„Giftgas über Braunschweig“ – kann man etwas verteidigen, indem man es selber zerstört?

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Foto: pixabay

Ja, so unglaublich es klingt: es gab in den sechziger Jahren einen Geheimplan zur Verteidigung Deutschlands mittels Chemiewaffen. Er sah tatsächlich vor, dass Kampfflugzeuge der Bundeswehr Angriffe mit Giftgas im Raum Braunschweig fliegen und dort – über Braunschweig und die kleineren umliegenden Orte – Giftgas versprühen. Die geheime Planuntersuchung hieß „Damokles“ und wurde 1967 ausgearbeitet. In dem Planspiel  – was für ein beschönigender Begriff! – wurde angenommen, dass  die Truppen des Warschauer Paktes Deutschland West angegriffen und nun gerade den Raum Braunschweig eingenommen haben.

Und es gab ausführliche Pläne der Bundeswehr für eine chemische Kriegsführung. 1961 hatten Generale der Bundeswehr die Diskussion in der NATO angestoßen. Generalinspekteur Foertsch damals wörtlich: „Wir können auf solche Mittel nicht verzichten.“ Der Verteidigungsminister bat die USA bereits um die Lieferung von Chemiewaffen, in einem geheimen Papier des Führungsstabes der Bundeswehr war ein Vorrat des Feldheeres von „14.000 Tonnen chemischer Sprengmunition“ vorgesehen.  Ein Expertenteam namens „Studiengruppe ABC-Wesen“ war Teil von sehr detaillierten Plänen zur chemischen Kriegsführung.

Jahrzehnte lang abgestritten, dann aber von NDR, WDR und SZ nachgewiesen

All das haben vor sechs Jahren NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung veröffentlicht; sie hatten Unterlagen der Bundeswehr und der US-Regierung, die jahrzehntelang geheim waren, ausgewertet und veröffentlichten den Bericht „Geheimplan 1967: Giftgas über Braunschweig“ (NDR, 3.5.2018). Öffentlich wurden die Pläne vom Verteidigungsministerium in den 60er und 70er Jahren pauschal abgestritten, nun konnten sie bewiesen werden.

Heute wissen wir, dass die Pläne nicht weiter verfolgt und umgesetzt wurden. Aber kann uns das beruhigen? Welche Denkweise der damaligen Militärs offenbarte sich in den Plänen? Um Braunschweig zu verteidigen, muss man die sowjetischen Truppen mit einem Giftgasteppich überziehen und töten; dass dabei viele Braunschweigerinnen und Braunschweiger, sehr viele sogar, ebenfalls zu Tode kommen, ist bedauerlich, aber leider nicht zu vermeiden. Man hat dann sozusagen nur die verteidigt, die es nicht erwischt hat. Und das Hauptziel, das Ausschalten der gegnerischen Truppen, ist ja immerhin erreicht. Mit dem gängigen Begriff „Kollateralschaden“ kann man das Problem schon ein bisschen verharmlosen. 

Wen erinnert das nicht an das zynische Wort „Operation gelungen, Patient tot“? 

Wenn man sich in die Lage der damaligen Braunschweiger hineinversetzt, wird einem sofort klar: wir hätten keine Chance gehabt. Die NATO verfolgte (und verfolgt immer noch)  den Grundsatz „Stay home“; das bedeutet, wir hätten kaum flüchten können, weil das die Mobilität der NATO-Truppen behindern würde. Hätten wir darauf hoffen können, dass die Kampfflieger-Piloten sich geweigert hätten, Teile des eigenen Volkes zu opfern“? Vielleicht hätte ein Teil das tatsächlich getan, schließlich sind die Soldaten keine seelenlosen Kampfmaschinen; immerhin hätten sie Befehlsverweigerung begehen müssen und wären einem immensem Druck ausgesetzt gewesen, dem ein Teil wohl nicht widerstanden hätte.  Und außerdem: aus Sicht eines amerikanischen Piloten hätte das Bild vermutlich schon etwas anders ausgesehen. Und die NATO-Truppen einschließlich der deutschen hätten selbstverständlich – wie heute auch – im Ernstfall unter NATO-Kommando gestanden. 

