Ukraine-Krieg: Diplomatische Lösung undenkbar? Drei fatale Denkfehler

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Denkfehler Foto: Pixabay

Drei Viertel der deutschen Bevölkerung befürworten das aktive Eintreten des Westens (!) für eine diplomatische Lösung des Ukraine – Konfliktes. Dagegen scheint die deutsche Politik Verhandlungen als den Sündenfall schlechthin zu fürchten. Jüngst bezeichnete der Bundespräsident die russische Führung sogar als „das Böse“, dem man mit gutem Willen nicht beikommen könne.

Der schroffen Ablehnung der Diplomatie liegen mindestens drei Denkfehler zugrunde:

Denkfehler Nummer eins:

Wer Verhandlungen fordert, will in Wahrheit die Kapitulation der Ukraine“

Mag sein, dass es Vertreter gibt, die wirklich mit Verhandeln die bedingungslose Kapitulation meinen. Für die große Mehrheit der Befürworter von Verhandlungen gilt das aber keineswegs. Die meisten sprechen sich gleichzeitig sowohl für die – auch militärische – Unterstützung der Ukraine aus als auch für starke Anstrengungen, um dem Wahnsinn des Krieges durch Diplomatie ein Ende zu setzen. Meinungsumfragen beweisen das. Und auch in den wichtigsten Offenen Briefen und Resolutionen findet sich stets die Verbindung zwischen Unterstützung der Ukraine einerseits und Diplomatie andererseits. Dort ist keine Rede von einer Kapitulation der Ukraine, auch zwischen den Zeilen lässt sich – bei objektiver Betrachtung – kein derartiger Hintergedanke ausmachen.

Das Gleichsetzen von Diplomatie und Kapitulation ist also ein Denkfehler. Natürlich kann man nicht ausschließen, dass einige Gegner der Diplomatie nicht einem Denkfehler erliegen, sondern den Satz als bewusste Unterstellung nutzen, mit der dann jeder diffamiert werden kann, der sich für die Diplomatie ausspricht.

Denkfehler Nummer zwei:

Allein die Ukraine entscheidet darüber, ob und wie verhandelt wird“

Richtig ist natürlich, dass Verhandlungen nicht über den Kopf der Ukraine geführt werden dürfen, wie es etwa in Verhandlungen der USA mit den Taliban geschehen ist: die afghanische Regierung wurde hinterher über die Ergebnisse informiert – mehr nicht.

Trotzdem entspricht der Gedanke nicht der Realität, wie an folgendem Beispiel deutlich wird: im März gab es bereits Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland, die sogar zu ersten ermutigenden gemeinsamen Überlegungen führte (Stichworte „Neutralität“ und „militärische Garantien“). Bevor es aber zu offiziellen Verhandlungen in der Türkei kommen konnte, sprach sich die NATO am 23. März dagegen aus, wie der langjährige UNO-Diplomat Schulenburg mitteilt. Viel spricht dafür, dass der britische Regierungschef Boris Johnson nach Kiew fuhr, um dort dann auch persönlich auf den Abbruch der Verhandlungen hinzuwirken – mit Erfolg. Hier war es also gerade so, dass die USA und die NATO der Ukraine die Entscheidung abnahmen – anstatt sie ihr zu überlassen.

Inzwischen ist es überdeutlich, dass die Ukraine ohne die Unterstützung des Westens den Krieg nicht weiterführen könnte: Waffenlieferungen, Ausbildung von Soldaten, Bereitstellung von Zieldaten, Satellitenkommunikation, militärische Beratung, die sich immer weniger von einer aktiven Mitwirkung am Kriegsgeschehen unterscheiden lässt, schließlich umfangreiche finanzielle Unterstützung – all das zeigt, dass die Ukraine eben nicht allein kämpft. Würden die USA auch nur ankündigen, ihre Unterstützung zu drosseln, wäre das für die ukrainische Führung ein klares Signal. Sie könnte dann nicht entscheiden, wie sie will, sondern wie sie müsste. Der Westen hat damit aber auch eine gehörige Portion Verantwortung für das Geschehen übernommen. Und er kann sich nicht länger hinter der ukrainischen Führung verstecken. Er entscheidet durch sein Verhalten immer mit – so oder so.

Denkfehler Nummer drei:

Mit Russland kann man nicht verhandeln, weil es „das Böse“ ist“

Der Bundespräsident nennt die russische Führung also inzwischen „das Böse“ (Rede 28.10.22). Das erinnert an einen amerikanischen Präsidenten, der die Sowjetunion das „Reich des Bösen“ (Empire of Evil) nannte. Das war 1983. Derselbe Präsident, Ronald Reagan, vereinbarte nur vier Jahre später mit diesem angeblichen Reich des Bösen den INF – Vertrag, der eine ganze Kategorie von Atomraketen auf beiden Seiten abschaffte. Zugegeben, inzwischen war ein neuer Mann an die Spitze der Sowjetunion gekommen, Michail Gorbatschow. Aber wäre so etwas in einem Reich des Bösen überhaupt denkbar gewesen?

