Historiker/-innen sind Wissenschaftler/-innen, die der historischen Wahrheit verpflichtet sind. Diese gilt es seriös zu publizieren und nichts wegzulassen. Dieses oberste Gebot der wissenschaftlichen Seriösität haben die Verantwortlichen in der Gedenkstätte Wolfenbüttel verletzt.
Zur neuen Dauerausstellung in der Gedenkstätte Wolfenbüttel liegt ein stattlicher, fast 300 Seiten starker Hochglanz-Katalog vor: „Recht. Verbrechen. Folgen. Das Strafgefängnis Wolfenbüttel im Nationalsozialismus“, opulent bebildert, der von Martina Staats und Jens-Christian Wagner im Göttinger Wallstein-Verlag herausgegeben wurde. Er bietet nicht nur einen Einblick in zahlreiche Opferbiographien und den beklemmenden Alltag im NS-Strafvollzug, sondern analysiert dessen Bedeutung im faschistischen Terrorsystem. Das wissenschaftlich fundierte Werk wird ergänzt und vertieft durch Essays zur unmittelbaren Nachkriegsgeschichte in Wolfenbüttel und zur schwierigen Aufarbeitung der Vergangenheit nicht nur bei den Überlebenden, sondern auch bei den Kindern und Enkel aller Opfer.
Was aber fehlt, ist die Geschichte der Gedenkstätte selbst. Der Kampf um die Erhaltung des düsteren Erinnerungsorts bleibt ausgespart. Im Vorwort wird nur kurz auf das „bürgerschaftliche Engagement“ in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts verwiesen, das den geplanten Abriss verhindert habe. Dass es sich um einen zähen Kampf mit den niedersächsischen Justizminister Remmers (CDU) handelte, in den schließlich Bundespräsident Weizsäcker zugunsten der Gedenkstätte eingriff, bleibt unerwähnt. Vor allem fehlt der Name des Mannes, ohne den die Gedenkstätte heute nicht mehr existierte: Dr. Helmut Kramer, Richter am OLG Braunschweig. Nur in zwei Fussnoten, die seine Forschungen zur NS-Justiz betreffen, wird der heute Neunzigjährige erwähnt.
Offensichtlich im Zusammenhang mit dem Verschweigen der Person Helmut Kramers steht ein Richtungswechsel in der Aktivität der Gedenkstätte. Galt sein Hauptinteresse den Tätern und ihrer Nachkriegsbiographie, so liegt nun das Schwergewicht der Forschung auf den Opferbiographien. So wichtig die auch sein mögen: Auf diese Weise bleiben die Täter verschont. Kramer hatte die Absicht, über die juristischen Täter in den Roben, also in den Gerichten, zu ermitteln. Er wollte das nationalsozialistische Tätersystem der Verurteilung zuführen. Denn viele der Täter haben später in der BRD Karriere gemacht. Ein Beispiel dafür ist der gesellschaftlich hoch geachtete oberste Richter Geiger, dessen Fall Kramer aufgearbeitet hat. Im Übrigen ist kein einziger NS-Richter in der BRD verurteilt worden.
Selbst wenn die Täter im Justizdienst nicht mehr am Leben sind, so wäre es doch nicht nur um der Gerechtigkeit willen unerlässlich, begangenes Unrecht nicht zu verschweigen, auch wenn es nicht mehr gesühnt werden kann. Hinzu kommt, dass aus der NS-Justiz-Geschichte nur gelernt werden kann, wenn das den Juristen zur Verfügung stehende Instrumentarium, das, wie es sich gezeigt hat, schwerwiegend missbraucht werden kann, rechtshistorisch aufgearbeitet wird, um darüber zu lehren und daraus zu lernen.
Dieser Aufgabe scheinen die Verantwortlichen in der Gedenkstätte nicht gewachsen zu sein. Damit wird eine vorurteilsfreie Aufarbeitung und öffentlichkeitswirksame Darstellung der Schuld in der NS-Justiz nicht möglich sein. Vielleicht ist das aber auch heute noch, 75 Jahre nach der Befreiung, politisch nicht gewollt. Dagegen hätten sich die verantwortlichen Wissenschaftler*Innen wehren müssen.
Lesen sie hier die historisch belegten Tatsachen: „Zur Entstehung und Entwicklung der Gedenkstätte Wolfenbüttel“ von Helmut Kramer.
„Wer nicht beizeiten, noch unter dem ungetrübten Himmel von Rechtsstaat und Demokratie in Kritik, Widerspruch und Zivilcourage übt, wird dazu erst recht unter einem autoritären Regime weder bereit noch in der Lage sein.“
Dr. Helmut Kramer
Frau Gerlach irrt: Die Geschichte der Gedenkstätte fehlt im Katalog nicht. Im Gegenteil: Dem Thema sind 44 Seiten (!) gewidmet. Das bürgerschaftliche Engagement, das den Abriss der ehemaligen Hinrichtungsstätte verhinderte und auch heute noch eine große Rolle spielt, wird an zahlreichen Stellen erwähnt (außer im Vorwort etwa auch auf den Seiten 204, 220 und 228), und auch das Engagement von Herrn Kramer wird auf S. 220 explizit erwähnt – mit einem Zitat von ihm aus einem Interview, das das NDR-Fernsehen 1986 mit ihm führte. Dieses Interview ist in der Ausstellung übrigens in Gänze zu sehen.
Auch die Karrieren der Täter in Gerichten, Staatsanwaltschaften und im Justizdienst (samt Kontinuitäten nach 1945) werden nicht ausgespart: Breit berichtet der Katalog darüber und stellt exemplarische Biographien vor – etwa auf den Seiten 30-33, 100-103, 154 f., 180-182 und 196-199.