„Pfarrer u. dessen Schwester aufgehängt. Häuser abgebrannt.“ – Die Erschießung von Abbé Berlier – Verantwortlichkeiten

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Hauptsächlich aus Regimentsgeschichten berichteten wir von fünf Priesterhinrichtungen im Umkreis des Braunschweiger 92er Regimentes während der Eroberung des neutralen Belgiens im ersten Weltkrieg.

Aus korrespondierenden belgischen Quellen kannten wir auch die Namen von vier der fünf hingerichteten Geistlichen: es waren die Patres Dossogne, Hottlet, Docq und Pollart. Die Identität des fünften hingerichteten Geistlichen konnten wir nicht leicht ausfindig zu machen. Er kam nicht aus Oret, dem Ort der Exekution, und war auch nicht Priester der dortigen Kirche. Sein Name ließ sich aber über das Todesdatum, den 24. August 1914, ermitteln (Dank an Norbert Fischer für den Hinweis). Es war Abbé Louis Berlier aus Biesme. Der mit ihm erschossene Zivilist war Camille Bodart aus Le Roux.

Schon Abbé Dossogne aus Hockai wurde beim Einmarsch in Belgien von den deutschen Eroberern in das ca. 8 km entfernte Tiège als Geisel und Schutzschild mitgenommen, wo er dann hingerichtet wurde. Nach gleichem Muster wurde Abbé Louis Berlier von Biesme als Geisel in das ca. 5 km entfernte Oret mitgenommen und dort dann erschossen. Major a. D. Fr. von Sobbe beschreibt die Geiselnahme im Fall des Abbé Dossogne (Geschichte des Infanterieregiments 92, S. 28) als eine paradigmatische Vorgehensweise für die deutschen Eroberer, die sich bewährte:

Sehr zweckmäßig erwies sich die Mitnahme von Geiseln von einem Dorf zum andern, wodurch Feindseligkeiten der Bewohner vorgebeugt wurde.

 

Abbé Berlier war 23 Jahre alt und besuchte das Priesterseminar in Tournai. Das Seminar hatte im ersten Weltkrieg 60 Geistliche zum Sanitätsdienst in der Armee abgestellt, darunter Berlier.

Das berichtet auch seine Mutter, Madame Berlier aus Biesme, in der Dokumentation von Schmitz/van Nieuwland (3. Teil, Tamines et la Bataille de la Sambre, Brüssel / Paris 1920, S. 186 ff.). Informationen aus Regimentsgeschichten und die belgischen Dokumentationenen ergänzen einander weitgehend. Danach ist es auch plausibel, dass Berlier eine entsprechende Rotkreuz-Armbinde bekam, wie die Mutter berichtet, und es liegt nahe, dass Berlier für den Sanitätsdienst in das Dorf seines Elternhauses, nach Biesme zurückkehrte, da dort ein Lazarett war, wie nicht nur Berliers Mutter, sondern auch eine deutsche Aufzeichung (8/92 auf dem Vormarsch 1914, Braunschweig 1929, S. 26) festhält:

Auch unsere Garde-Truppen passierten das Dorf, in dem noch ein französisches Lazarett in voller Tätigkeit war.

Zum Zeitpunkt seiner Gefangennahme sei ihr Sohn zusammen mit Camille Bodart damit beschäftigt gewesen, ein Feuer auf einem Dach zu löschen. Auch diese Feststellung von Madame Berlier ergänzt sich mit den Aufzeichnungen der 8/92er, in denen es (S. 24) heißt:

Die französische Artillerie beschoss Biesme, das an einigen Stellen brannte.

Über die eigentliche Gefangennahme (das „Ergreifen“) von Louis Berlier in Biesme gibt es keine Augenzeugenberichte. Madame Berlier führte zu der Zeit deutsche Soldaten, die mit wenig zivilen Umgangsformen nach versteckten Franzosen suchten und Eßbares mitnahmen, durch ihr Haus.

Über die Hinrichtung von Berlier gibt es drei Berichte in den Regimentsgeschichten der 92er Infanterie.

