Fotografie, Film, Sound, Text, Zeichnung,Performance bis zum 10. September 2023 im Museum für Photographie
Wie geht das? Eine Buchseite in den dreidimensionalen Raum übersetzen?
Das zeigen uns in dieser bunt-ironischen, klugen und emotional ergreifenden Ausstellung sieben Künstler*innen aus unterschiedlichen Kulturräumen.
Es sind die eigenen Buchprojekte, aus denen sich hier – räumlich konzentriert – die künstlerische Vielschichtigkeit des Ausstellungs-Konzepts Buch_Raum für den Besucher entfaltet.
Diese klug kuratierte Schau gehört aktuell mit zu den sehenswertesten Kunstausstellungen in unserer Stadt. Und natürlich darf sich Besucher*in auch darauf verlassen, beim Rundgang in diesem kompakten Kraftzentrum der Braunschweiger Ausstellungskultur vielleicht manchmal verblüfft, aber immer inspiriert und sicher nie enttäuscht zu werden.
Die Kurator:innen Franziska Habelt und Finn Schütt haben einen scharfen Blick für Spannung und Wechselwirkungen und sie fordern uns mit dieser Ausstellung auch heraus. Wie kommen wir als Publikum, als schauende Besucher mit diesen so unterschiedlichen künstlerischen Konzepten und Positionen zurecht? Was machen sie mit uns, was lösen sie bei uns aus? Was vielleicht auf den ersten Blick harmlos anzuschauen ist, verwandelt sich möglicherweise in ein Labyrinth oder wird eine Traumkammer und/oder es wartet eine verblüffende Erkenntnis auf uns?
Ein zentrales Ausstellungs-Thema ist die Beschäftigung mit Familie, mit Familiengeschichte, mit Identität und deren Wahrnehmung und auch das Hinterfragen von stereotypen Bildwelten und sozialen Rollenmustern.
Herkunft und Vergangenheit – Migration und jüdische Diaspora. Wie wird ihre/unsere Identität und Gegenwart dadurch bestimmt – das sind zentrale Punkte im künstlerischen Schaffen von Sarai Meyron (*1995), aufgewachsen in Israel und den USA. Sie hat ihr Studium an der HBK mit Auszeichnung abgeschlossen, lebt und arbeitet nun in Braunschweig. Deutschland weit ist sie bereits auf wichtigen Ausstellungen präsent.
Ihre Audio-Installation “No Words of Warmth/Keine Wärmenden Worte” im Garten des Museums hat natürlich den engen Bezug zum gleichnamigen Buch. Angeregt dazu wurde sie durch die Wiedergutmachungs-Unterlagen ihrer deutschen Großmutter, die als 14jähriges jüdisches Kind durch einen Kindertransport nach England der Vernichtung entging.
Per QR-Code liest Sarai Meyron Ausschnitte aus ihrem Buch und man spürt unmittelbar dessen emotionale und intellektuelle Kraft. Nur eine Erkenntnis von vielen für den Besucher: Erinnerungskultur muss lebendig sein, uns allen gehören, darf kein formalisiertes politisches Statement sein, das man mit emotionalen Öffnungszeiten versieht, mit angemessen routinierter Feierlichkeit bei notwendigen Gelegenheiten abhandelt und dann wieder zu den wichtigen Dingen übergeht.
Pedro Guimarães (*1977) lebt in Portugal, getrennt von seinem Sohn. Sind sie gemeinsam im Urlaub, am Strand, fotografieren sie, zeichnen lustige Kreaturen, backen Pfannkuchen, die wie gruselige Monster aussehen, die sie dann mit Zucker oder Nutella essen. Sie spielen zusammen, tun so als gäbe es nicht die riesige Leere, die sie an den meisten Tagen ihres Lebens voneinander trennt. Es ist eine spielerische, kindliche, doch auch ebenso ernsthafte und in sich selbst dramatische Kunst, die der Künstler und sein Sohn gemeinsam umsetzen und sich dadurch nahe kommen.
Wild und witzig, hintergründig, aber mit einem “Touch of Loneliness”, das ist die bunte fotografische Bilderkunst von Zuzana Pustaiová (*1990). Unterschiedliche Identitäten und Rollen, die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden sind ihr Thema. Mit ihrem ausgeprägten Sinn für Ironie deckt Zuzana Pustaiová kulturelle Stereotypen auf, die mit Geschlecht, Alter, Tradition und sozialer Integration zusammenhängen.
Hiền Hoàng (*1990) ist eine Künstlerin aus Vietnam, die in Hamburg lebt und arbeitet. Ihre Mutter war Vertragsarbeiterin in der DDR und die ausgestellten Arbeiten sind inspiriert von Familiengeschichte. In ihrer Kunst spürt Hiền Hoàng verarmten Identitäten nach, verarbeitet die westliche Wahrnehmung asiatischer Kultur und deren Einfluß auf die eigene Identität.
Die südafrikanische Multimediakünstlerin Lebohang Kganye (*1990) hat nach dem Tod ihrer Mutter 2010 den künstlerischen Fokus auf ihre persönliche Familiengeschichte gerichtet. Beim Anschauen alter Fotoalben entdeckte sie ihre Mutter neu – als „individuell, modisch, entschlossen…“ Um selbst ein Teil dieses früheren Lebens ihrer Mutter zu werden und zu entdecken, stellte Kganye die Schnappschüsse ihrer Mutter nach, imitierte deren Haltung und Gesichtsausdruck, verwendete die gleichen Standorte, Kleidungsstücke und Lichtverhältnisse. Per Photoshop verschmolz sie dann ihre Fotos mit den Originalaufnahmen von ihrer Mutter, und so entstand ein faszinierendes und kreatives Almalgam von „neuen“ Familienbildern, deren sehr persönliche und historische Ausdruckskraft und Spannung noch lange nachwirkt.
Kohei Kawantani (*1992) ist Autodidakt mit einer ganz eigenen Bildsprache. Für jedes seiner Projekte wählt der in Tokio lebende Künstler ein explizit eigenes Format, wie z.B. das Fotobuch „Tofu Knife“, in dem er sich mit der Wahrnehmung des fotografischen Bildes im digitalen Zeitalter auseinandersetzt.
HRTLND von Mads Holm (*1990) ist ein mit und durch GPS in ganz Braunschweig “begehbares” künstlerisches Projekt über das Verhältnis von realer und fiktiver Stadtraumgestaltung.
In einem Leerstand in unmittelbarer Nähe zum Museum wird unter dem Titel FIRST PAGES zusätzlich eine Auswahl von Fotobüchern von Studierenden der Hochschulen Hannover und Dortmund gezeigt.
Weitere Informationen auf der Website: Museum für Photographie, Helmstedter Str. 1, 38102 Braunschweig http://www.photomuseum.de