Was ist Bildung? Eine Diskussion darüber ist nötiger denn je

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Hans-Jürgen Bandelt

Aber eine solche Diskussion findet kaum statt im öffentlichen Raum des Sagbaren, der, wie wir durch Rainer Mausfeld gelernt haben, immer weiter eingeengt wird. Unter „Bildung“ rangieren gewiß solche Mitteilungen wie die in der Braunschweiger Zeitung vom 5. Juni: „Niedersachsen will bei Noten im Mathe-Abi nicht nachbessern“, obgleich die Ergebnisse der Schüler nicht zufriedenstellend gewesen sein sollen. Aber waren es denn die Aufgaben-stellungen? Und handelte es sich dabei um echte Elementarmathematik, an denen die Schüler in zu großer Zahl mehr oder weniger scheiterten? Das sind doch die Fragen, die man sich – gebildet oder nicht – stellen muß.

Trotzdem darf man den Schülern Glauben schenken, daß sie sich angesichts des Textwusts der karnevalistisch verkleideten Aufgaben überfordert fühlten. Viele haben nie in ihrem Schulleben wirkliche Elementarmathematik kennengelernt, ja nicht einmal das Rechnen hat man ihnen in der Grundschule nachhaltig beigebracht, da schon bald der Taschenrechner für alles zuständig wurde – und das erst recht im Abitur („Denken darf hier nur der Taschenrechner“, FAZ vom 28. Mai 2016). Das „Verschwinden des Faches aus der Fachdidaktik und dem Fachunterricht“ (Hans Peter Klein: „Abitur und Bachelor für alle – wie ein Land seine Zukunft verspielt“) ist mannigfach von Fachleuten beklagt worden. Diese Kritik lief und läuft ins Leere, denn die Bertelsmann Stiftung und die von ihr betreuten Bildungsminister und Schulsenatoren, die selber ohne Fachwissen sind, sieht es anders.

Die Negierung des Faches und damit die Herabwürdigung des Wissens ist das eine, die der Erziehung ist das andere: „Autorität ist entbehrlich? Wissen ist zweitrangig? Lebensnähe ist alles? Drei Irrtümer“, so formuliert es Jürgen Kaube (FAZ vom 19. Mai, Seite 33) in einem Ausschnitt aus seinem höchst lesenswerten Buch „Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?“ Genauer gesagt, sind es Irrtümer der Reformpädagogik, die sich in den berüchtigten „4 pädagogischen Urbitten“ (http://peterfratton.ch/?page_id=478) geradezu ironisch kristallisieren: „Erziehe mich nicht – sondern begleite mich, bringe mir nichts bei – sondern lass mich teilhaben, erkläre mir nicht – sondern gib mir Zeit zu erfahren, motiviere mich nicht – aber dich“. Diese sind in Deutschland offensichtlich in furchtbarer Weise auf fruchtbaren Boden gefallen. Lehrer sehen sich dabei – besonders unter unhaltbaren Inklusionsbedingungen – in die Rolle des Arbeitsblätter verteilenden Lernbegleiters gedrängt. Die „Lehrerdämmerung“ (Christoph Türcke, 2016) hat längst eingesetzt.

Die psychischen Folgen dieser verordneten Lehr- und Erziehungsverweigerung für die Kinder und Jugendlichen beklagt der Kinder- und Jugendpsychiater Martin Winterhoff in seinem neuesten Buch („Deutschland verdummt“) und macht klar und deutlich, daß so den Kindern das Entscheidende für ihre Persönlichkeitsentwicklung genommen wird: Bindung und Beziehung. Was er schildert und berichtet, erscheint denjenigen, die vor mehr als 20 Jahren die Schule verlassen haben, als verrückt und kaum zu glauben. Glauben und wissen wollte es auch nicht der Journalist, der für DIE ZEIT schreibt (https://www.zeit.de/autoren/S/Martin_Spiewak/index.xml) und sein Rezensionspamphlet in Stürmer-Manier einleitete mit den Worten: „Michael Winterhoff gilt als Thilo Sarrazin der Erziehung. Auch in seinem neuen Buch beschimpft er Eltern, Lehrer und Lehrerinnen.“ Nichts davon ist wahr: Sarrazin hatte in seinen frühen Publikationen tatsächlich rassistische Äußerungen abgelassen. Winterhoff beschimpft hingegen weder Eltern noch Lehrer und würdigt sie auch nicht herab, sondern fühlt mit ihnen und sieht sie als Opfer des Systems (https://www.youtube.com/watch?v=gjP8KD4eYQs). Und er benennt sogar die Organisation, die seinerzeit den Anstoß zum Umbau des Bildungssystems gab: die OECD.

