Oberst a. D. Richter: Stationierung neuer Raketen wird atomares Risiko für Deutschland erhöhen

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Symbolbild Foto: pixabay

Kanzler Scholz

Der Vorgang ist in der jüngeren deutschen Geschichte einmalig. Der Kanzler fährt in die USA, gibt zusammen mit der Regierung der USA eine Erklärung ab, nach der den USA erlaubt wird, ab 2026 weitreichende Waffensysteme in Deutschland zu stationieren. In dürren acht Zeilen. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass diese Waffen „über eine deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme verfügen“ werden. Sie reichen bis tief nach Russland hinein.

Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung

Der ausgewiesene Sicherheitsexperte Oberst a. D. Wolfgang Richter hat die Bedeutung dieser Entscheidung umfassend und differenziert untersucht, die Friedrich-Ebert-Stiftung hat die 15-seitige Studie veröffentlicht. Was Richter in der zurückhaltenden, nüchternen Sprache des Wissenschaftlers formuliert, müsste Kanzler Scholz in den Ohren klingen (wenn er es überhaupt hören will, was bezweifelt werden kann). Die Stationierung der Raketen werde Deutschland einer erhöhten Gefährdung aussetzen, im Konfliktfall wäre das atomare Risiko für Deutschland gravierend erhöht. Die Stationierung verändere das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland, sie bedrohe die Sicherheitsinteressen Russlands. Sie verschärfe die Konfrontation zwischen Russland und der NATO und gefährde die Wiederaufnahme strategischer Stabilitätsgespräche zwischen den USA und Russland. Das öffne die Schleusen für ein neues atomares Wettrüsten.

„Fähigkeitslücke“: nicht überzeugend

Dabei vermöge die (von Kanzler Scholz und Minister Pistorius verbreitete) Annahme einer „Fähigkeitslücke“ der NATO nicht zu überzeugen. Auch werde Deutschland „singularisiert“, denn in keinem anderen Land Europas sollen solche Raketen stationiert werden. Das Risiko läge also allein bei Deutschland, anders als bei der sogenannten „Nachrüstung“ im Jahr 1982.

Da die in Planung genommene Stationierung ausschließlich durch die USA geschehen soll und nicht im Rahmen der NATO, ist wohl davon auszugehen, dass die deutsche Regierung im Ernstfall nicht über den Einsatz der Waffen mitentscheiden könnte. Richter weist darauf hin, dass diese Frage wie auch andere in der gemeinsamen Erklärung nicht behandelt wird. Also nicht einmal in dieser unter Umständen lebenswichtigen Frage scheint Kanzler Scholz eine Sicherung eingebaut zu haben.

Entscheidung an Bürgern und Bundestag vorbei nicht hinnehmbar

Für Richter ist es „nicht hinnehmbar“, dass eine Entscheidung solcher Tragweite für unsere Sicherheit einfach nur als Akt der Regierung mitgeteilt wird, ohne sie im Vorfeld im Bundestag und in der Öffentlichkeit ausführlich zu diskutieren. Man könnte ergänzen: wenn Kanzler Scholz, der 1982 selber gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen in Europa demonstriert hat, der sich also schon einmal mit der Brisanz der Sache beschäftigt hat, nun dem Willen der USA nachkommt, Deutschland zu ihrem Flugzeugträger zu machen, dann kann er vor dieser ausführlichen Diskussion nur Angst haben. Sie könnte das Projekt gefährden.

Für eine breite ausführliche Diskussion braucht es eine gute Informationsgrundlage. Die Richter – Studie liefert sie. Nachfolgend veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung der Friedrich-Ebert-Stiftung die Zusammenfassung. Wer die Ergebnisse der Überlegungen Richters selber überprüfen möchte, findet die vollständige Studie unter dem Link am Ende der Zusammenfassung. Dort wird auch Wolfgang Richter kurz vorgestellt.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen der Richter – Studie (Juli 2024)

(Hervorhebungen durch a.m.)

Die USA und Deutschland haben am 10. Juli 2024 am Rande des Washingtoner NATO-Gipfels bilateral erklärt, ab 2026 amerikanische landgestützte Raketen (Long-Range Fires/LRF) in Deutschland zu stationieren. Die Erklärung lässt entscheidende Fragen zur Bedrohung, auf die reagiert werden soll, zum operativen Konzept der Stationierung, zur Anzahl und strategischen Reichweite der genannten Systeme SM-6, Tomahawk und Long-Range Hypersonic Weapon und ihre Implikationen für die Sicherheit Deutschlands und Europas unbeantwortet. Die Folgen für die Rüstungskontrolle bleiben unbeachtet. 

Die bilaterale Erklärung findet sich auch nicht in der gemeinsamen Bündniserklärung des Washingtoner NATO-Gipfels wieder. Sie singularisiert Deutschland in Europa, da die Risiken der Stationierung – anders als im NATO-Nachrüstungsbeschluss von 1979 – nicht von europäischen Partnern geteilt werden

Dies wirft Fragen nach der Risiko- und Lastenteilung und der gemeinsamen Verantwortung für das strategische Konzept des Bündnisses auf, vor allem nach der Verantwortung für Einsatzentscheidungen und deren Folgen für Deutschland und Europa. 

