Bericht aus Bumsdorf V – Braunschweig, die ewig verstimmte zweite Geige

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Wochenendticketfahrer, solltest du einmal in die Verlegenheit kommen, in Braunschweig Zwischenstation machen zu müssen, so lass Dir gesagt sein: Verlasse niemals den Bahnhof. Es ist dies zwar kein besonders einladender Ort, doch erhöht sich bei Betreten der City die Wahrscheinlichkeit, dass Du auf einen gebürtigen Braunschweiger triffst – und dieser ist in der Regel kein schöner Anblick. Seine Gesichtszüge sind verhärmt, seine Schultern hängend und sein Rücken gebeugt.

Das liegt daran, dass er einen Minderwertigkeitskomplex hat, weil er nicht in Hannover wohnt. Hannover ist nämlich nicht nur Landeshauptstadt, sondern hat auch mehr Einwohner, die erfolgreichere Fußballmannschaft, die größere Uni, die breitere Straßenbahn, einen richtigen Flughafen, die tolle Oper – und auch weltbewegende Ereignisse wie die Expo und die Chaostage finden immer an der Leine statt, niemals an der Oker. Oh, glückliches Hannover!

Diese alltäglichen Demütigungen versucht der Braunschweiger zu kompensieren, in dem er sich bemüht, das reinste Hochdeutsch der Republik zu sprechen (sauberer ist es nur in Gifhorn oder – ausgerechnet! – in dieser Stadt da hinter Peine, wo genau, da scheiden sich die Geister und streiten sich die Wissenschaftler).

Die Geschichte Braunschweigs gleicht einem Trauerspiel mit überlänge, war doch das Herzogtum jahrhundertelang auf keiner Landkarte zu finden (weshalb es auch nicht erobert werden konnte), bis es die moderne Kartographie endlich zustande brachte, auch derartige Details zu erfassen. Als inoffizieller Höhepunkt der Geschichte gilt die Verleihung der Staatsbürgerschaft an Adolf Hitler. Zu dieser Zeit trug es sich auch zu, dass Braunschweigs wahre Bestimmung erkannt wurde und zur deutschen Modell- und Vorzeigestadt gemacht werden sollte. Pseudomittelalterliche Vororte, gigantomanische Aufmarschplätze und allerlei Führerschulen für Nachwuchsnazis wurden errichtet: die Auswirkungen sind noch heute in der Mentalität der Bevölkerung deutlich zu spüren.

Der Braunschweiger versucht diese aus der unglückseligen Gegenwart resultierenden Komplexe zu vertuschen, in dem er mit Penetranz behauptet: Diese Stadt ist genau richtig, nicht zu groß und nicht zu klein“ – womit er in Wirklichkeit meint, dass sie groß genug ist, dass etwas los sein könnte, aber zu klein, als dass wirklich etwas passiert. Viele Braunschweiger verlassen deshalb die Stadt, am liebsten in Richtung richtiger Städte (bevorzugt Berlin oder Hamburg), um dann zumeist nach wenigen Jahren reuselig nach Niedersachsen zurückzukehren – und sich in Hannover anzusiedeln.

Also, Wochenendticketfahrer, solltest Du einmal in die Verlegenheit kommen in Braunschweig Zwischenstation machen zu müssen, dann setz Dich auf den Bahnsteig, schließe die Augen und denke an einen schöneren Ort, z.B. an Castrup Rauxel, oder an Herne-Wanne-Eickel … nein, nicht an Hannover: schön ist es da nämlich auch nicht, das Elend ist nur größer.

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Link zum letzten „Bericht aus Bumsdorf“

Mehr von Axel Klingenberg und anderen Braunschweiger Autoren:
„Bumsdorfer Gerüchteküche“ – Die Braunschweiger Lesebühne mit Axel Klingenberg, Roland Kremer, Daniel Terek, Hauke Trustorff und dem Stargast Hartmut El Kurdi

11. Oktober, 20.00 Uhr
Kaufbar, Bolchentwete 1, Braunschweig

http://www.drk-sprungbrett.de

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