Warum graben wir diese „alten Geschichten“ heute wieder aus? Weil wir fürchten, dass das Grundproblem nicht gelöst ist.  Es besteht nach wie vor – wenn auch wohl nicht mit Chemiewaffen. Politiker wie sogenannte Sicherheitsexperten fordern Kriegstüchtigkeit, sie sagen, wir sollten mit der Möglichkeit rechnen, dass die russische Armee in fünf Jahren in den Angriffsmodus geht. Sie fordern Aufrüstung, dass die Schwarte kracht. Dass es intelligenter wäre, durch umfassende diplomatische Anstrengungen die Rüstungsspirale zu durchbrechen und die Kriegsgefahr so weit wie nur möglich zu bannen – auf diese Idee scheinen die meisten Verantwortlichen nicht mehr zu kommen.

Der Ernstfall für Deutschland ist möglich, er kann aber verhindert werden

Und was ist dann, wenn – wodurch und durch wen auch immer – tatsächlich ein Krieg losbricht? Wenn etwa deutsche Taurus gegen den Kreml eingesetzt werden? Wenn „zurückgeschossen“ wird? Welche Ziele bei uns sind dann gefährdet? Immerhin wäre Deutschland dann die Drehscheibe für Hunderttausende NATO-Truppen, die nach Osten geschickt werden, etwa über die A 2. Und wer entscheidet dann darüber, ob die neuen Raketen, die nächstes Jahr in Deutschland stationiert werden sollen, gen Russland gestartet werden? Vermutlich werden deutsche Stellen dann nicht einmal gefragt, jedenfalls gibt es in den Vereinbarungen keinerlei Festlegungen für diesen Fall.

Kurz: uns Deutschen droht im Kriegsfall eine ähnliche Ohnmachtslage wie den Braunschweigern im Planspiel „Damokles“. Dass das – leider – nicht übertrieben ist, zeigt der ehemalige Militärberater von Kanzlerin Merkel, General a.D. Vad in seinem Büchlein „Ernstfall für Deutschland“, wo er anschaulich das Szenario eines möglichen Kriegs beschreibt. Wir werden in einem weiteren Artikel näher darauf eingehen. Soviel ist allerdings schon klar: Wer seinen Verstand einigermaßen beieinander hat, kann gar nicht anders als das Ziel zu verfolgen, einen Krieg mit allen Kräften zu verhindern. Deshalb hat der Titel von Vads Schrift auch die Unterzeile „Ein Handbuch gegen den Krieg“.

Quelle: NDR.de vom 3.5.2018

Buchtipp: Erich Vad: Ernstfall für Deutschland – ein Handbuch gegen den Krieg, Westend – Verlag, 15 Euro

1 Kommentar

  1. Das war 2018, aber 1963 ist ja auch schon laenger her:
    https://www.ndr.de/geschichte/Bundeswehr-plante-frueher-Chemiewaffen-Einsatz,chemiewaffen216.html
    und
    https://www.sueddeutsche.de/politik/kalter-krieg-bundeswehr-plante-chemiewaffen-einsatz-1.3965615
    SZ:
    Der Hintergrund: Die Bundeswehr ging davon aus, dass der Warschauer Pakt, sollte er Westdeutschland und die Nato angreifen, Chemiewaffen einsetzen würde. … So plante ein Kreis hochrangiger Offiziere 1962 bis mindestens 1968 detailliert einen möglichen Einsatz von C-Waffen – auf Weisung des Generalinspekteurs und in Rücksprache mit der Spitze des Ministeriums.
    [snip]

    Was denkt sich ein Russe, der sowas liest? „Lange her, nie benutzt“?

    Die Uranmunition der Alliierten hat im Kosovo, im Irak (in der Ukraine?) vermutlich Leukaemie ausgeloest…

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