Der lange Weg im Namen des Volkes – ein Rückblick

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– Rückblick auf den Prozess gegen die Polizeidirektion Braunschweig wegen der Räumung einer Blockade gegen den NPD-Aufmarsch 2005 (ein Zeugenbericht – Name ist der Redaktion bekannt)

 

Wir erinnern uns gut. Die Bilder sind eingebrannt und werden viele BraunschweigerInnen noch Jahrzehnte begleiten. Am 18.6.2005, es war kurz nach Mittag, wenige Stunden nach einer Kundgebung des Bündnisses gegen Rechts, die Stadt in Aufruhr, viele junge und alte Herzen aufgewühlt – denn Nazis marschierten wieder durch unsere Stadt. Immer selbstbewusster geben die Rechten sich, missbrauchen ihre Kinder für die Image-Kampagne, schießen Portrait-Aufnahmen von den protestierenden Bürgern am Straßenrand, spielen hassverherrlichende Musik und singen zum Abschied die Erste Strophe des Deutschlandliedes.

 

An dieser Stelle soll nicht gefragt werden, warum der Staat versagt – und damit ist nicht nur das NPD-Verbot gemeint, sondern eine sträfliche Vernachlässigung von Jugendarbeit und die Perspektivenlosigkeit vieler Menschen – das Opfer für Profitverherrlichung und Konzernhörigkeit. An dieser Stelle geht es um die Frage: Was ist die Aufgabe eines Bürgers, wenn der Staat versagt?

 

 

An dem besagten sonnigen Mittag im Juni 2005 beantworteten viele Hundert BraunschweigerInnen die Frage spontan für sich und setzten sich den Nazis in den Weg – auf der Langen Straße, zwischen Mediamarkt und Cinemaxx. Jung und Alt ließen sich nieder, friedlich und unbewaffnet, wehrlos gegen die Nazis, aber, was in dieser Situation relevanter ist: wehrlos gegenüber den vielen Hundertschaften von Beamten in Kampfmontur, die an diesem Tage die Aufgabe hatten, das Recht der Nazis zu schützen.

 

Ca. 40 Minuten saßen die Bürger friedlich auf der Straße. Man war „gekommen um zu bleiben“.

 

Als zwei Jahre zuvor die Polizei vor dem gleichen Problem stand, entschied der damalige Polizeipräsident Ahlers: Die NPD wurde zurück geschickt. Vom Radeklint zurück hätte der rechte Aufzug die gleiche Streckenlänge zurückgelegt und genauso viel Zeit gehabt, mit Kundgebungen vor sich selber, Fahnenschwenken und hasserfüllter Musik von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen.

 

Die Zeiten ändern sich. Mit gezogenen Schlagstöcken (oder wie die neuen schwarzen Knüppel jetzt heißen: Einsatzmehrzweckstöcke=EMS) kommt die Armee der gepanzerten Befehlsempfänger auf die Sitzenden zugelaufen. Hinter ihr rollen die Wasserwerfer. Man erkannte, wie die ersten Reihen mit durch die Luft fliegenden Knüppeln „bearbeitet“ wurden. Alle Vorderen sprangen auf und traten und stolperten über die dahinter Sitzenden. Der einzige Fluchtweg verläuft über die Körper der Mitmenschen.

 

Die Rechnung geht auf: In den wenigen Sekunden, in denen die Polizei angreift und Gewalt gegen am Boden Sitzende ausübt, wurde aus den hinteren Reihen der Demonstranten eine Flasche in Richtung Polizei geworfen. Eine Flasche, die den gepanzerten und behelmten Polizisten nichts anhaben konnte aber eine Flasche, die sehr wohl die Mitdemonstranten verletzen konnte.

 

Diese erste Flasche war zudem die offizielle Legitimation für den Wasserwerfer-Einsatz, der im Folgenden so einige Demonstranten (welche die Flasche natürlich nicht geworfen hatten) über den Asphalt pustete. Da dieses wohl so absehbar war, fuhren die Wasserwerfer gleich hinter den Reihen der Polizisten und warteten nur auf diese Gegenwehr. Die Kommandeure hatten den Auftrag zu warten, bis die ersten „Angriffe“ auf die Polizei erfolgten.

 

Als dann nicht nur die Schlagstöcke im Einsatz waren, sondern auch die Wasserwerfer in die Menge schossen, flogen einige wenige weitere Flaschen, die z.T. zwischen den am Boden liegenden Demonstranten zerschellten.

