO₂-Gesamtbudget, so dass sich einzelne Bereiche wie der Verkehr nicht mehr verantworten müssen. Welch klimapolitischer Offenbarungseid! Das sind offensichtlich Taschenspielertricks. Es gilt unverändert die Taktik: Ausweichen und auf die lange Bank schieben.

Gleichzeitig spekuliert man über massive Subventionen für energieintensive Industrien und die Grünen erweisen sich immer mehr als Lobbyisten für Konzerninteressen und nicht als Klimaschützer,- obwohl der Klimawandel längst unübersehbar aus dem Ruder läuft und sich zusehends zu einer lebensbedrohlichen globalen Katastrophe auswächst.

„Unser Haus (Erde) brennt!“ sagte einst Greta Thunberg, -doch es wird immer noch nicht gelöscht. Mit der Beibehaltung der derzeitigen klimaschädlichen Strukturen und der Fortsetzung des fossil-mobilen Wachstumskurses wird sogar ständig weiter Öl und Benzin ins Feuer der globalen Klimakatastrophe geschüttet. Welch kriminelle Verblendung!

Die Erderhitzung beschleunigt sich

Dabei beschleunigen sich die Erderhitzung und der Klimawandel immer weiter.

Die neuesten Entwicklungen sind erschreckend. So gibt es einen erneuten Negativrekord beim Schwund des Antarktischen Meereises und das Tempo des Meeresspiegelanstiegs hat sich seit 1993 verdoppelt. Voriges Jahr erreichte die Erhöhung der globalen Mitteltemperatur bereits 1,26 Grad und nimmt mittlerweile bereits um über 0,2 Grad pro Jahrzehnt zu.

Asien ächzt dieses Jahr unter einer schweren Hitzewelle (bis 50 Grad Celsius in Indien, im Iran und anderswo) und leidet unter zunehmendem Wassermangel. Die Gletscher des Himalaya schmelzen rasant. Auch Südeuropa, Nordafrika und die südlichen USA (etwa 110 Millionen Menschen) waren von extremer Hitze betroffen, die teilweise wochenlang anhielt.

Das führte zu verheerenden, unkontrollierbaren und lebensbedrohlichen Waldbränden, wie in Griechenland und jüngst auf Hawaii und schon seit Monaten in Kanada. Letztere nebelten nicht nur New York und die Ostküste der USA ein, sondern haben auch Europa und höhere Luftschichten erreicht, wo der Rauch die Wolkenbildung verändert und die Ozonschicht schädigt. Die zunehmenden Waldbrände im Norden – auch Sibirien und arktische Gebiete sind betroffen – sind eine zusätzliche Bedrohung für das Klima, stellte das Leibniz-Institut für Troposphärenforschung in Leipzig fest.

Es wird vielfach eine extrem ungewöhnliche Erwärmung der Meere und Ozeane beobachtet. Zudem wird inzwischen mit 80%iger Wahrscheinlichkeit mit einer El Nino- Phase gerechnet, einer periodisch wiederkehrenden Wetteranomalie, die die Temperaturen zusätzlich nach oben treibt und für zusätzliche Wetterextreme sorgt. Während sich Deutschland in diesem Frühjahr und Sommer häufig unter dem Einfluss kalter Luft aus dem Norden befand und es häufigere Niederschläge gab, ist Südeuropa von Hitze, Dürre und Waldbränden extrem betroffen. Eine massive Beeinträchtigung der Wasserversorgung und der Landwirtschaft stellen für viele heute schon die Existenzfrage.




Karikatur: Gerhard Mester/​Wikimedia Commons

Gleichzeitig gab es immer wieder verheerende Überflutungen, wie in den Alpen, im Adriaraum und sogar in Skandinavien.

