Freiraumbestuhlung

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Haselstrauch. Foto: Pixabay

Von Annie Sonnenberg

Die Frau undefinierbaren Alters sucht. Sie ist so sehr auf der Suche, dass sie sogar auf der Suche danach ist, wonach sie eigentlich sucht: Hofft sie auf die Erkenntnis des richtigen Weges, oder hält sie Ausschau nach sich selbst? Oder ist das vielleicht identisch? Im Grunde, sagt sie sich, möchtest du nur wissen, was sich alles nicht verändert hat. Im Grunde hoffst du doch, dass noch alles beim Alten geblieben ist, wenigstens hier.

Einiges hat sich geändert in letzter Zeit. Großtante Lillys Vermächtnis hat sie unvermittelt mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und damit eine Lawine ausgelöst: Sie hat sich entschlossen, in die Kleinstadt zurückzuziehen, um einen neuen Anfang zu wagen. Sämtliche Kollegen haben ins Standardhorn geblasen: Tu’s nicht, ein altes Haus verschlingt horrende Summen, das wäre idiotisch. „Lächerlich“, hat selbst ihre engste Kollegin gesagt. „Tritt das Erbe nicht an. Die Bruchbude ist keinen roten Heller wert. Da zahlst du noch zu!“ Aber ihr Traum lässt sie nicht los, auch wenn ihr noch nicht klar ist, was mit dem Häuschen geschehen soll. Manchmal bedarf es einfach eines Quentchens guten Mutes. Manchmal ist es richtig, über seinen Schatten zu springen.

Jetzt, kurz vor den Osterferien, leuchtet unter dem nachmittäglich sichtbaren Frühlingsvollmond Forsythiengelb neben frischem Grün der Rosengewächse. Eine Hummelkönigin kurvt durch einen der Gärten, an denen der Fußweg die Heimkehrende vorüberführt. Die Freude, die die Farbenpracht transportiert, ist ansteckend; dies ist in jedem Jahr der Moment, in dem das Erwachen der Flora und Fauna ihr Glaubensleben reflektiert und die Auferstehung des Lebens feiert. Sie schüttelt sich: Der Kontrast zwischen der alten Welt ihrer leidenschaftlich religiös geprägten Jugendzeit und der Arbeitswelt, in der sie in berechtigtem Bemühen um Toleranz so unverbindlich über Religion sprechen muss, dass ihre Spiritualität tief in ihr Inneres gerutscht ist, wo sie sie in ein gut gepolstertes Verwahrkästchen gelegt hat und von wo sie sie nicht wieder heraufholen will, ist zu groß. Aber ihre Freude bleibt.

Das alte Haus wirkt interessant und in seiner verfallenen Unordnung erstaunlich anheimelnd. Die einsame rot-weiß karierte Gardine hinter einem der kaputten Butzenscheibenfenster zwinkert ihr regelrecht zu. Sie steht im Garten des Häuschens und orientiert sich: Hier hat sie als Kind gespielt. Das Haus grenzt an zwei Seiten an ein Wäldchen, an der dritten Seite steht ein weiteres kleines Haus, das lange leergestanden hat. Offenbar ist es wieder bewohnt, denn im Garten steht eine Dame in langen bunten Gewändern und flicht aus Weidenzweigen einen Korb. So hat ihre Tante es auch immer getan. Der frische Duft der nassen Zweige beruhigt sie und gibt ihr das Gefühl eines ungebrochenen Bandes: Sie gehört hierher.

Die Frau im bunten Kleid wirkt energiegeladen; es scheint, als sei sie mit dem Garten verwachsen, und zugleich so, als leite sie ihn. Als sie sich umdreht und grüßt, hat die Großstädterin den Eindruck, sie tanze.

„Guten Morgen“, sagt sie. „Ich bin die neue Nachbarin.“ Die Gartendame schaut sie an, und sie setzt hinzu: „Mirja“. Ihr ist, als gewänne sie ihre Identität zurück. Aber der Name bringt auch all das wieder an die Oberfläche, was sie eigentlich verheimlichen und vergessen will.