 

In der Pressemitteilung der Polizei vom 18.6.05 heißt es: „[…] Auf der Langen Straße hatten gewalttätige Demonstranten mit Steinen und Flaschen die Einsatzkräfte beworfen. Die Einsatzkräfte setzten aus Notwehrgründen Wasserwerfer ein.“ Und Polizeipräsident Döring wird zitiert: “Die Einsatzkräfte haben mit Langmut und Besonnenheit gehandelt. Leider kam es anlässlich einer Blockade zu Angriffen gegen Polizeibeamte“.

 

Dass es anders war wussten alle BraunschweigerInnen, die dabei waren und sich durch die Pressearbeit der Polizei verhöhnt fühlen mussten.

 

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Doch warum gab es so wenige Fotos und Video-Filme?

 

Beim Angriff der Polizei brach Panik aus. Jeder musste erst einmal schauen, dass er seine eigene Haut rettete, weswegen es nur Aufnahmen aus einiger Entfernung gab. Zudem verhinderte die Polizei (z.T. mit Gewalt) die Foto- und Filmdokumentation des polizeilichen Handelns. Rechtliche Grundlage ist, dass keine Portrait-Fotos von Beamten veröffentlicht werden dürfen, und ein Fotografieren ist die Vorstufe davon.

 

Die Polizei selber hantierte mit vielen Kameras. Die Filme lagen als Beweis der ordentlichen Arbeit dem Landtag vor und mit viel Mühen auch der Rechtsvertretung der klagenden Bürger. „Zufällig“ wird die Dokumentation der Gewaltanwendung auf die Sitzenden aus der einzig sinnvollen Position (von der Seite) nach wenigen Sekunden abgebrochen. Alle anderen Kameras zeigen nur die Rücken der nach vorne drängenden Polizisten.

 

Das, was in der Sekunden-Sequenz mit Schlagstöcken zu sehen war, bezeichnete die Polizeidirektion später ausweichend „eine Kreiselbewegung um den lotrecht angebrachten Quergriff“ als „distanzerzeugende Maßnahme“ – wohlgemerkt gegenüber auf dem Boden Sitzenden, die gar nicht ausweichen konnten.

 

Was durch den Einsatzbefehl ausgelöst wurde, war für eine einigermaßen erfahrene Einsatzleitung zu 100% voraussehbar und also hingenommen. Menschen fielen über Menschen. Der Wasserwerfer wurde NICHT gezielt gegen „Flaschewerfende“ eingesetzt. Aus der hinteren Reihe in der Flucht geworfene, einzelne weitere Glasflaschen sausten vorbei an den Köpfen der zuvor sitzenden, jetzt stolpernden, liegenden und flüchtenden Menschen.

 

Was nicht absehbar war: Es gab NUR eine Reihe von Leichtverletzten, keine Schwerverletzte.

 

Für die von der Braunschweiger Zeitung organisierte Diskussionsveranstaltung „Stadtgespräch“ in der Brunsviga entzogen sich die Befehlsgeber ihrer Verantwortung und traten nicht an. Die Polizeisprecher Geese und Grande hörten sich geduldig Schilderungen von Gewaltübergriffen der Polizei an, von Unverhältnismäßigkeit und Brutalität.

 

Leider wurde der eigentliche Knackpunkt nicht aufgeklärt: Der Angriff der Polizei begann nach einer Abwägungsphase, ohne Provokation. Nach Außen wurde der Gewalteinsatz als Reaktion auf Flaschen- und Steine-Würfe dargestellt, indem man lediglich vom Wasserwerfereinsatz sprach und somit geschickt durch Weglassen von Information die Wahrheit verdrehte. Dabei waren diese Würfe lediglich die REAKTION auf den Angriff der Polizei und die Legitimation dafür, das zusätzliche Mittel „Wasserwerfer“ einzusetzen.