Längst ist das Wetter zum „Un“-Wetter geworden

Wir haben die atmosphärische Zirkulation über Europa grundlegend verändert, wie das absonderliche Jo-Jo-Wetter zeigt, das uns im Wechsel arktische Polarluft oder subtropische Warmluft beschert und die Niederschläge verschoben hat und Extremwetter extrem verstärkt. In Europa hat sich ja zwischen 1991 und 2021 die Oberflächentemperatur um unglaubliche 0,5 Grad pro Jahrzehnt erhöht. Europa ist der Kontinent, der sich am schnellsten erwärmt und Deutschland ist keine Insel der Seligen.

Wir haben jetzt „erst“ eine um etwa 1,2 Grad Celsius erhöhte globale Mitteltemperatur erreicht. Was passiert dann erst bei den zu erwartenden globalen 2,7 oder 3,2 Grad, oder gar bei 4 oder 5 Grad globaler Temperaturerhöhung?

»Wenn wir global bei 3 Grad landen, drohen Deutschland etwa 6 Grad«

Der bekannte Klimawissenschaftler Stefan Rahmstorf hat sich jüngst in einem Interview mit Spektrum der Wissenschaften dazu geäußert:

„Wenn wir global tatsächlich bei drei Grad landen werden, drohen Deutschland etwa sechs Grad Erwärmung.“ sagt Prof. Rahmstorf.

„Landgebiete erwärmen sich etwa doppelt so rasch wie der globale Mittelwert, der zu 70 Prozent aus Meerestemperaturen gebildet wird. Hier zu Lande ist in der Vergangenheit die Temperatur daher etwa doppelt so stark gestiegen wie im globalen Mittelwert von 1,1 Grad. Wir sind in Deutschland inzwischen bei rund 2,3 Grad Erwärmung angelangt.…“

Seine größte Sorge ist, „Dass wir unumkehrbare Dinge in Gang setzen. Nicht nur die berühmten Kipppunkte, sondern ganze Kaskaden von Kipppunkten, die dann zum unaufhaltsamen Selbstläufer werden. …“ Abschließend stellt der Professor etwas resigniert die polemische Frage, ob denn die Entscheidungsträger wenigstens die Zusammenfassungen der Berichte des Weltklimarates lesen würden… Er stelle immer wieder fest, dass das Wissen bei den Entscheidern unvorstellbar begrenzt ist.

Lizenz zum Klimakillen

Es muss längst bezweifelt werden, dass wir noch Zeit bis 2045 für Null Emissionen haben. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hat im Juni 2022 eine Stellungnahme veröffentlicht: „Wie viel CO2 darf Deutschland maximal noch ausstoßen? Fragen und Antworten zum CO2-Budget“:

„Aktualisiert beträgt das maximale Budget ab 2022 für Deutschland 6,1 Gt CO2 (1,75 °C, 67%), 3,1 Gt CO2 (1,5 °C, 50%) bzw. 2,0 Gt CO2 (1,5 °C, 67%). Bei linearer Emissionsreduktion ab 2022 wären diese Budgets 2040, 2031 bzw. 2027 aufgebraucht. Also, um die Erderhitzung mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% auf 1,5 Grad zu begrenzen haben wir noch 8 Jahre Zeit, bei 67% Wahrscheinlichkeit sind es nur noch vier Jahre und bei 100% sind es in etwa nur noch zwei Jahre. Aber wer würde denn in ein Flugzeug steigen, dass mit 50%iger Wahrscheinlichkeit abstürzt? Niemand!

Der Klimawandel wird bisher kaum als akutes Problem wahrgenommen. (Karikatur: Gerhard Mester; Copyright: SFV/​Mester)

Auch eine ganz aktuelle Studie namhafter Klimawissenschaftler, mit der IPCC-Methodik, aber unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse, kommt zu dem Ergebnis, dass das CO₂- Budget nur noch halb so hoch ist, wie bisher angenommen. Dazu muss man wissen, dass die IPCC-Berichte des Weltklimarates nur alle sechs Jahre erscheinen und wesentlich auf konservativen Forschungsergebnissen des zurückliegenden Zeitraums beruhen, die aber durch das Tempo der Veränderungen oftmals schon überholt sind.

