Präsident Biden hat gestern eine Feuerpause für den Gazastreifen gefordert. Außenminister Blinken spricht sich für sofortige, verstärkte und nachhaltige Hilfe für die dort lebende Zivilbevölkerung aus (taz, 3.11.).
Handelt es bei den beiden nun um Antisemiten, die Israel in den Rücken fallen wollen? Ihm das Recht auf Verteidigung absprechen und das von der Hamas verursachte jüdische Leid geringschätzen? Betreiben sie gar eine perfide Täter-Opfer-Umkehr, die Israel statt der Hamas für das Elend verantwortlich machen möchte?
Die grausame Mordaktion der Hamas
Am 7. Oktober hat die Hamas einen mörderischen, grausamen Angriff auf jüdische Zivilisten verübt. Mehr als 1400 Menschen sind dem zum Opfer gefallen, über 200 Geiseln wurden verschleppt, nach wie vor schießt die Hamas Raketen auf israelisches Gebiet (von etwa 8000 bis zum gestrigen Tage ist die Rede). Die Medien wiederholen das so unermüdlich, dass es nun wirklich jeder weiß. Die Bevölkerung Israels hat mit einem Schlag das Sicherheitsgefühl eingebüßt, das ihr der Staat Israel bis dahin garantieren zu können schien. Man braucht nur ein bisschen Einfühlungsvermögen und etwas geschichtliches Wissen, um sich vorzustellen, was das für jüdische Menschen bedeutet, auch für die, die in Deutschland oder anderswo leben.
Das Recht auf Verteidigung
Natürlich muss sich der Staat Israel verteidigen und seine Bürgerinnen und Bürger schützen. Das gilt auch, wenn man die Vorgeschichte des Konfliktes zwischen palästinensischen Arabern und Israel nicht verleugnet. Verteidigen bedeutet, die Hamas zumindest weitgehend kampfunfähig machen. Das ist eine schwierige Aufgabe, weil die Hamas sich in einem Gebiet, das halb so groß ist wie Hamburg, unter mehr als zwei Millionen Palästinensern im Gazastreifen befindet, dort verschanzt hat und aus einem unterirdischen Tunnelsystem heraus militärisch operiert.
Die verzweifelte Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung
Aus Sicht der Palästinenser im Gazastreifen sieht die Lage so aus: Ihr Gebiet ist von allen Seiten her abgeriegelt, selbst von der Seeseite gilt seit Langem eine Blockade. Es gibt kaum Zufuhr von Lebensmitteln, von Medikamenten, von Kraftstoff und immer noch nur völlig unzureichende Zufuhr von Wasser. Ohne Kraftstoffe können die Krankenhäuser lebenswichtige Funktionen nicht mehr erfüllen, die Entsalzungsanlagen stehen still. Und nun setzen seit dem 7. Oktober zahllose Bombenangriffe ein, ununterbrochen, 12.000 bis zum gestrigen Tage werden genannt. Diese Angriffe gelten einem Gebiet der halben Größe Hamburgs, wie gesagt (Hamburg umfasst 755 Quadratkilometer, der Gazastreifen 365, die Einwohnerzahl ist sogar in Gaza noch etwas größer als in Hamburg). Ein großer Teil der Bevölkerung ist nach Süden geflüchtet, aber auch dort sind sie nicht vor den Bomben sicher, auch wenn mehr Bomben im Norden abgeworfen werden. Also: sie sind eingesperrt, haben keine Chance, einen sicheren Platz zu finden, viele haben kein Dach mehr über dem Kopf, viele müssen bereits hungern.
Recht auf Verteidigung ohne Rücksicht auf Zivilbevölkerung?
Wie gesagt, Israel hat das Recht auf Verteidigung. Aber bedeutet das die völlige Handlungsfreiheit, ohne Rücksicht auf Verluste in der Zivilbevölkerung?