 

Angesichts der vielen Schilderungen von Jung und Alt zeigten sich die Polizeisprecher als Freund und Helfer: In der Braunschweiger Zeitung (Newsclick 25.6.05) heißt es: „Geese und Grande konnten zu den Einzelfällen keine Aussage machen. Sie zeigten sich aber betroffen. „Wenn so etwas passiert ist, schäme ich mich dafür“, sagte Geese. Beide Polizeisprecher versprachen rechtliche Aufklärung.“

 

Um den interessierten Braunschweigern deutlich zu machen, wie sehr die Polizeisprecher hier das wirkliche Interesse der Polizei nach rechtlicher Aufklärung verkannten, folgt nun eine kleine Zusammenfassung der Hauptpunkte des Verwaltungsgerichtsprozesses über die Polizeigewalt auf der Langen Straße.

 

Verwaltungsgericht
Strafanzeigen gegen die Verantwortlichen schlugen fehl, bzw. waren nach Erfahrungen in ähnlichen Fällen wenig aussichtsreich. Die Staatsanwaltschaft ist letztlich politisch weisungsgebunden. Tatsächlich stellte sie im Verlauf alle Ermittlungen zu diesem Polizeieinsatz ein. Der vielversprechendere Weg war über das polititsch unabhängige, formal nur dem Recht verpflichtete Verwaltungsgericht.

 

Dafür braucht man erstmal Geld, was durch die Unterstützung vieler BraunschweigerInnen kein Problem war. Zusätzlich war es nötig, dass eine Person klagte, die ganz persönlich vom Polizeieinsatz betroffen und geschädigt ist. Vertreten wurden die Braunschweiger von einem im Versammlungsrecht versierten Göttinger Anwalt.

 

 

Polizei versucht eine richterliche überprüfung zu verhindern und die Arbeit des Gerichtes sowie die Arbeit des Anwaltes zu behindern.

 

Anzweiflung der prinzipiellen Zulässigkeit
So wurde argumentiert, dass das Verwaltungsgericht keine Kontrollinstanz für eingestellte staatsanwaltliche Ermittlungen sei, und deshalb solle das Gericht die Klage nicht zulassen.

 

Die Verletzung eines Klägers wird angezweifelt.
Wie es aus medizinischen Gründen angeraten ist, stellte sich ein betroffener Kläger spät abends noch in der Unfallambulanz vor, da Schmerzen im Ellenbogen zunahmen. Diese Verletzung zog er sich zu, als Menschen über den Kläger liefen und stolperten. (Nicht bewiesen werden konnte und sollte, dass ein Polizist, der neben ihm stand als er wieder freie Sicht hatte, mit gezogenem EMS, d. h. Schlagstock, direkt beteiligt war.)

 

Nach Diagnose einer Prellung ohne Bruch wurde die Verletzung ausreichend mit einem Salbenverband versorgt. Eine weitere ärztliche Versorgung oder weitere Vorstellung war nicht angebracht, zumal die Beschwerden am folgenden Tag nachließen und der Kläger als Arzt sein „eigener Hausarzt“ war.

 

Dennoch versuchte die Polizeidirektion die Verletzung und die Dokumentation anzuzweifeln, um eine rechtliche Aufklärung zu verhindern.

 

Die Polizei stellt prinzipiell die Glaubwürdigkeit des Klägers in Frage
So schreibt die Polizeidirektion am 29.11.2005: „[…] Einen „Schlagstockeinsatz“ hat es hingegen seitens der Polizei nicht gegeben, es ist weder „Knüppel in die Hand“ noch „Knüppel frei“ angeordnet worden, §69 SOG kam in dieser Form nicht zur Anwendung. Vorstellbar ist, dass einzelne eingesetzte Polizeibeamte ohne entsprechenden Einsatzbefehl vom EMS ([…]) Gebrauch gemacht haben. Soweit dies der Fall gewesen sein sollte, lagen aber die Voraussetzungen des §32 StGB vor. Dies gilt auch in den Fällen, soweit sich Polizeibeamte gegen versuchte Gefangenenbefreiungen durch vermummte Störer wehrten.[…]“.

 

Dabei konnte es in der Verhandlung nicht darum gehen, dass der Beamte X den Demonstranten Y geschlagen hätte, da dazu der Beamte X bekannt sein müsste (Was die Polizei durch fehlende sichtliche Erkennungsnummern der vermummten Beamten zu verhindern weiß).

 

Da durch Ansicht der Polizei-Videos bewiesen werden konnte, dass die Polizisten in der ersten Reihe sehr wohl ohne Notwehr „den Knüppel in der Hand hatten und von diesem Gebrauch machten“, erklärte man dies spitzfindig zu Kreiselbewegungen und als distanzerzeugende Maßnahme (gegen sitzende Menschen).