Weiterhin muss man wissen, dass das in den IPCC- Berichten ermittelte CO₂- Budget Grundlage der internationalen und nationalen Klimapolitik ist und die Höhe der tolerierbaren Restemissionen vorgibt. Kritiker dieser fragwürdigen und teils höchst spekulativen Berechnungen nennen dies die Erteilung der „Lizenz zum Klimakillen“.

Nicht zu Unrecht. Hier wird die Möglichkeit zur CO₂- Rückholung in großem Stil fest einkalkuliert, obwohl diese rein spekulativ und kaum umsetzbar ist.

Nach den neuesten Forschungsergebnissen müsste eigentlich bei der nächsten UN-Weltklimakonferenz, der COP 28 im November in Dubai, ein neues, strengeres CO₂- Budget beschlossen werden. Auch die Bundesregierung müsste dann, bei einem nur noch halb so hohen Budget, laut Klimaschutzgesetz ihre Klimaziele- und Maßnahmen erheblich verschärfen. Doch sie hält ja nicht einmal die derzeitigen, völlig ungenügenden Verpflichtungen ein, da Wirtschaftswachstum und Profit absoluten Vorrang haben.

Karikatur: Gerhard Mester/​Wikimedia Commons

Klimaschutz und Demokratie werden im Moment zusehends als Wachstumshemmnisse betrachtet, die in der allgemeinen Mobilmachung für den globalen Konkurrenzkampf stören, wie die zunehmende mediale Hetze gegen die „Letzte Generation“ und ihre verschärfte juristische Verfolgung zeigen.

Missachtung des Vorsorgeprinzips

Die Lage eskaliert derweil zu einer Klimakatastrophe die nicht mehr gestoppt oder rückgängig gemacht werden kann. Hier wird weder „Schaden vom deutschen Volke abgewendet“ und auch die Lebensgrundlagen werden nicht gesichert, sondern das Vorsorgeprinzip wird aus aktuellen Macht- und Profitinteressen sträflich missachtet, – insofern ist dieses (Nicht)-Handeln nicht nur verantwortungslos, sondern rechtswidrig.

Inzwischen können wir die Klimakatastrophe nicht mehr verhindern sondern nur noch verlangsamen und begrenzen, – doch wir beschleunigen sie immer weiter.

Weshalb zeigen sich die EU und Deutschland (selbst mit grüner Regierungsbeteiligung) unfähig und unwillig die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, obwohl man doch gleichzeitig hunderte von Milliarden Euro für dubiose Corona-„Wiederaufbauprogramme“, für Aufrüstung und für Energiesubventionen ausgibt, die man offenbar als systemrelevant betrachtet? Die rechtlichen Verpflichtungen zum Klimaschutz missachtet man hingegen und macht sich damit sogar strafbar.

In der Logik des kapitalistischen Wachstumssystems ist Klimaschutz offenbar nicht „systemrelevant“, sondern systembedrohend, da er ein schnelles „Weniger“, statt des beständigen „Immer mehr“ erfordert, das ja die Grundlage für das Funktionieren des ganzen Systems ist.

Es gibt offenbar einen antagonistischen Widerspruch zwischen den dominanten Gegenwartsinteressen, die vorwiegend Wachstums, Profit- und Konsuminteressen sind und den Interessen der jungen Generation, der Ärmeren, der Bauern, des Südens und der kommenden Generationen an der Sicherung der Lebensgrundlagen und der Zukunft.

Vollbremsung oder Klimacrash

Wir werden die Klimakatastrophe jetzt begrenzen oder wir werden sie überhaupt nicht mehr begrenzen können, weil sie sich dann verselbständigt hat und selbst verstärkt.

