Rezension zu Klaus Dörre: Die Utopie des Sozialismus

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Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution

Matthes und Seitz Berlin 2022

Es ist ein ambitioniertes Buch, auch wenn der Autor, Soziologieprofessor in Jena , von einem „Büchlein“ und am Ende gar von einer „Flaschenpost“ spricht: Indem er einen „Kompass“ für eine sozial-ökonomisch-demokratische Gesellschaft entwirft, gibt er zu verstehen, dass er ein zukunftsweisendes Opus maximum verfasst hat, mit dem er sich nicht explizit, aber implizit in die Reihe der „Klassiker“ Max und Engels einreihen möchte, wobei Engels eine besondere Bedeutung zukommt. Neben den „Aktiven in der Klimabewegung“ widmet er ihm zum 200 Geburtstag dieses Buch Es ist der späte Engels, der nicht mehr den revolutionären, sondern der parlamentarischen Weg zum Sozialismus weist. Ein Sozialismus muss es aber sein; Dörre schreckt nicht vor dem „S-Wort“ zurück, auch wenn es in der Vergangenheit vielfach missbraucht wurde. Der Sozialismus, den er im Auge hat, ist in vielem ein Gegenpol zum „real-existierende Sozialismus“ unseligen Angedenkens. Der Autor weiß, einen „wirklichen“ Sozialismus hat es noch nie gegeben, daher der Terminus „Utopie“, was für Dörre keine Diffamierung, sondern eine Definition darstellt die mit einem Topfen Hoffnung gesalbt ist.

Dörre entwickelt eine erstaunliche Genauigkeit und Detailtreue. Er teilt nicht das Bilderverbot der Frankfurter Schule, deren Mitglieder, als Kontrast zum orthodoxen Marxismus, auf eine Ausgestaltung der erwünschten Zukunft verzichteten. Der Leser solle wissen, argumentiert Dörre, auf was er sich einlasse. Und so trägt er mit unermüdlichem Fleiß und eminenter Sachkenntnis zusammen, was an brauchbarer Theorie und Praxis auf dem Kenntnisstand des 21. Jahrhundert vorhanden ist.

Seinen Text nennt Dörre einen „Essay“, einen „Versuch“, er stößt in Neuland vor, das er aber sorgfältig prüft, denn es muss drei Bedingungen entsprechen: Die neue Gesellschaft, die er umreißt, muss eine ökologische Wende von nie dagewesener Qualität und Quantität vollziehen; sie muss sozialistisch sein (unter dem Kapitalismus ist diese Wende nicht möglich), und sie muss demokratisch sein. Dass die ökologische Wende unumgänglich ist, lässt sich aus naturwissenschaftlichen Studien belegen. Nachhaltigkeit ist daher oberstes Gebot. Doch der Kapitalismus, der nach seinem eigenen Gesetz immer weiter wachsen muss und nach immer neuer „Landnahme“ schreit, verhindert eine ökologische Wende. So entsteht, was der Autor „Zangenkrise nennt“: Will man die Klimawende vollziehen, sind soziale Probleme unvermeidlich. Will man diese lösen, kommt es zu erneutem Ressourcenverbrauch, der vermieden werde muss. Eine Lösung kann nur der Übergang zu einem nichtkapitalistischen System bringen. Dörre fordert Ersetzung des Kapitalismus durch einen Sozialismus, der auf der Beteiligung der Betroffenen basiert und auf deren kollektive Verantwortung nicht verzichtet. Der erste Schritt muss die Ersetzung des BIP durch eine Entwicklungsskala sein; die auf Effektivität und Effizienz verzichtet. In diesem Zusammenhang ist es besonders verdienstvoll, dass Dörre nicht nur die Industriestaaten des Nordens im Blick behält, sondern auch auf die globale Welt des Südens achtet, der er eine nachholende Entwicklung zubilligt.

Er weiß, dass eine sozial-ökologische Umgestaltung nicht ohne Enteignungen abgehen kann, hält diese aber im Rahmen des Grundgesetzes für machbar. Dass neue, vielleicht nur temporäre Eigentumsverhältnisse geschaffen werden, die man in der Verfassung verankert, hält er für möglich, wenn auch die gegenwärtigen Verhältnisse nicht nach einer solchen politischen Veränderung

aussehen. Das räumt er ein, und er überlegt auch, wo die Mehrheiten für eine solche Veränderung herkommen sollen. Dabei ist er nicht dogmatisch, er greift nicht nur auf die Linke zurück, sondern sucht ein breites Bündnis gesellschaftlicher Gruppierungen: Die Zivilgesellschaft ist seine große Hoffnung, obwohl er weiß, dass sie keinesfalls homogen ist. Dass es zu Konflikten kommen wird, ist ihm klar, aber er glaubt, dass man sie demokratisch austragen kann. In diesem Zusammenhang spielt der Begriff „Transparenz“ als Grundbedingung gesellschaftlichen Zusammenlebens eine zentrale Rolle. Vorausgesetzt wird, dass die Handelnden die Prinzipien des demokratisch-ökologischen Sozialismus verinnerlicht haben. Und das, so muss man kritisch hinzufügen, setzt einen „neuen Menschen“ voraus. In gewisser Weise wird für Dörre die Zivilgesellschaft zum revolutionären Subjekt, aber er weiß, dass es ohne die Mitwirkung des Staates nicht abgeht. Dieses undoktrinäre Sowohl-als-Auch durchzieht den ganzen Essay; so z.B., wenn er einerseits für ein gewisses Maß an Planwirtschaft in der GroßiIndustrie plädiert, andererseits aber das kleine und mittlere Gewerbe privatwirtschaftlich belassen will, weil aus dieser Sphäre die meisten Innovationen kommen. Arbeitszeitverkürzung hält Dörre für unumgänglich. Er entwickelt ein Lebenszeit-Modell, das nach einer kurzen Vollzeitarbeitszeit (32 Stunden) eine Phase vorsieht, in der private Sorgearbeit und gemeinnützige Arbeit sich verbinden bzw. ablösen

Weil alles, was er anführt, nicht nur vernünftig, sondern quasi unabdingbar ist, scheint er – mit gebotener Zurückhaltung – an die Realisierbarkeit seiner Vorschläge zu glauben oder wenigstens darauf zu hoffen.

In Dörres Essay fehlt jedoch, wie die gegenwärtige Situation zeigt, ein wichtiger Faktor: Er geht von einer Friedenszeit aus, die einer möglichen Umsetzung nicht nur die nötige Bereitschaft, sondern auch die Finanzierung sichert. Aber wenn, wie in der unmittelbaren Gegenwart, die (militärisch interpretierte) „Sicherheit“ allerhöchste Priorität vor aller Sorge um Nachhaltigkeit genießt, dann wird Dörres Essay tatsächlich zur Flaschenpost, von der man nicht weiß, ob sie ihre potenziellen Empfänger erreicht.

345 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag. Preis: 24,00 €

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