 

Die Polizei versucht die anwaltliche Vertretung zu behindern und sie persönlich zu diskreditieren.
Die Videoaufnahmen der Polizei wurden dem Innenausschuss des Landtages auf deren Bitten ausgehändigt. Die Polizeidirektion schreibt am 16.2.06: „[…] Eine überlassung von Kopien dieses lediglich zu internen polizeilichen Dokumentationszwecken aufgenommenen Bildmaterials an Dritte und/oder deren interessierte Rechtsanwälte ist in Anbetracht des §95a GO-LT nicht zulässig.[…].“

 

Da man aber nichts zu verbergen hatte (oder soll man besser sagen: nichts Relevantes auf den Filmen dokumentiert hatte?) schlug man vor, dass man dem Braunschweiger Gericht die Filme zukommen lässt und das Gericht sie dann in Anwesenheit des Anwaltes anschauen könnte.

 

Der Polizeidirektion war aus eigenen Recherchen bekannt geworden, dass der Anwalt unter anderem bei einer Bildungsveranstaltung des globalisierungskritischen Netzwerkes ATTAC ein Seminar mit dem Thema „Rechtliches Basiswissen für politische Aktionen“ hielt. Offen äußerte sie daraufhin die Vermutung, dass das Beschaffen von Polizeivideos zu Lehrzwecken der wirkliche Hintergrund der Klage sei (was gleichzeitig dem Anwalt Unseriosität, wenn nicht geplante strafbare Handlungen unterstellte.)

 

Polizeidirektion zweifelt die Anwesenheit des Klägers an
Besonders skurril wurde es dann, als noch kurz vor der mündlichen Verhandlung und zu deren Beginn die Polizeidirektion ihr letztes Register zog: Kann der Kläger nachweisen, dass er zum Zeitpunkt der Räumung überhaupt da war? Dabei meinte die Polizeidirektion beweisen zu können, dass der Kläger nicht anwesend war, da er auf (von der Polizei selber vorgelegten) Fotos nicht zu erkennen sei.

 

In der mündlichen Verhandlung wurde ausgeführt, dass man es von Rädelsführern kenne, dass sie eine Blockade selber wieder verlassen, wenn genügend Menschen gefolgt sind.

 

Alle Versuche, die richterliche Aufklärung zu verhindern, scheiterten.
Die Klage wurde zugelassen, die Bescheinigung der Unfallambulanz wurde anerkannt, dem Anwalt wurden die Videobänder überlassen und letztendlich sah man aufgrund von Befragungen des Klägers und von geladenen Zeugen es als ausreichend plausibel an, dass der Kläger die Wahrheit sagte und in der entscheidenden Situation vor Ort war.

 

Das Gericht stellte fest: Die Räumung der Sitzblockade war rechtswidrig.

Hintergrund ist, dass die Polizeiführung offenbar unzureichend über das Versammlungsrecht informiert war. Es drehte sich entscheidend um die Frage: Ist eine solche spontane Sitzblockade durch das Versammlungsrecht geschützt oder ist sie eine Störung, der nach Grundsätzen und mit Methoden der Gefahrenabwehr begegnet werden darf.

 

Die Argumente der Polizei waren:

 

  • Es fehlten politische Aussagen, die für eine Versammlung nötig seien. Die Parole „Nazis Raus!“ sei erst nach der ersten oder zweiten Durchsage skandiert worden, vorher nicht. Parolen wie „wir sind friedlich, was seid ihr?“ stellten keinerlei politische Meinungsäußerung dar. Die Parole „Ihr könnt nach Hause fahr´n!“ stelle sich auch nicht als politische Aussage dar, sondern als „hooligan-typisches“ Verhalten.

  • Auch eine Fahne der Antifa, die auf einer Filmsequenz zu sehen war, wurde am Rande eines NPD-Aufmarsches nicht als politische Meinungsäußerung gedeutet, sondern als Zeichen einer Gruppenzugehörigkeit.

  • In den 45 Minuten zuvor habe man sich gegenüber gestanden und niemand habe eine Versammlung angemeldet.

  • Die Blockade könne nicht als Versammlung gelten, weil damit das Versammlungsrecht der NPD unterlaufen würde.

  • Auch wenn man das Greifen des Versammlungsrecht in der Situation nicht erkannt habe, so solle man doch die Androhung zur Räumung gleichsetzen mit der Auflösung einer Versammlung.