„Wenn wir den Mut zu einer konsequent humanen Bildungspraxis fänden, den Mut, uns vom Gedanken der unmittelbaren Verwertbarkeit zu trennen, wäre die Basis für gelingendes Leben gelegt“, meinte Nida Rümelin 2013 in seinem Buch „Philosophie einer humanen Bildung“. Kaum jemand, der die aktuelle Bildungspolitik kritisiert, hat den Glauben an die Vernunft und die Kraft der Bildung verloren. Man redet sich ein, daß halt Irrtümer passiert sind und ein falscher Weg eingeschlagen wurde. Keiner mag sich selbst eingestehen, daß es so sein soll, wie es ist, und niemand aus der herrschenden Klasse die Absicht hat, daß das Leben der Mehrheit der Menschen ein gelingendes sein soll.

Wenn man die Festrede von Peter Bieri an der PH Bern („Wie wäre es, gebildet zu sein“, http://futur-iii.de/wp-content/uploads/sites/6/2015/05/Bieri-Bildung.pdf) nachliest, kann man nur konstatieren, daß von seinen 9 Punkten nicht einer auch nur im Ansatz in der Schule von heute eine Rolle spielt. Was wir heute dort vorfinden, verdient in aller Regel nicht den Namen Bildung, sondern ist ein 10-13 Jahre währendes Kompetenztraining von künftigem Humankapital (im OECD Sinne) für spätere Handlangerdienste und Verwaltungstätigkeiten. Selbst für eine Lehre in einem anspruchsvollen Handwerksberuf reichen weder die Lese-, Schreib- und Rechenfertigkeiten noch das Sozialverhalten und die Disziplin aus, die ein durchschnittlicher Abiturient mitbringt.

Alle drei Autoren der im vorhergehenden Wonnemonat Mai erschienenen Bücher zur Bildungssituation, (HP Klein, J Kaube, M Winterhoff) machten sich die Mühe in einem abschließenden Kapitel das niederzuschreiben, was ihrer Ansicht nach zu tun wäre angesichts der prekären Situation in Schule (und Hochschule). Nur, wer soll noch den Mut und die Zuversicht aufbringen, und wer hat die Macht, es zu tun und umzusetzen? Keine der politischen Parteien, die in Bund oder Ländern in Regierungsverantwortung stehen, sieht sich genötigt, dem potentiellen Wähler überhaupt zu erklären, was sie denn unter Bildung versteht. Auch eine Gewerkschaft, die sich in ihrem Namen für Erziehung und Wissenschaft einsetzt, irrlichtert schon lange im reformpädagogischen Nirwana und skandiert „Mehr Geld für Bildung“. Das gibt’s jedoch nicht: Die Absicht besteht, den Etat für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) 2020 um 533 Millionen Euro zu kürzen (letztlich zugunsten des Wehretats – schließlich rückt der Angriffskrieg auf den Iran näher).

Wer heute Bildung im humanistischen Sinne einfordert, wird als Ewiggestriger oder Rechter diffamiert und ausgegrenzt. Im linken Lager der Lämmer herrscht betretenes Schweigen. Im herrschenden Neoliberalismus ist eben alles, was wesentlich ist, angeblich alternativlos. Dem beugt man sich – ganz tief bis zur Selbstlüge. Und selbst, wo sich scheinbar Alternativen auftun, sind es nur Alternativen zwischen Spielarten des Neoliberalismus (regressiv á la Trump versus progressiv á la Clinton). BlackRock Inc. kommt mit beiden klar. Ihren Messias hat sie bereits nach Deutschland geschickt.

1 Kommentar

  1. Herr Bandelt wird bestimmt bei Vielen Zustimmung finden. Doch das Problem liegt nicht nur in der Politik, sondern meiner Meinung nach auch im Elternhaus. Lehrer werden nicht mehr mit dem Respekt behandelt, der angemessen ist. Sie müssen sich beschimpfen lassen und brauchen sehr viel Geduld, um einen geregelten Unterricht stattfinden zu lassen. Dabei begreifen die Schüler nicht, dass sie nicht für den Lehrer lernen, sondern für sich. Allgemeinbildung ist sowieso nicht mehr gefragt. Dafür muß aber jedes Kind ein Gymnasium besuchen, die Eltern haben es so gewollt. Es darf auch nicht sein, dass Bankangestellte die einfachsten Rechenaufgaben (200-50) nicht im Kopf ausrechnen können, sondern einen Taschenrechner gebrauchen. Oder eine junge Realschullehrerin, die Mathematik unterrichtet in allen Klassen, fragt, ob 12 Stück gleich ein Dutzend sind.
    Dazu fällt mir nichts mehr ein.

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