Die LRF-Systeme werden der 2. Multi-Domain Task Force (MDTF) des US-Heeres in Wiesbaden zugeordnet. Die Stationierung der 2. MDTF begann bereits 2021, also vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Das MDTF-Konzeptentstandlangevordem Ende des INF-Vertrags (2019) im Rahmen des Intermediate Range Conventional Prompt Strike (IRCPS) Programms und richtete sich vorrangig gegen die A2/AD-Fähigkeit Chinas im ostasiatisch-westpazifischen Raum. Schon 2017 wurde die erste von fünf MDTFs aufgestellt. Die Zuordnung der strukturell längst vorgesehenen LRF-Systeme zu den MDTFs war jedoch erst möglich, nachdem der INF-Vertrag gekündigt war. 

Die Annahme, dass trotz der vielfältigen luft- und seegestützten Fähigkeiten der NATO eine Fähigkeitslücke bei landgestützten Mittelstreckenraketen besteht, überzeugt nicht. Auch bisher war es möglich, wichtige operative Ziele in Russland durch verbundene Luftangriffsoperationen abzudecken. Anderenfalls wären die Beschaffung von F-35 Stealth-Bombern (auch) für die Bundeswehr und das Konzept der nuklearen Teilhabe operativ nutzlos und strategisch unglaubwürdig. Aber selbst, wenn die zusätzliche Fähigkeit strategischer LRF- Systeme zum Überraschungsangriff als operativer Zugewinn betrachtet wird, müssen dagegen die gravierenden Risiken für die Sicherheit Deutschlands und Europas sowie die Folgen für die globale Stabilität abgewogen werden, die mit der Entscheidung verbunden sind. 

Die Stationierung landgestützter Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von knapp 3.000 km hat das Potential, von Deutschland aus Ziele von strategischer Bedeutung in der Tiefe Russlands nach kurzer, verdeckter Vorbereitung anzugreifen. Gegenüber see- und luftgestützten Systemen sind die verbleibenden Warnzeiten erheblich reduziert. Die Stationierung verändert somit das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland. Die Bedrohung vitaler Sicherheitsinteressen Moskaus allein als eine Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen, greift angesichts der schwerwiegenden Folgen zu kurz. Denn eine Ausweitung des Konflikts auf ganz Europa und eine Gefährdung der strategischen nuklearen Stabilität muss verhindert werden. 

Anders als der Nachrüstungsbeschluss der NATO von 1979 zeigt die bilaterale Erklärung keinen Weg auf, wie die Stationierungsentscheidung durch kooperative Mitwirkung Russlands abgewendet werden kann. Sie verschärft somit vorbehaltlos die Konfrontation zwischen Russland und der NATO. Sie trägt auch dazu bei, Moskaus Motiven für die Fortsetzung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen die Ukraine neue Nahrung zu geben. Denn seit Langem richtet sich sein Sicherheitsinteresse darauf, die NATO auf Abstand zu halten und eine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenwaffen in seiner geographischen Nähe zu verhindern. 

Damit vergibt die bilaterale Erklärung auch die Chance, durch die Wahrung eines reziproken Moratoriums einen Wettlauf um die Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa zu vermeiden. Sie gefährdet zugleich die Wiederaufnahme strategischer Stabilitätsgespräche zwischen den USA und Russland und erhöht die Gefahr, dass nach dem Auslaufen des New START-Vertrags im Februar 2026 erstmals seit den 1960er Jahren keine rechtsverbindlichen Begrenzungen für strategische Nuklearwaffen mehr existieren. Dies öffnet die Schleusen für ein neues atomares Wettrüsten und verschärft die globale Instabilität. 

Die Stationierungsentscheidung ohne paralleles Dialogangebot reduziert signifikant die Aussichten, die Rüstungskontrolle in Europa und weltweit wiederzubeleben und einen globalen und regionalen Rüstungswettlauf zu verhindern. Dies steht im Widerspruch zu den Zielen der Nationalen Sicherheitsstrategie der Bundesregierung. 

Die erwartbare russische Gegenstationierung nuklearfähiger Raketen wird Deutschland einer erhöhten Gefährdung aussetzen. Die absehbare Eskalation der Spannungen mit Russland wird die Sicherheitslage Deutschlands verändern und das atomare Risiko für Deutschland im Konfliktfall gravierend erhöhen. 

Dass eine Entscheidung von solcher Tragweite für die Sicherheit Deutschlands als exekutiver Akt mitgeteilt wird, ohne sie im Vorfeld im Deutschen Bundestag und in der deutschen Öffentlichkeit ausführlich zu diskutieren, ist ebenfalls befremdlich. Denn sie erschließt sich nicht aus der Nationalen Sicherheitsstrategie von 2022. Die Verschärfung der Konfrontation in Europa und die Erhöhung des atomaren Risikos Deutschlands verlangen eine breite und inklusive nationale Diskussion. 

Über den Autor 

Wolfgang Richter ist Oberst a. D., war Leitender Militärberater in den deutschen VN- und OSZE-Vertretungen und arbeitet jetzt als Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP). Er beschäftigt sich u. a. mit der Europäischen Sicherheitsordnung und der stabilisierenden Rolle der Rüstungskontrolle.

Den vollständigen Text der Studie findet man bei: https://library.fes.de/pdf-files/bueros/wien/21371.pdf

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