Braunschweig: Ignorante Wirtschaftsfunktionäre: „Die Modellprojekte sind … gar keine Gefahr“

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Stühle hoch. Oder können sie nach dem "Braunschweiger Weg" wieder bald wieder unter den Tisch? Wohl eher nicht so schnell und vor allem nicht jetzt! Foto: NGG

Vertreter von Wirtschaftsverbänden verurteilen mit scharfen Worten das vorläufige Aus der geplanten „Modellprojekte“. Industrie- und Handelskammer, Arbeitgeberverband, Handelsverband, Dehoga-Kreisverband, Kaufmännische Union – selbst der Arbeitskreis Innenstadt hat den Brief an die Stadt, das Land und zwei Bundestagsabgeordnete unterschrieben. Das zentrale Argument: „Die Modellprojekte sind dank der hohen Auflagen aus unserer Sicht vornehmlich gar keine Gefahr.“ (laut BZ, 16.4.21)

Man reibt sich die Augen: da legt die Corona-Inzidenz in Braunschweig in zehn Tagen um ein Drittel auf 121,5 (Mitteilung der Stadt, Stand 15.4.) zu, in den umgebenden Städten und Kreisen schießen die Zahlen ausnahmslos in die Höhe, Salzgitter hat gar den landesweiten Spitzenwert von 369 erreicht, Wolfsburg liegt bei 184, Peine bei 186, Gifhorn bei 146. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn in dieser Situation der „Braunschweiger Weg“ beschritten worden wäre, der ja ausdrücklich vorsah, dass das Projekt am Donnerstag (15.4.) beginnen sollte, und zwar offen für Einwohner der gesamten Region.

Immerhin hatte die Gefahrenabwehrleitung unter Dezernentin Arbogast es vorausschauend schon am 12.4. abgelehnt, Braunschweig aus der Liste der Hochinzidenzgebiete zu streichen. Die Wirtschaftsfunktionäre scheint das nicht anzufechten. Im Gegenteil – sie setzen nun auch noch die Politik unter Druck, die geplanten Verschärfungen des Infektionsschutzgesetzes zu verhindern („irritiert uns die geringe Gegenwehr“, BZ 16.4.)

Berufung auf die Wissenschaft: eine Nebelkerze

Dabei tun sie so, als setzten sie auf die Wissenschaft: Die Modellprojekte sollten „wissenschaftlich … begleitet und ausgewertet werden.“ Haben sie die Stellungnahme der Wissenschaftler der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie nicht gelesen? Die Wissenschaftler hatten gefordert, dass Modellprojekte nur eingesetzt werden sollten, wenn die Inzidenz unter 50 läge, und dass vor dem Beginn solcher Projekte zunächst dafür gesorgt werden müsste, dass Schulen und Kitas „stabil geöffnet“ seien. Offenbar interessiert das die Verfasser des Brandbriefes überhaupt nicht. Auch die Erfahrungen im Landkreis Tübingen, wo die Inzidenz inzwischen bei 147,4 liegt, werden in den Wind geschlagen.

All das verstärkt den Eindruck, dass es den Funktionären hier keineswegs um wissenschaftliche Erkenntnisse geht – sondern nur darum, die vermeintlichen eigenen Interessen ohne Rücksicht auf die prekäre Lage durchzusetzen.

Landesregierung: „wissenschaftliche Begleitung nicht darstellbar“

Und wie sieht es überhaupt mit der wissenschaftlichen Begleitung aus? Der Braunschweig – Spiegel hat bei der Landesregierung nachgefragt, was bei den genehmigten 14 Modellprojekten an wissenschaftlicher Begleitung und Auswertung geplant war – und eine ernüchternde Antwort bekommen:

„Eine wissenschaftliche Begleitung stellt insbesondere für kleine Gemeinden eine große Herausforderung dar, die in Anbetracht der sehr kurzen Laufzeit von drei Wochen … nicht darstellbar ist.“

Deshalb habe die Landesregierung entschieden, „die wissenschaftliche Begleitung, ohne wesentliche Vorgaben, als Standortbesonderheiten in dem Modellversuch aufzunehmen.“ (Mail der Pressesprecherin des Nds. Ministeriums für Soziales, 9.4.21)

Im Klartext soll das wohl heißen, dass es jeder Stadt überlassen bleibt, was sie unter wissenschaftlicher Begleitung verstehen will. Und dass das Land selber nichts vorbereitet und koordiniert hat. Dem entsprechend hat das Land nach eigener Auskunft auch keine Vergleichskommunen festgelegt, was die Wissenschaftler als notwendige Voraussetzung für den Gewinn wissenschaftlicher Erkenntnisse bezeichnet hatten. Lediglich einen „Erfahrungsbericht“ sollte jede Kommune zwei Wochen nach Abschluss des Projekts einreichen.

