Gedanken im Dezember

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Erzählungen

von Meinhard Miegel

Trotz aller Dissonanzen besteht nicht nur unter den politischen Parteien sondern auch zwischen diesen und der Bevölkerung insgesamt ein bemerkenswerter Gleichklang. Alle sind sich einig: Es muss sich etwas ändern. Eine neue Erzählung muss her, eine, die den Menschen wieder ein lohnendes Ziel gibt und sie beflügelt. Denn die bisherige Erzählung hat sich erschöpft. Sie vermag nichts und niemanden mehr zu entflammen.

Was aber ist die bisherige Erzählung? Sie ist denkbar schlicht. Seit Beginn des industriellen Zeitalters heißt es: durch die fortwährende Mehrung materiellen Wohlstands zu fortwährender Mehrung individuellen Glücks. Konsumiere und Du bist glücklich! Soll diese Erzählung wirklich beendet werden?

Offenbar nicht. Trotz aller Rufe nach dem beflügelnden Neuen wird nämlich eifrig an den alten Fäden weitergesponnen. Politik und Gesellschaft postulieren, was sie schon seit Generationen postulieren. Auch wenn zumindest in den wirtschaftlich entwickelten Ländern diese Erzählung immer weniger in ihren Bann schlägt, wird sie unverdrossen weiter erzählt: Glück durch Konsum.

Doch lohnt es sich dafür zu leben? Ist es ein Lebensziel, eine immer größere Wohnung, ein immer schnelleres Auto und einen immer glänzenderen Weihnachtsbaum zu haben? Manche mögen das bejahen. Aber in einem Land wie Deutschland erklärt die Mehrheit: Eigentlich haben wir genug. Wir wollen neue Ziele.

Wie aber soll die neue Erzählung gehen? Zuvörderst muss sie ehrlicher sein als die bisherige. Je länger, je mehr wird nämlich deutlich, dass das Versprechen „Glück durch Konsum“ unter den gegebenen Bedingungen nicht zu halten ist. Zum einen sind die tradierten Formen der Wohlstandsmehrung an Grenzen gestoßen. Besonders global ist der Wohlstand einer Minderheit zur unerträglichen Bürde für die Mehrheit der Menschen, für Natur und Umwelt geworden. Und zum anderen spüren selbst die derzeit Privilegierten, dass die Beziehung zwischen Wohlstand und Glück eher flüchtig ist.

Soll die neue Erzählung dauerhaft mitreißen, wird sie Horizonte weiten müssen. Die bisherige Erzählung ist eine Erzählung von Gewinnern für Gewinner, zu denen in den entwickelten Ländern zwar die meisten, in allen anderen Ländern jedoch nur kleine Minderheiten gehören. Das ist zu wenig. Eine Erzählung, die an nationalen Grenzen endet und nur hinter hohen Mauern Gültigkeit hat, ist im 21.Jahrhundert ein Anachronismus und damit unglaubwürdig. Die neue Erzählung muss raumgreifend sein und alle einschließen.

Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass sie nicht länger menschliches Glück weitgehend mit materiellem Wohlstand verknüpft. Denn der ist in einer endlichen Welt endlich. Vielmehr müssen neue Quellen von Glück und Zufriedenheit erschlossen werden, Quellen jenseits von Brot und Spielen. Den Völkern der entwickelten Länder dürfte dies besonders schwer fallen, haben sie doch seit vielen Generationen hierin keine Übung mehr. Aber ohne solche neuen Quellen haben auch neue Erzählungen keine Chance. Dann wird es weitergehen in dem ermüdenden und letztlich frustrierenden Trott, durch materielle Güter Glück schaffen zu wollen, dann wird der lauter werdende Ruf nach einer neuen Erzählung ungehört verhallen.

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