Wie die Lebenswelt verloren ging

0

Zum Lesen empfohlen: Peter Kurzeck: Vorabend

 Dass der Kapitalismus alle „idyllischen Verhältnisse zerstört“, behauptet Karl Marx im Kommunistischen Manifest von 1848. Wie das in unserer jüngsten Vergangenheit zuging, beschreibt minutiös Peter Kurzeck in seinem 2011 erschienen Werk (Roman kann man diesen autobiografisch geprägten Erzählstrom kaum nennen) am Beispiel des Lebens in einem oberhessischen Dorf und der nahe gelegenen Kleinstadt Lollar. Nur dass er den Einbruch der Moderne in eine überschaubare Welt weiter fasst als Marx: Nicht nur die sozialen Veränderungen werden registriert, sondern auch die Verwüstung und Verödung der Natur. Es ist eine kolossale Verlustgeschichte, die er hier in leichtem Erzählton, in gesprochener Sprache dem Leser zu Bewusstsein bringen. Kurzeck moralisiert nicht, er erzählt und beschreibt.

Einmal schreibt er nicht aus der Sicht der betroffenen Menschen, sondern der der Igel, die immer mehr dezimiert werden. Er schildert, wie der Ausbau der Bundes- und Schnellstraßen und der Autobahnzubringer sich auf die Fauna und Flora auswirkt. Das Lahntal verliert seine Vielfalt und wird zur Trasse. Und die Bewohner machen mit und nützen extensiv das neue Angebot an Verkehrswegen zu überflüssigen Fahrten, ohne zu merken, wie ihr Leben verarmt.

Da steht 1952 0der 1953 der Sechsjährige im heimischen Dorfladen und staunt über die Vielfalt der Waren, die ihm wie die Schätze der ganzen Welt erscheinen und seine Phantasie anregen: Dorthin, woher die glitzernden Gegenstände kommen, möchte er später einmal fahren! Und nur wenige Jahrzehnte später studieren die zu Konsumenten mutierten Zeitgenossen Abende lang das Angebot der Supermärkte und machen sich dann stundenlang auf Vergleichsfahrten von einem Einkaufparadies ins andere, um anschließend festzustellen, dass es anderswo noch billiger gewesen wäre.

Es ist keine heile Welt, in die das Flüchtlingskind Kurzeck 1950 kommt. Aber er hat seine neue Umgebung bis ins letzte Detail in sich aufgenommen; er beschreibt die von der Arbeit in der Maschinenfabrik ausgelaugten Männer wie ihre geduldigen Frauen. Und er schaut den Kindern zu, die oft ärmlich, aber noch in einer weitgehend intakten Natur aufwachsen, die erst allmählich zersiedelt und mit immer gleichen Einfamilienhäusern überbaut wird.

Und er fragt, angesichts dieser ungeheuren Veränderungen, nach der Zeit: Wo ist sie geblieben?

Kurzeck registriert, oft mit Witz und Ironie, die im weitesten Sinn kulturellen Veränderungen (zu denen auch der Umgang mit der Natur gehört) von der Nachkriegszeit bis in die frühen Achtzigerjahre. Wer einmal angefangen hat zu lesen, wird trotz der 1015 Seiten nicht so schnell damit aufhören.

Peter Kurzeck: Vorabend. Stroemfeld Verlag Frankfurt/M. 39.90 € ISBN 978 -3866000797

Interview mit Peter Kurzeck

Möchten Sie den Artikel kommentieren

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.