Stadt Braunschweig: „Mehr kann nicht gesagt werden“

Wir haben auch bei der Stadt um Informationen zur geplanten wissenschaftlichen Begleitung gebeten. Wir wollten insbesondere wissen,

– welche Personen bzw. Institutionen in Braunschweig für die wissenschaftliche Begleitung ausgewählt wurden,

– welche Vergleichsstadt man ausgesucht und kontaktiert hat

– und welche Erfolgs- und Abbruchkritierien man definiert habe.

Um es kurz zu machen: Trotz intensiven Mailverkehrs haben wir keine dieser konkreten Fragen beantwortet bekommen. Dabei wäre es doch einfach: Wenn man eine Kontrollstadt ausgewählt hätte, könnte man sie auch nennen. Wenn man eine Vereinbarung mit Wissenschaftlern geschlossen hätte, wäre die Angabe in zwei Sätzen mitzuteilen.

Stattdessen schreibt Stadtsprecher Keunecke in einer Mail vom 14.4.: „Hierzu verweise ich auf die Ausführungen im Konzept, insbesondere auf Seite 6.“ Aber dort findet man schlicht keine Antwort – im Unterschied zu anderen Städten wie etwa Oldenburg. Wenn Herr Keunecke dann ultimativ mitteilt, „Mehr kann dazu zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gesagt werden.“, muss man diese Aussage vermutlich sehr ernst nehmen. Wo nichts ist, kann man auch nichts mitteilen? Beruhigen kann das allerdings nicht.

Fazit: es ging bei der Aktion Modellprojekte offenbar bisher lediglich um Lockerungen und nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, die Lockerungen im großen Stil erst ermöglichen können. Die Politik hat unter starkem Druck zum falschen Zeitpunkt diese Lockerungen ermöglichen wollen. Der Hinweis auf Wissenschaft war Vorwand und diente nur zur Beruhigung. Wie gesagt: das gilt bisher. Für die Zukunft sind Modellprojekte unter den richtigen Voraussetzungen und mit systematischer Vorbereitung sinnvoll – gerade auch in der „Stadt der Wissenschaft“!

Siehe auch: Der „Braunschweiger Weg“ in die Sackgasse?

2 Kommentare

  1. Der AAI und seine Verbündeten in der Stadtverwaltung möchten uns also zu Versuchskaninchen machen, Sterberisiko inklusive. Für einen Versuch, der gar keiner ist. Allein aus egoistischen Motiven. Danke auch!

  2. die Macher der mies zusammen gefrickelten luca-App haben derweil ausgesorgt und über 20Mio Euro für Lizenzen eingenommen.
    https://netzpolitik.org/2021/digitale-kontaktverfolgung-fast-20-millionen-euro-fuer-luca/

    Was für ein Wahnsinn….!!! Was könnte man im sozialen Bereich mit dem Geld machen? es wird immer gejammert, das der Sozialstaat so viel Geld kostet und hier haut man mal schnell 20 Mio raus und bläst sie fragwürdigen Leuten in den Po.

    Von einem Lockdown sehe ich nicht viel, die Mobilität der Bürger liegt so ca bei 80 Prozent des Vor-Corona-Niveaus. Lediglich die Freizeit- und Kultureinrichtungen sind geschlossen, der Konsum läuft überwiegend über das Internet.
    Man wird leider gezwungen über das Internet zu bestellen und zerstört damit den lokalen Handel. Aber letztendlich hing der wegen den ganzen Filialisten und künstlich aufgeblasenen Shopping-Malls eh schon am Tropf.
    Die Leidtragenden sind nur die, die lieber klassisch Waren einkaufen wollen und dringend Sachen benötigen.

    Der AAI stimmt auch nur mit den Großen mit, wie man am Beispiel Burgpassage sehen kann. da werden einst angenehme und überdachte Einkaufspassagen künstlich schlecht gemacht und entmietet. Auf ein mal soll das was vor 30-40 Jahren gebaut wurde schlecht sein, City-Point das Gleiche, dem wurde letztendlich mit der Schlossattrappe ganz gezielt der Todesstoß gegeben. Die Kritiker und Schlossparkfreunde von damals haben jedenfalls recht gehabt, die Händler gingen nur rüber auf die andere Seite vom Bohlweg und der Rest der Innenstadt verödete immer mehr. Letztendlich gehts doch nur noch um Konsum und Anschein, egal wo, die Schwächen des ungebremsten Wachstums im Turbokapitalimus zeigen sich immer mehr.

    Die Party ist vorbei, das Corona-Virus mutiert, wird gefährlicher und auch nach zweifacher Imfung sind schon Infektionen in Altenheimen aufgetreten. Wenn wir jetzt nicht wirklich einen echt strengen Lockdown machen und unsere Kontakte in Beruf und Privatleben noch mehr einschränken, dann wird das nie was.

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