 

Sehr hilflos scheint noch die Äußerung der Polizei, dass sich die Menschenansammlung bedrohlich auf die Polizei zubewegt habe. Tatsächlich war es so, dass die ersten Demonstranten beim Betreten der Kreuzung ca. 20 Meter auf die Polizei (ca. 70 Meter entfernt!) zugingen, da dort die Häuserschlucht Schatten und Schutz vor der prallen Sonne bot. Eine weitere Annäherung ging in den folgenden 40 Minuten von der Sitz(!)-Blockade nicht aus, womit diese Argumentation eher eine Beleidigung des gerichtlichen Verstandes darstellt.

 

Die Klägerseite konnte überzeugen, dass die Sitzblockade sehr wohl eine politische Aussage hatte. Das Mitführen von Transparenten (wie es die Polizei wohl fordert) kann erst dann empfohlen werden, wenn lange Holzstangen nicht zu Körperverletzungen führen können, also wenn das Vertrauen entsteht, dass die Polizei von solchen Gewaltaktionen abstand nimmt.

 

Es wurde angeführt, dass die Aktionsform der Sitzblockade gerade bei einem NPD-Aufmarsch eine politische Aussage besitzt, eben den Nazis nicht die Straße zu überlassen, was sie selber als „Kampf um die Straßen“ nach ihrem 3-Säulen-Konzept anstreben.

 

Es sei keinesfalls so, dass der Kläger mit der Teilnahme an der Sitzblockade primär das Ziel verfolgte, genau dieser NPD-Versammlung technisch das Demonstrationsrecht zu verhindern. Wichtig sei die gesamte politische Aussage, die mit der Sitzblockade ausgedrückt wurde. Dass andere Menschen in ihrem Versammlungsrecht beschnitten wurden, musste von ihm billigend in Kauf genommen werden.

 

Das Gericht entschied:
Die Sitzblockade stand unter dem Schutz des Versammlungsrechts. Eine Auflösung der Versammlung erfolgte nicht. Der Einsatzbefehl war rechtswidrig, somit auch alles was dem folgte.

 

Das Gericht stellte klar, das eine Kollision von zwei Versammlungen nicht die letztere in Frage stellt. Es gibt also kein „Erstanmelderprivileg“.

 

In der Urteilsbegründung heißt es u.a.:
„Auch den Teilnehmern von Gegendemonstrationen steht der Schutz nach Art. 8 GG zu. Eine Gegendemonstration genießt den vollen Schutz des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit, solange sie sich kommunikativer Mittel bedient und nicht ausschließlich dem Zweck dient, die Veranstaltung, gegen die sie sich richtet, mit physischen Mitteln zu verhindern. Dies kann aber nicht bedeuten, dass eine Gegendemonstration schon dann dem Schutz des Art. 8 GG entzogen wäre, wenn sie auch das Ziel verfolgt, mit der eigenen Versammlung den angemeldeten Versammlungsort der anderen Versammlung „physisch in Beschlag zu nehmen“. Zu den zulässigen kommunikativen Mitteln einer Versammlung gehört auch die physische Präsenz an einem bestimmten Ort.“

 

Das Urteil steht im Einklang mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2001, bei dem Atomkraftgegner sich kurzzeitig an ein Werkstor gekettet hatten und unter dem Schutz des Versammlungsrechts standen. Die Symbolik mit dem Ziel, auf die politische Aussage aufmerksam zu machen, war ausschlaggebend.

 

Die Polizei spielte zwar eine nächste Instanz an, verzichtete aber dann und es blieb bei der Niederlage.

 

Dabei hat die Polizei nicht nur juristisch in einer Streitfrage verloren. Die Polizeidirektion Braunschweig hat sich insofern bloßgestellt, wie sie sich entweder schlecht fortgebildet hat oder das Versammlungsrecht einfach nicht für so wichtig hielt.

 

Was aber aus diesem kleinen Rückblick klar wird:
Die Polizei zeigte kein Interesse an einer sachlichen und rechtlichen Aufklärung, so wie sie es den Bürgern zuvor durch ihre Sprecher Geese und Grande vermitteln ließ. Damit verlor sie leider auch Vertrauen in der Bevölkerung.