„Manja“, antwortet ihr Gegenüber mit einem Nicken. Sie ruht in sich selbst, während ihre Finger über die ersten Blüten eines Pflaumenbaumes streichen und gezielt zwei, drei Zweige eines knorrigen Salbeibusches kappen. Der Busch strahlt völlige Balance aus. „Der Winter war hart dieses Jahr“, sagt sie. „Aber jetzt ist er vorbei.“
„So ist die Natur“, erwidert Mirja, die nicht weiß, was sie auf diesen scheinbaren Gemeinplatz antworten soll.
„Deine auch?“, zwinkert Manja. Mirja erschrickt: Manja scheint sie so gut zu durchschauen, dass es ihr unheimlich ist. Dennoch fühlt sie sich von der Fremden angezogen.

„Ich habe in zwei Wochen Geburtstag“, sagt sie. „Bis dahin müsste ich schon mal den ersten Raum hergerichtet haben. Hast Du Lust, vorbeizukommen?“

„Ja“, sagt Manja. „Aber ich kann nicht. Ich bin nicht da.“

„Du ziehst aus?“ Mirjas Erschrecken ist ihr anzumerken.

„Nein“, lacht Manja. „In einem halben Jahr bin ich wieder da. Ich hab‘ was vor. Das mache ich jedes Jahr.“

Mirja sieht so erleichtert drein, dass beide lachen müssen. Schließlich ergänzt Manja: „Wir holen die Feier nach. Ich trage den Termin gleich mal ein.“ Manja zieht ein Handy aus der Hosentasche, und Mirja kommt es erstaunlich vor, dass diese Frau, die die Kraft gewachsener Erde ausstrahlt, mit elektronischen Geräten hantiert. Aber für Manja existiert hier offenbar kein Widerspruch. Nachdem sie den Eintrag gespeichert hat, geht sie zur Schubkarre, zieht einen Haselsteckling heraus und reicht ihn Mirja.

„Willkommen“, sagt sie.

In diesem Augenblick gleitet eine Wolke zur Seite, und ein Lichtstrahl lenkt Mirjas Blick an den Rand des Wäldchens hinter Manja, hinter den Gärten. Dort wachsen Himmelsschlüsselchen, die in der Sonne aufleuchten. Und Mirja erkennt: Es ist Leben in dem Raum zwischen den Stühlen, in dem sie herumgestochert hat auf ihrer Suche! Raum mit festem Grund für Füße. Für einen Standpunkt. Auch für den ihren. Jetzt hat sie gefunden, und was sie gefunden hat, wird sich finden.


Die Autorin:

Annie Sonnenberg, Jahrgang 1972, schreibt seit über 40 Jahren in ihrer Freizeit Romane, Kurzgeschichten und Gedichte; zuletzt erschien der Lyrikband „Reflexionsräume“. Einige ihrer Werke hat die Selbstverlegerin als Hörbücher auf ihrem Youtube-Kanal veröffentlicht. Die Mini-Anthologie „Wasserspiegel“ wurde als Dauerspendenaktion konzipiert; die Autorin spendet auf unbestimmte Zeit ihr dafür anfallendes Honorar an „United4Rescue – Gemeinsam Retten e.V.“.

Als Küstenkind im Binnenland, als Wahlmünsterländerin im protestantischen Mitteldeutschland: Unterschiede erfahrener Lebenswelten stellen für die Autorin Ansätze zu gelebter Ökumene und gegenseitiger Inspiration dar. Ihre Bücher sind von Symbolik durchzogen und eröffnen rätselfreudigen LeserInnen überraschende spirituelle wie intellektuelle Blickwinkel; sie feiern das Bleibende im Wandel der Zeiten.

Im Sommer 2024 erscheint ein Kurzgeschichtenband. Geplant sind außerdem bereits die nächsten beiden Romane, wie die Autorin mit einem Augenzwinkern erzählt: „Die Konzepte habe ich schon ewig in petto. Empfehlt mich gern weiter, das ist für Selfpublisherinnen wichtig – sobald mein Hauptberuf mir die Muße gönnt, geht’s weiter!“

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