Kritik am Manifest: „Mit Putin auf Verhandlung und Entspannung setzen, wie realitätsblind!“
Die 100 SPD-Mitglieder, die das Manifest „Friedenssicherung in Europa durch Verteidigungsfähigkeit, Rüstungskontrolle und Verständigung“ verfasst haben, konnten mit großer öffentlicher Resonanz rechnen, zumal vor dem SPD-Parteitag und angesichts der großen Kluft in der Meinungsverteilung zwischen politischem Establishment und der Bevölkerung zum Thema Aufrüstung und „Kriegstüchtigkeit“: Laut einer „Insa“-Umfrage (2024) sind im Westen etwa 52% für eine massive Aufrüstung, im Osten 37% dagegen. Aber die heftigen unfairen Kritiken, die die Verfasser des Manifests von den Leitmedien erfahren haben (Die Welt, BILD, SPIEGEL, FAZ, Süddeutsche u.a.) zeigen Züge von Verachtung, aggressive Rhetorik, Feindbildprojektion und Ignoranz und stoßen auf ein von jahrelanger einseitiger Berichterstattung geprägtes Meinungsbild, das den Ukrainekrieg aus dem Kontext seiner Vorgeschichte löst und Putin zu einem imperialistischen und blutdürstigen Despoten macht.
Einige typische Reaktionen: Von einer „sonderbaren Sehnsucht nach Frieden mit Russland“ „altgedienter Funktionäre“ ist da die Rede (Die Presse, 13.6.25), als sei das eine spinnerte Idee von Zurückgebliebenen, oder man berichtet erst gar nicht objektiv, sondern ordnet gleich in der Überschrift ein: „SPD-Manifest: Sie irren“ (ZEIT ONLINE, 11.06.25). Die FAZ stuft das Papier inhaltlich als „Appeasementpolitik“ ein und BILD schreibt: „Das „Manifest“ der SPD: Als hätte es Putin selbst geschrieben“ (12.06.25). Die Braunschweiger Zeitung hält es für „weltfremd“, da Putin gar keine Verhandlung wolle und nur Stärke verstehe (BZ, 13.06.25)
Viele Leser und Hörer solcher Kommentare übernehmen das ungeprüft, da es permanent in allen Leitmedien wiederholt wird, was schon Züge einer Propagandakampagne hat.[1] Kein Journalist hinterfragt das Narrativ dahinter.
Mit welchen Begründungen aber wird das Manifest für „realitätsfremd“ gehalten?
Das wohl häufigste Argument: Putin wolle gar keine Verhandlungen.
Argument: Das hätte sich jetzt ja klar gezeigt mit der Ablehnung einer 30-tägigen Waffenruhe, wie sie von den Europäern und der Ukraine vorgeschlagen wurde. Unberücksichtigt wird dabei die Forderung Russlands nach gleichzeitigem Stopp westlicher Waffenlieferungen in dieser Zeit. Hintergrund dabei ist die Erfahrung Russlands mit den Verhandlungen um die Beendigung des innerukrainischen Bürgerkriegs (Minsk II ) zwischen Russland, der Ukraine, Frankreich und Weißrussland. Keine der dort getroffenen Vereinbarungen wurden von Seiten der Ukraine eingehalten[2], die Zeit wurde, wie die frühere Kanzlerin Angela Merkel (und der ehemalige französische Präsident Francois Hollande[3]) später freimütig einräumte, genutzt, um die Ukraine mit westlichen Waffen aufzurüsten. Das gleiche befürchtete Russland noch einmal zu erleben. Hier hätte es nur Mut von westlicher Seite gebraucht, um darüber ein beiderseitiges Agreement zu erzielen. Ob man man seitens der Europäer und der Ukraine lediglich Zeit gewinnen wollte, um die eigenen Verbände und Ausrüstung zu reorganisieren, dieser Verdacht lag nahe.
Gab es sonst keine Verhandlungsbereitschaft Russlands?