 

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Fazit:

1) Rechtliche Schritte gegen Fehlverhalten der Polizei machen Sinn!
Parallel zu der hier beschriebenen Klage wurde gegen den „Braunschweiger Kessel“ geklagt und in zweiter Instanz gewonnen. Der Braunschweiger Kessel gelangte aufgrund der gerichtlichen Klarstellung und der Medienöffentlichkeit in den Grundrechte-Report.

 

In der Braunschweiger Zeitung vernimmt man den Polizeisprecher:
„Aber aus den Gerichtsurteilen haben wir Lehren gezogen.“ In vergleichbaren Situationen werde künftig von vornherein das Versammlungsrecht angewendet – und nicht mehr wie im Juni 2005 das Gefahrenabwehrrecht, mit dem die Polizei die Einschließung begründet hatte.
Und: „Ich habe für künftige Einsätze die Weisung gegeben, jede Polizeimaßnahme nach dem Versammlungsrecht zu prüfen“, erklärt Polizeipräsident Harry Döring. Das gelte auch für nicht angemeldete, spontane Versammlungen.

 

Bedenken gegenüber einem Rechtsweg wurden zunächst geäußert, da ein Scheitern der Klage (aus welchen Gründen auch immer) der Polizei den Rücken stärken würde.

 

Es ist jedoch so, dass ein erfahrener Anwalt in den Wochen und Monaten merkt, wenn ein Erfolg unwahrscheinlicher wird. In diesem Fall könnte der Kläger die Klage zurückziehen und das Gericht kann keinen Urteilsspruch fällen.

 

2) Eine spezialisierte Rechtsvertretung lohnt sich.
Die Kosten, die erstmal aufgebracht werden müssen (1000,- bis 2000,- Euro incl. Gerichtskosten) lassen sich durch Bündnisse schultern und werden im Falle eines Erfolges zurückerstattet. Und für diesen Fall kann diese Woche das komplette Geld an die „Klagegemeinschaft“ zurücküberwiesen werden.

 

3) Dokumentation ist wichtig.
Es sollte gelingen, dass bei möglicher drohender Polizeigewalt eine Foto- und Videodokumentation organisiert wird. Hierbei ist zum einen die rechtliche Grundlage des eigenen Handelns zu beachten, sowie, dass eine Dokumentation durch Zivilbürger die Persönlichkeitsrechte anderer Zivilbürger verletzen kann und die Polizei hohes Interesse haben könnte, in den Besitz dieser Dokumente zu kommen.

 

(Und wenn man tatsächlich von der Polizei überrannt wird, dann sollte man möglichst noch schnell ein nettes Erinnerungsfoto von sich selber machen, mit einem kreisenden Polizeiknüppel im Hintergrund. Ist ja dank Handytechnik auch in Paniksituationen gut möglich …)

4) Eine Fortführung der Diskussion um die „Gewaltfrage“ ist wichtig. Es ist kaum bestreitbar, dass in dieser Situation die Flaschenwerfer nicht nur ungeschützte Mitbürger gefährdet oder gar verletzt haben, sondern der Polizei einen großen Dienst erwiesen haben. Durch sie konnte (vermeintlich legal) die Polizei ihre Gewalt gegenüber den couragierten Sitzenden eskalieren (während sich die Flaschenwerfer selbst in sicherer Entfernung wussten).

 

Es ist sicher eine große Aufgabe der „Linken“, mit verschieden radikalen Widerstandsformen umzugehen. In einer Situation, in der viele Menschen, quer durch die Bevölkerung, jung und alt, sich zusammen finden in einer Aktionsform des friedlichen, gewaltlosen Widerstands, ist die Radikalisierung durch eine kleine Minderheit auch in den Reihen der radikalen Linken offen zu diskutieren. Da die Flaschenwürfe ja keine Tat einer „organisierten radikalen Linken“ war, sollte eine Diskussion ermöglichen, dass Demonstranten andere Demonstranten in der jeweiligen Situation von Gewalt abhalten.

 

Auch zu diskutieren gilt, ob die „Flaschenwerfer“, die der Polizei einen solchen Dienst erwiesen haben, tatsächlich richtige Demonstranten waren. Nicht erst seit Heiligendamm weiß man von „agents provocateurs“, also Zivilpolizisten, die zu einer Eskalation beitragen.