Walter Voigt (Mit 1/92 auf dem Vormarsch, S. 49) war mit seiner Kompagnie nicht über Biesme, den Ort Ergreifung, zum Sammelplatz des Regiments nach Oret gekommen, sondern über das wenige Kilometer östlich von Biesme gelegene Devant les Bois. Über die Gefangenennahme konnte Voigt daher nur vom Hörensagen erzählen, über die Hinrichtung selbst gibt er einen Augenzeugenbericht. Er beschreibt, wie Hauptmann von Bismarck gestisch das Signal zur Hinrichtung gibt, wie Berlier und Bodart reagieren und die Exekution vollzogen wird. Für den 1/92er Voigt ist Berlier ein:

Pfarrer mit zusammengekniffenem Gesicht und einem Jesuitenhut.

Die 8/92er (S. 26) beschreiben Berlier ähnlich abwertend als:

Pfaffe mit Jesuitenhut

Der ehemalige 92er, Major a. D. von Sobbe, (Braunschweigisches Infanterie-Regiment Nr. 92), der am Krieg selbst nicht mehr teilgenommen hatte, schreibt neutral (S. 65):

In Oret wurden ein Priester und ein anderer Mann aufgegriffen.

verlegt dabei aber den Ort der Gefangennahme fälschlich von Biesme zum Ort der Hinrichtung, Oret. Vom ca. 5 fünf Kilometer nördlich gelegenen Biesme wurden sie mit der 8/92 Kompagnie über die Dörfer Preé und Wagneé nach Oret geführt, wie aus der 8/92er Schilderung hervorgeht. Dabei mussten die zwei Geiseln (S. 26):

Teile der requirierten Lebensmittel und unsere Tornister bis zum Sammelplatz des Regiments schleppen. Hier wurden sie auf Befehl des Regimentskommandeurs erschossen.


Verantwortlichkeit für die Hinrichtungen

Der 1/92er Voigt schreibt als Augenzeuge, dass der Kompagnieführer der 3/92er, Hauptmann von Bismarck, das Zeichen zur Hinrichtung gab. Nach der Schilderung der 8/92 wurde die Hinrichtung auf Befehl des Regimentskommandeurs vollzogen. Regimentskommandeur des 92er Regimentes war Oberst Schollmeyer. Sobbe schreibt dagegen (S. 65):

die beiden Zivilisten wurden auf Befehl des Obersten Havenstein erschossen.

Drei verschiedene Verantwortliche gaben angeblich den Befehl zur Hinrichtung. Das ist aber kein Widerspruch. Vorgesetzter des Kompagnieführers von Bismarck war der Regimentskommandeur der 92er, Oberst Schollmeyer. Vorgesetzter von Schollmeyer war der Leiter der 40. Infanteriebrigade, Oberst Havenstein. Am Tag zuvor, dem 23. August 1914, hatte Havenstein das Kommando über die übergeordnete Brigade übernommen, die aus dem Braunschweiger 92er Infanterie-Regiment bestand, das Roselies einnahm, dem 77er „Heideregiment“, das Tamines einnahm sowie einem Teil des Regiments der Braunschweiger 17er Husaren, welche die 92er und die 77er bei der Einnahme von Roselies und Tamines unterstützten.

Auch die Hinrichtung von Abbé Pollart am 23. August in Roselies wurde schon unter der nominellen Befehlsgewalt von Havenstein vollzogen, wenn sie denn von einem Regiment vollzogen wurden, das ihm unterstand. Es waren aber auch weitere Truppen in die Kämpfe einbezogen und es ist unklar, von welchen Truppen Pollart erschossen wurde, nachdem die Kämpfe in und um Roselies am Tag zuvor zu Gunsten der Deutschen gegen die Franzosen entschieden wurden und die 92er Kompagnien, deren Berichte wir haben, schon am 22. August über Devant Les Bois oder über Biesme weiter in Richtung Oret zogen.

Vorgesetzter von Havenstein war Generalleutnant Schmundt, Leiter der 20. Infantereriedivision, dem neben der 40. Infanteriebrigade (Havenstein) auch die 39. Infanteriebrigade unterstand, die ebenfalls in die Kämpfe um Roselies verwickelt war. Zur 20. Division heißt es (Der Weltkrieg 1914-1918, Bd. 1, Die Grenzschlachten im Westen (1925), S. 358):

Ihr Führer, Generalleutnant Schmundt, setzte die 40. Infanterie-Brigade mit einem Teil über Tergnée gegen die Höhen von Roselies, im übrigen über Tamines auf die Höhen von Falisolle an.