Das meint ganz konkret den auftauenden Permafrost, das schwindende Meereis, die brennenden Wälder, -alles Verstärkungen der Erderhitzung, die bereits in vollem Gange sind, aber in diesen Budgetzahlenspielereien gar nicht berücksichtigt werden.
Wir sind weiter völlig ungebremst in Richtung Klimakatastrophe unterwegs. Die weitere Verschärfung der Klimakatastrophe bedroht direkt die Gesundheit und das Leben der Menschen. Jede Tonne CO₂ die ausgestoßen wird, führt dazu, dass noch mehr Menschen unter Hitzewellen, Extremwetter, Dürren, Hunger und sich ausbreitenden Krankheiten leiden werden. 2022 gab es in Europa bereits 60000 Hitzetote, in Deutschland waren es 8000 und das ist erst der Anfang. Jede weitere Tonne CO₂ destabilisiert die Lebensbedingungen der Zukunft weiter, – deshalb muss Schluss sein mit dem Kohle-und Autowahnsinn,- das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig. Man kann eine sich aufschaukelnde Klimakatastrophe nicht später wieder rückgängig machen, genauso wenig wie den Tod. Deshalb müssen wir uns heute für das Leben entscheiden.

Wir alle sind die Letzte Generation

Hier hat die „Letzte Generation“ in letzter Zeit den Staffelstab übernommen und sehr mutig und phantasievoll das Thema wieder nach vorne gebracht. Und keinesfalls nur mit Klebeaktionen, wie uns die bürgerlichen Medien weismachen wollen, sondern mit einer Vielzahl unterschiedlichster Aktionsformen.

Zum Beispiel die Beteiligung an den Protesten gegen die Tesla-Autofabrik bei Erkner und das TVO-Straßenbauprojekt in der Wuhlheide. Oder das symbolische Abdrehen der Öl- und Gasversorgung etwa an der Raffinerie Schwedt. Oder die Blockade des Hamburger Hafens sowie von Golfplätzen. Oder die farbliche „Verschönerung“ von Ampel-Parteizentralen und RWE-Büros sowie eines Privatjets auf Sylt. Auch andere Gruppen wie „Extinction Rebellion“ orientieren sich neu, wie die Besetzung des Berliner Hotels Adlon und das Entrollen eines großen Transparents „Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten“ zeigten. Das geht schon alles in die richtige Richtung, wird aber gerne totgeschwiegen. Unterstützung kommt von Bürgermeistern, Museumsdirektoren, Wissenschaftlern. So manche altkluge Kritik sollte hier nicht an die Aktivisten gehen, sondern an die Besserwisser, die sich lieber zurücklehnen und zuschauen, obwohl sie doch auch die Letzte Generation sind.

„Es rettet uns kein höheres Wesen“ und auch kein imaginäres Subjekt der ökologischen Wende aus dem Süden. Von dort werden sogar bald Dutzende und hunderte Millionen Klimaflüchtlinge nach Norden aufbrechen, weil ihre Heimat unbewohnbar geworden ist.


Karikatur: Gerhard Mester

Klimaungerechtigkeit

Es ist unübersehbar, dass die aktuelle Politik vorrangig zugunsten der Interessen einer kleinen, reichen Minderheit handelt. Der Klimakonflikt ist auch ein nationaler und globaler Konflikt zwischen Arm und Reich, da die reichen 10 % in Deutschland und Europa in etwa genauso viele Treibhausgase verursachen, wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung (Klaus Dörre, Die Linke muss sich neu erfinden- aber wie?, LUXEMBURG 1/2022, Seite 119.) und weltweit verursachen „Die reichsten 1 % der Weltbevölkerung doppelt so viel Emissionen, wie die ärmeren 50 %, oder die reichsten 0,5 % so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Weltbevölkerung!“ (Quelle: Stockholm Environment Institut 2020). Was für eine ungerechte Welt! Um Klimagerechtigkeit herzustellen, müssten die reichen 10 % in Deutschland Ihre Emissionen übrigens auf ein Dreißigstel reduzieren.“ (Quelle: Dörre, 2022).