Professor Norman Paech zitiert in einem Artikel vom 3.11. auf den Nachdenkseiten einige Äußerungen, die sich dafür aussprechen. So habe Israels Präsident Jitzchak Herzog am 14. Oktober auf einer Pressekonferenz Folgendes vertreten:
„Es ist ein ganzes Volk, das verantwortlich ist. Diese Rhetorik über Zivilisten, die
angeblich nicht involviert waren, ist absolut unwahr … und wir werden kämpfen,
bis wir ihr Rückgrat brechen.“
Premierminister Netanjahu kündigte an: „Wir werden Gaza zu einer Insel aus Ruinen machen.“ (8. Oktober). Daniel Hagari, Sprecher der israelischen Armee am 10. Oktober:
„Wir werfen hunderte Tonnen von Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt auf
Zerstörung, nicht auf Genauigkeit.“
Yoav Gallant, Verteidigungsminister Israels sprach von gar von „Tiermenschen“, die die Hölle wollten und die sie nun bekämen (9. Oktober).
Nun kann man sich vorstellen, dass solche derben Äußerungen aus der Empörung des Moments getätigt worden sein könnten. Fast jeder von uns kennt es ja von sich selber: spontane Wut-, Rache- und Vergeltungsgefühle, wenn man mit einem schlimmen Erlebnis konfrontiert wird. Allerdings gibt es leider Hinweise, dass die zitierten Äußerungen die vorherrschende Denkweise – jedenfalls der israelischen Regierung – widerspiegeln. Die New York Times berichtet auf X / Twitter am 31.10.23:
„Es wurde US-Beamten klar, dass die israelische Führung glaubt, dass
Massenopfer unter der Zivilbevölkerung ein akzeptabler Preis für den
Militäreinsatz seien. In privaten Gesprächen mit amerikanischen Amts-
kollegen verwiesen israelische Beamte darauf, dass die Vereinigten
Staaten und andere alliierte Mächte während des zweiten Weltkriegs
zu verheerenden Bombardierungen in Deutschland und Japan griffen –
einschließlich des Abwurfs von zwei Atomsprengköpfen auf Hiroshima
und Nagasaki – um diese Länder zu besiegen.“
Die Berichte und die Bilder, die wir aus dem Gazastreifen jeden Tag zu sehen und zu hören bekommen, scheinen jedenfalls dafür zu sprechen, dass die israelische Führung sich keinerlei Beschränkungen auferlegen lassen will, und seien sie auch noch so nachdrücklich vom Völkerrecht geboten.
Menschenrechte gelten für alle, auch für Palästinenser
Wer Israel das Recht auf freie Hand zuspricht, missachtet die Menschenrechte der Palästinenser. Ist man gegen Juden, wenn man das ablehnt? Ist man Antisemit, wenn man einen Waffenstillstand und humanitäre Versorgung der Zivilbevölkerung fordert? Natürlich nicht. Man erhebt politische Forderungen an den Staat Israel, um Schlimmeres zu verhindern. Wie Präsident Biden und Außenminister Blinken, sofern sie es ernst meinen – und nicht nur taktische Motive verfolgen.
Die ARD hat eine Meinungsumfrage zum Thema durchführen lassen. Auf die Frage, ob militärische Aktionen gerechtfertigt seien, wenn Zivilbevölkerung mit betroffen sei, antworteten 61 Prozent der Befragten mit „Nein“(ARD DeutschlandTrend, 2.11., befragt wurden übrigens ausschließlich deutsche Staatsbürger).
Alle Israelfeinde oder gar Antisemiten? Bestimmt nicht.
Aus all dem ergibt sich: schon aus rein humanitären Gründen muss die israelische Regierung zum Waffenstillstand bewegt werden und die Zivilbevölkerung geschützt werden. Dabei ist weder einbezogen, dass Israel seit 1967 Besatzungsmacht ist (woraus sich klar definierte Verpflichtungen ergeben), noch die lange Geschichte des Konfliktes seit 1948.