(Dass die Truppen des sowjetischen Vertragspartners damals in Afghanistan einen blutigen Interventionskrieg führten, konnte den Vertrag übrigens auch nicht verhindern. Und das war gut so.)

Lord Ponsonby nannte nach dem Ersten Weltkrieg in seinen „Zehn Grundsätzen der Kriegspropaganda“ unter Punkt 3.: „Der Führer des Gegners ist ein Teufel.“ Unter Punkt 9. folgt dann: „Unsere Mission ist ´heilig´.“ Es ist ganz einfach: Mit der Verteufelung des Gegners erscheint jedes Verhandeln irrsinnig und jeder Kompromiss undenkbar. Denn einen Teufel muss man besiegen und vernichten – umso mehr, wenn es um eine heilige Mission geht.

Dabei zeigen die Verhandlungen vom März (siehe Denkfehler Nummer zwei) wie auch die Verhandlungen über die Getreidetransporte, dass mit Russland durchaus verhandelt werden kann. Auch die Kubakrise, in der die Menschheit nahe am Atomkrieg war, wurde nur durch Verhandlungen (zwischen den USA und der Sowjetunion) abgewendet. Und das war möglich, obwohl die Sowjetunion nun wirklich nicht demokratisch war und den Westen als imperialistischen Gegner ansah, in dessen Ländern der Klassenfeind das Sagen habe. Und obwohl der Westen der Sowjetunion unterstellte, sie strebe die kommunistische Weltherrschaft an.

Wäre der Westen dem Bild vom Reich des Bösen gefolgt, wäre die gesamte Politik der Entspannung undenkbar gewesen, die immerhin zur Auflösung des Ost-West-Konfliktes führte und die Wiedervereinigung Deutschlands möglich machte.

Die abgrundtiefe Diffamierung eines Staates als „das Böse“ verhindert, dass Verhandlungen auch nur in Erwägung gezogen werden. Und sie ermöglicht es, jeden, der sie doch fordert, als Verräter zu brandmarken oder als jemanden, der dem Bösen Vorschub leistet. Damit kann dann jede Diskussion darüber, ob Verhandlungen nicht doch sinnvoll wären, im Keim erstickt werden.

Kann Deutschland in Sachen Diplomatie überhaupt etwas bewirken?

Der Westen hat inzwischen einen bestimmenden Einfluss auf die Ukraine (siehe oben). Die USA haben dabei die Führung, wobei die (West-)Europäer es leider systematisch verlernt haben, eigene Positionen zu entwickeln und auf die Führungsmacht wirklich Einfluss zu nehmen (wenn man einmal von Präsident Macron absieht, der aber allein auch wenig ausrichten kann). Aber was spricht dagegen, in der EU und vor allem in der NATO die Diskussion zu führen, wann und mit welchen Zielen Verhandlungen durchzuführen seien, natürlich in Abstimmung mit der Ukraine? Wenn etwa Deutschland, Frankreich und Italien in der NATO mit gemeinsamen Vorschlägen aufträten, wäre das nicht einfach beiseite zu wischen. Und schließlich ist das Meinungsbild auch in den USA inzwischen keineswegs völlig einheitlich.

Anstatt endlich eigenständige Positionen zu formulieren und einzubringen, leben viele europäische Regierungen aber in der ständigen Angst, dass das von „Putin“ als Spaltung und Schwäche gefeiert würde. Wenn man diese Angst zu Ende denkt, kommt heraus, dass man nur noch bedingungslos im Kielwasser der USA schwimmen könnte – und zwar auch dann, wenn sie europäische Interessen missachtet .

Dabei ist doch klar, dass bei solchen Verhandlungen der Westen und die Ukraine nicht eben aus einer Position der Schwäche verhandeln würden und Russland nicht aus einer Position der uneingeschränkten Stärke. Und grundsätzlich bedeutet Verhandeln nicht fortwährendes Nachgeben. Jeder Unterhändler hat die volle Kontrolle darüber, was er akzeptieren will und was nicht. Jederzeit. Das macht solche Verhandlungen ja so kompliziert und oft sehr langwierig. Denn es geht darum, einen tragfähigen Kompromiss zu finden, mit dem alle Seiten auf Dauer leben können – die Ukraine, der Westen und Russland.

Allerdings setzt das voraus, dass man das Ziel aufgibt, „das Böse“ zu vernichten. Oder, wie es eine deutsche Politikerin ausgedrückt hat, „Russland zu ruinieren“.

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