Beim derzeitigen „Endspiel um die Zukunft“ (Der Rabe Ralf April/Mai 2023, S.16-17) geht es von daher nicht nur ums Klima, sondern um reale Macht, es geht um Gerechtigkeit und Gestaltungsmacht für die kommenden Generationen, um eine dauerhaft mögliche, zukunfts- und friedensfähige Gesellschaft.

Die derzeitige Zukunftsblockade spaltet die Gesellschaft und wird durch die Klimakrise, die Aufrüstung, aber auch durch die nur vermeintlich klimafreundliche „grüne“ Modernisierung ständig weiter verschärft und ist in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen offenbar nicht auflösbar.

Siehe hierzu auch das bemerkenswerte „Manifest der Völker des Südens – Für eine ökosoziale Energiewende“, das unbedingt diskutiert und weiterverbreitet werden sollte.

Eine Alternative für das Leben

Sei es gegen eine klimafeindliche Energiepolitik (Lützerath), eine rechtswidrige Verkehrspolitik (Letzte Generation und FfF), gegen Aufrüstung und Waffenexporte, wie jüngst in Berlin,- es regt sich Widerstand, die Menschen werden aktiv, bekennen Farbe und fordern eine andere Politik. Die Friedenstaube war auf der Friedensdemo der 50000 auf vielen Transparenten, Plakaten und Ansteckern unübersehbar.

Das macht Mut und war zwar kein „Aufstand“, aber ein Aufbruch ganz gewiss, in dem viele den Beginn einer neuen Friedens- und Bürgerbewegung sahen. Höchste Zeit wäre es. Auch dass sich Friedens- und Klimabewegung zusammenfinden und viele andere Initiativen, um den verpassten „Aufbruch21“ doch noch nachzuholen (siehe Der Rabe Ralf, Februar/März 2021, Seite 15). So zeigte der gemeinsame Klimastreik von Fridays for Future und VERDI am 03.03.2023 mit über 220000 Teilnehmern, was schon alles möglich ist.

Frieden (auch mit der Natur), Klimaschutz, Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit könnten und sollten dabei die verbindenden Gemeinsamkeiten sein, denn nur eine Gesellschaft, die sich in diese Richtung verändert, wird den Herausforderungen der Gegenwart gewachsen sein und Lösungen und nicht Probleme produzieren.

Die Zeit wird knapp und die Klimawende muss vor allem und zuerst im Norden stattfinden.

Es gilt eine breite Öffentlichkeit zu überzeugen, dass eine andere Welt nicht nur immer dringender nötig, sondern auch möglich ist und wie diese andere Welt und die Wege dahin aussehen könnten.

Karikatur: Gerhard Mester/​Wikimedia Commons

Trägheit der Herzen und Strukturen

Ein „Weiter so“ scheint aber vielen immer noch das geringere Übel. Groß sind die interessegeleiteten Trägheitskräfte in der Gesellschaft und bei jedem Einzelnen, eingeübte Routinen von Pflichterfüllung und vorauseilendem Gehorsam.

Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.“ wie der französische Philosoph Baudrillard treffend formulierte. Unsere derzeitige Wirtschafts- und Lebensweise ist nicht nur imperial, sondern zerstörerisch und bedeutet faktisch einen permanenten Krieg gegen das Klima, die Biosphäre und andere Kulturen, wird aber nachwievor als fortschrittlich, rational und alternativlos dargestellt und verteidigt. Doch wir sind nicht die Vernünftigen,

-wir Biedermänner sind die Brandstifter. . .

Und so werden wir wahnsinnig Vernünftigen die Welt in den Abgrund der Klimahölle befördern, nicht aus böser Absicht, sondern aus Trägheit und Bequemlichkeit, aus Gewohnheit und Pflichtgefühl, weil wir nicht bereit sind unsere gewohnte Komfortzone zu verlassen,- auch wenn wir schon den Rauch und die Hitze des großen Feuers spüren.