 

5) Information ist wichtig!
So sollten nicht nur die Teilnehmer einer Sitzblockade über ihre Rechte informiert werden. Es ist auch zu überlegen, ob die Teilnehmer einer solchen Blockade dazu beitragen können, dass die verantwortlichen Beamten die Rechtslage kennen. Bis auf die juristischen Peinlichkeiten hat die Polizei ihr Ziel erreicht: Sie hat (wenn auch mit Gewaltanwendung gegenüber Wehrlosen) das Demonstrationsrecht der NPD verteidigt imd wurde dafür von Braunschweigs Oberbürgermeister und Niedersachsens Innenminister hoch gelobt. Das Verhalten war rechtswidrig, obwohl man es hätte besser wissen können. Bestraft wurde kein Beamter. Warum sollte sich die nächste Polizeiführung nicht wieder dumm stellen? Wieder wird lange geklagt, und auch wenn wieder das falsche Verhalten festgestellt wird, wird wohl wieder kein Polizist bestraft.

 

Es muss also erreicht werden, dass die Polizei das Versammlungsrecht wirklich anwendet.

6) Das war erst der erste Schritt!
Das Gericht hat nicht darüber geurteilt, ob die ART der Räumung unverhältnismäßig war, da alles viel einfacher und klarer war, nämlich rechtswidrig.

 

Es muss also erstmal gelingen, dass das Versammlungsrecht angewendet wird, die Versammlung ggf. aufgelöst wird und dann geschaut wird, wie die Polizei „räumt“. Denn das Urteil besagt nicht, dass die Polizei die Menschen dort hätte sitzen lassen müssen.

 

Es bedarf also weiterer rechtlicher Klärung über das WIE.

 

Der Verhältnismäßigkeit würde wohl entsprechen, wenn man den friedlichen Bürgern nicht mit Gewalt entgegen tritt. Dabei ist zu beachten, dass es einen Unterschied gibt, ob man sich bei einer Sitzblockade „einhakt“ oder frei sitzt. Das „Einhaken“ wird regelmäßig als Widerstand gegen die Staatsgewalt oder als Nötigung gedeutet, was eine Legitimation für Polizeigewalt sein kann.

 

Den Nazis zukünftig nicht die Straße zu überlassen kann also bedeuten,

 

  1. Die Polizeiführung handelt vernünftig und schickt in ähnlichen Fällen die NPD zurück. Die Rechtsgrundlage ist dafür vorhanden.

  2. Die Polizeiführung räumt unter Anerkennung des Versammlungsrechtes und muss sich einer rechtlichen Klärung der Verhältnismäßigkeit aussetzen. Daraus kann resultieren, dass mit nicht-brutaler Vorgehensweise der Aufwand nicht mehr zu bewältigen ist.

  3. Die sicher unerfreulichste Variante: Die Bürger verlieren immer mehr das Vertrauen in die Polizei. Polizeigewalt schreckt viele „gemäßigte“ Bürger davon ab, zu demonstrieren und der Widerstand radikalisiert sich. Ohne dass radikaler Widerstand an dieser Stelle per se verurteilt werden soll: Rechtsradikalismus ist ein gesellschaftliches Problem und große Teile der Bevölkerung wollen, können und sollen sich dagegen aussprechen. Es wäre dramatisch, wenn diese Menschen ausgeschlossen würden.

 

Es könnte das Ziel anderer sein!

 

Soweit ein langer Bericht über einen mühseligen Weg. Ein kleiner Schritt von vielen.

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Das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig

 

 

Berichterstattung der Braunschweiger Zeitung zum 18.06.2005:

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LEITARTIKEL: Minister taucht ab
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Artikel zum Gerichtsurteil Lange Straße:

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NPD-Aufmarsch: Polizeieinsatz illegal Verwaltungsgericht Braunschweig: Gegendemonstranten waren durch Recht auf Versammlungsfreiheit geschützt

Artikel zum „Kessel“

Kein Untersuchungsausschuss wegen des „Braunschweiger Kessels“ Innenausschuss sah Polizeivideo über NPD-Demo – CDU und SPD einig
Strafanzeigen gegen Polizeiführung – Vorwürfe gegen Präsident Harry Döring und Inspektionsleiterin Cordula Müller: Freiheitsberaubung

Reaktion auf beide Verfahren

„Braunschweiger Kessel“ am Pranger Menschenrechtsorganisationen führen Polizei-Einsatz beim NPD-Aufmarsch 2005 im Grundrechte-Report auf
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