Vorgesetzter von Schmundt war der Führer des X Armeekorps Otto von Emmich, der inzwischen umstrittene „Held von Lüttich“. Von Emmich griff am 21. August direkt befehlend in das Kampfgeschehen ein und war am 22. August ab 8 Uhr morgens „auf den Höhen nördlich Tamines“ selbst zugegen, um die Kriegshandlungen zu überwachen. (Grenzschlachten im Westen, S. 358-359)

Damit setzte v. Emmich (S. 358) einen „Armeebefehl vom 21. August“ um. Auch noch der verantwortliche Armeeführer war nah zugegen (S. 354):

Generaloberst v. Bühlow begab sich am Vormittag des 22. August mit seinem engeren Stabe nach den Höhen bei Fleurus, nordöstlich Charleroi vor. um der Entwicklung der Ereignisse an der Sambre näher zu sein und zugleich einen Eindruck von dem zu überwindenden Sambre-Abschnitt zu gewinnen.

Die Höhen von Fleurus sind nur etwas mehr als 6 km von Roselies und Tamines entfernt.

Es ist durchaus möglich, dass die Priesterhinrichtungen von Abbé Pollart und Abbé Berlier von sehr weit oben in der Befehlshierarchie befohlen waren. Schriftkundige Zeugen, die über das weite Beziehungsnetz der katholischen Kirche verfügten, waren damit beseitigt. Beispielhaft für dies Motiv ist die Hinrichtung des Jesuitennovizen Duperrieux, über die auch der Report zu den Priesterhinrichtungen in Belgien von General-Gouverneur Bissing berichtet. (ausführlich beschrieben in van der Essen, The Destruktion of Louvain, Chicago 1915, S. 21)

Das gut dokumentierte Massaker von Tamines und die Priesterhinrichtungen waren strategisch-militärisch bedeutungslos und daher in keiner Weise zu rechtfertigen. Sie erfolgten jeweils, nachdem die Kämpfe zu Gunsten der Deutschen entschieden waren und sich die französischen Truppen zurückgezogen hatten. Selbst wenn Priester und Zivilisten in die Kämpfe mit eingegriffen hätten, handelt es sich offensichtlich um Kriegsverbrechen, auch nach damaligen Kriterien.

Berlier und Bodart wurden mit „hunderten von gefangenen Zuaven und einigen Turkos“ – Afrikanern aus den französischen Kolonien in der französischen Armee – von Biesme nach Oret geführt. Nachdem sie das Gepäck und erplünderte Lebensmittel für die 92er nach Oret getragen hatten, mussten sie aus der Gruppe hervortreten und wurden erschossen. Berlier war vom Priesterseminar in Tournai für den Lazarettdienst an die belgische Armee abgestellt worden. Er hätte auch aus diesem Grund mindestens so „ehrenhaft“ behandelt werden und in Gefangenschaft genommen werden müssen wie die französischen Soldaten.

Nachtrag 19.09.2014 – Zu den Gründen für die Hinrichtung von Abbé Berlier:

Walter Voigt von den 1/92ern traf erst in Oret auf Louis Berlier und Camille Bodart und wurde dort Zeuge ihrer Hinrichtung. Die Begründung für ihre Ergreifung übernimmt er weitgehend von den 8/92ern, die in Biesme zum Teil auch durch den Ort gezogen waren, als die zwei Zivilisten gefangen genommen wurden. Voigt schreibt (S. 49):

Sie sind mit der Waffe angetroffen und haben auf unsere Leute geschossen.

Die 8/92 erzählen eine etwas ausführlichere Geschichte (S. 26):

Der Regimentsstab hatte sich am südlichen Ausgang des Dorfes hinter einer Hecke niedergelassen, wurde aber durch vereinzelte Schüsse beunruhigt. Diese konnten nur vom Kirchturm herkommen, weshalb angeordnet wurde, diesen zu durchsuchen. Man fand hier zwei Zivilisten, einen Pfaffen mit einem Jesuitenhut und einen Gigerl. Beide wurden mit der Waffe in der Hand angetroffen und mitgeführt.

Es sind soldatische Gründe, die keine offensichtlichen Widersprüche aufweisen. Es wird nicht behauptet, dass sie jemanden verletzt oder gar getötet hätten, also muss eine Verletzung oder gar ein „Kameradenleichnam“ auch nicht vorgewiesen werden. Berlier war ein „Pfaffe“ und die findet man in der Regel in Kirchen. Die Gründe sind aber nicht plausibel. Biesme war von den 79er und 164er Regimentern (39. Infanteriedivision) schon erobert, als die 8/92 dort durchkamen. Die deutschen Soldaten hatten in Biesme die totale Macht. Berlier war im Lazarett beschäftigt und bei seinem Elternhaus. Es widerspricht jeglicher Rationalität, warum er da auf den Kirchturm des Dorfes steigen sollte, um in die Gegend zu schießen. Es wird ja auch gar nicht behauptet, dass er irgend jemanden getroffen habe.  