Wie man die Trägheit der Herzen und Strukturen noch rechtzeitig überwinden kann, ist inzwischen eine Überlebensfrage…“ schrieb ich bereits 2017.

Jeder Krieg geht vorbei, jedoch die Klimakatastrophe beginnt gerade erst und wird eine lebensbedrohliche Dynamik entfalten, die das Überleben der Menschheit gefährdet.

Das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen und endlich entsprechend handeln.

Es gilt jetzt die Debatte über eine gesellschaftliche Alternative jenseits des Wachstums wiederzubeleben, über eine sozial gerechte, nachhaltige Ökonomie und Gesellschaft, die nicht länger die Natur, den Süden und die Zukunft zerstört.

Hier noch einmal die

Konturen einer sozial-ökologischen Transformation

* Grundlegender Umbau des Steuersystems, ökologische Steuerreform: Belastung des Energie- und Rohstoffverbrauchs, Entlastung der lebendigen Arbeit, regenerativer Energien und des öffentlichen Verkehrs, Reichensteuer. Preisreform: Verteuerung von Energie und Rohstoffen, ein progressiv schnell steigender CO₂-Preis von mindestens 60 Euro pro Tonne, nicht gedeckelt und subventioniert, aber natürlich sozial abgepuffert für Geringverdiener und kleinere Unternehmen. Abschaffung des Bruttosozialprodukts zugunsten eines Ökosozialprodukts, Bilanzierung und Besteuerung der Unternehmen nicht nur nach ökonomischen Kennzahlen, sondern ebenso nach ökologischen und sozialen Kriterien.

* Einführung einer möglichst globalen, stetig steigenden Transportsteuer zur Eindämmung der Globalisierung und des ausufernden Verkehrs.

* Grundlegender Umbau der Finanzordnung: Geld als reines Tauschmittel, Abschaffung des Kapitalzinses und der leistungslosen Spekulations- und Aktiengewinne, Bankensystem als reine Dienstleistung in öffentlicher Hand, Geldmengenbegrenzung und friedliche Kapitalvernichtung.

* Sofortprogramm-Nahziele: keine fossiles „weiter so“ mit Kohle, LNG, Fracking-Gas, grauem Wasserstoff, vorgezogener Kohleausstieg, statt Energiesubventionierung massive Energieeinsparung, sofortige Abschaffung und Umlenkung der Subventionen für fossile Energien, Einführung einer hohen Kerosinsteuer, Ausstieg aus dem motorisierten Individualverkehr, Tempolimit, kostenloser ÖPNV, 100 Prozent ökologische Landwirtschaft, Wiederaufforstung, Wiedervernässung von Mooren, Verbot von Einwegflaschen und -verpackungen, Verbot von Werbung für Umwelt- und gesundheitsschädliche Produkte, Zerschlagung unkontrollierbarer Konzern- und Kartellstrukturen.

Aktuell geht es natürlich zuallererst um Frieden, um den Stopp von Aufrüstung und Waffenlieferungen und die Verhinderung eines neuen Wettrüstens und einer kriegerischen Eskalation. Letztlich geht es weltweit um den Aufbau von Gesellschaften und stationären Ökonomien, deren zentrales Paradigma nicht Wachstum und Profit um jeden Preis, sondern der Fortbestand des Lebens und der Menschheit innerhalb der Planetaren Grenzen ist.

Seien wir Realisten, fordern wir das Unmögliche“ sagte bereits Che Guevara.

Jürgen Tallig lebt als Autor und Klimaaktivist in Berlin und betreibt den Klima-Blog Earthattack. Er war Mitbegründer des Neuen Forums in Leipzig.

Weitere Informationen: www.earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com

Weitere Artikel des Autors im Braunschweig-Spiegel:

Alarmstufe Rot
Klima: Die Politik hat den Ernst der Lage nicht begriffen
Krieg und Klimakatastrophe

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