Eine andere Geschichte erzählt Sobbe, der einige Jahre vor dem ersten Weltkrieg im Majorsrang von den 92ern ausgeschieden war (S. 65):

In Oret wurden ein Priester und ein anderer Mann aufgegriffen. Im Hause des Geistlichen war ein Mann der 3. Komp. erschossen worden. Man fand bei dem Priester zwei abgeschossene Pistolen; die beiden Zivilisten wurden auf Befehl des Obersten Havenstein erschossen.

Demnach hätten die beiden im Pfarrhaus von Oret einen deutschen Soldaten erschossen, dessen Namen – trotz der außerordentlichen Tat – nicht genannt wird. Die Geschichte erscheint noch weniger plausibel. Schon im nächsten Absatz nennt Sobbe namentlich Verwundete und Getötete, warum nicht auch den des „ermordeten“ Kameraden? Namentlich nicht zugeordnete Verletzungen oder Tötungen können aber auch nicht widerlegt werden.

Die von den Regimentsgeschichten angeführte Gründe  sind – sagen wir „soldatische“ Gründe: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es ist das Retaliationsrecht, das den Krieg auf Regimentsebene beherrscht, das Prinzip einer abgründigen ausgleichenden Gerechtigkeit, das die Kampfhandlungen prägt, die Logik des Krieges.

Im Bericht von Madame Berlier werden andere Gründe angesprochen. Ihrem Sohn wurde zum Vorwurf gemacht (S. 187 unten), er würde in Zeitungen gegen die deutschen Eroberer schreiben. Hier geht es um um Veröffentlichigungen, um das Image einer kriegführenden Partei, und den Ruf, um die öffentliche Meinung über den Weltkrieg. Damit kommt eine Logik der Kriegführung ins Spiel, die in der Befehlshierarchie jedenfalls oberhalb der soldatischen Ebene des Kriegskampfes angesiedelt ist, auf politisch-diplomatischer Wirkungsebene.

Was die Geschehnisse in Roselies betrifft, mag eine solche politische Logik mit der Erschießung von Abbé Pollart aufgegangen sein, wer immer die Entscheidung getroffen hat und wer immer sie ausgeführt hat. Über die Ereignisse von Roselies wurde vergleichsweise wenig in die Weltöffentlichkeit getragen.

Was Louis Berlier betrifft mag eine besondere Tragik darin liegen, dass er – wie seine Mutter berichtet – den deutschen Soldaten noch mit vollem „Gottvertrauen“ begegnete und daher vor seiner Hinrichtung vermutlich nicht mit eigentlichen Kriegsverbrechen der Deutschen konfrontiert war, darüber also auch gar nichts zu berichten gehabt hätte.

Seine Hinrichtung wäre insofern nicht nur militärisch sinnlos (die Schlacht um die Sambre war entschieden), sondern auch ein politisch-diplomatisch-propagandistisch völlig sinnloses Kriegsverbrechen, für das die 92er Soldaten vielleicht weniger Verantwortung trugen als übergeordnete Befehlsebenen. Die 92er führten die Hinrichtung aber aus und sie sorgten dafür, dass Berlier auf dem Wege zu seiner Hinrichtung zusammen mit Camille Bodart auch noch besonders gedemütigt wurde.

 


Kommentare   
 
+5 #1 Matthies 2014-09-16 16:05
Die Braunschweiger Zeitung muss sich nun bald einmal entscheiden, ob sie diese Informationen (und die des letzten Artikels) veröffentlicht oder ob sie das unangenehme Thema einfach ignoriert. Gerade angesichts der vielen schon veröffentlichte n Berichte von und über Soldaten aus Braunschweig gäbe es dafür aber keine Rechtfertigung. Und dass das die vielen BraunschweigerI nnen nicht interessiert, kann man nun wirklich nicht ernsthaft behaupten.- Da soll auch niemand kommen und sagen, das müsse alles erst genau untersucht werden, möglichst von einem allseits bekannten in Braunschweig ansässigen „Welthistoriker „…
 
 

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