Im März 2022, am Anfang des Ukraine-Kriegs, gab es Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine mit dem Ziel, den Krieg zu beenden. Etliche Medienberichte jener Zeit zeigten, dass ein Kompromiss (Verzicht auf NATO-Beitritt und Neutralität der Ukraine) in greifbare Nähe gerückt war, die Verhandlungen dann aber abrupt abgebrochen wurden. Der damalige Ministerpräsident Israels, Naftali Bennett, hat Anfang März 2023 in einem Interview deutlich gemacht, dass es vor allem die USA und Großbritannien waren, die die Verhandlungen abgebrochen hatten. Die brutale Ermordung von Zivilisten durch russische Soldaten in Butscha galt dann aber als Beweis, dass man Russland nicht trauen könne und war der Punkt, an dem man im Westen bereit war, der Ukraine nun in größerem Umfang Waffen zu liefern sowie Wirtschaftssanktionen zu verhängen, um Russland zu besiegen. Wollte man die bedauernswerten Opfer dadurch rächen, dass man Verhandlungen stoppte und nun ein großer Krieg Zehntausenden das Leben kosten würde? Dann wäre das eine „moralische“ Haltung, die bereit ist, viele weitere Tote durch eine Ausweitung des Krieges in Kauf zu nehmen, um ein vermeintlich verbrecherisches Regime zu bestrafen.
- „Putin versteht nur die Sprache der Stärke“. Wenn der Feind nur durch Stärke zu beeindrucken ist, und dafür gibt es derzeit kaum Anzeichen, dann muss ich ihm mit noch stärkeren Waffen begegnen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wir sind dann bei einer sich wechselseitig verstärkenden Aufrüstung. Die Raketenzahl des Feindes muss von uns übertroffen werden! Der Gedanke, dass der „Feind“ ebenso denkt (so die Theorie vom „Sicherheitsdilemma“[4]) und um seine Sicherheit fürchtet, könnte hier kognitiv stören, weshalb man sich am besten hilft mit dem Täter-Opfer-Schema: Aber wir sind doch auf der Seite des Opfers, und der Feind ist ja der Täter, der zur Rechenschaft zu ziehen ist! Also hat der gar kein Recht, uns als Aggressor zu sehen. Das ist schon eine sehr einfache moralisierende Sichtweise, wie sie z.B. in den Äußerungen unserer ehemaligen Außenministerin Frau Baerbock des öfteren zu erkennen war, die aber in zahllosen Kommentaren der Leitmedien wiederholt wurde. Rationale Konfliktbearbeitung ist das nicht.
- „Mit Putin kann es keinen Frieden geben.“
Durch die Entmenschlichung des Feindes und die kindische Personaliserung (Putin allein, nicht die russische Regierung, die politische oder Militärführung) wird ein vereinfachtes Feindbild geschaffen, das als Personifikation des Bösen erscheint, mit dem man nicht rational verhandeln könne. Und wer das in der SPD nicht begreife, sei nach Pistorius komplett „wirklichkeitsfern“. Das versteht auch jeder Mainstream-Journalist, weil es einfach ist und sich gut für die Erregung der (offenbar als leicht zu beeinflussen geltenden) Leserschaft eignet. Die Welt als Kampf von Gut gegen Böse, das ist immer noch ein wirksames Propagandamärchen, die Gebrüder Grimm lassen grüßen. Es gab und gibt keinerlei Bemühen, Russlands Interessen und Absichten zu „verstehen“ (nicht akzeptieren!), um rationale Wege der Konfliktlösung zu beschreiten. Das hätte bedeutet, sich mit der sicherheitspolitischen Lage in Europa nach dem Ende der Sowjetunion zu befassen, spätestens 2008, als George W.Bush darum warb, die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, was alle roten Linien Moskaus überschreiten würde. Genau das aber fordert das Manifest ein, nach dem Prinzip, das Sicherheit unteilbar sei und nicht nur für eine Seite zu haben sei. - „Putin gleich Stalin oder Hitler“ Das personifizierte Feindbild ist vor allem eine gefährliche Projektion:
Ist der Feind der Menschlichkeit entkleidet, ist er auf manichäische Weise das Böse schlechthin (vgl. Ronald Reagans „evil empire“ über die frühere Sowjetunion) oder etwas weniger aufgeladen eine „Achse der Autokraten“ (Anne Applebaum), die das Reich der Freiheit und Demokratie herausfordere. Mit dieser verzerrten Wahrnehmung richten sich die Phantasien eher auf die Beseitigung oder Vernichtung des Feindes. So phantasiert der bekannte britische Historiker Timothy Garton Ash schon über eine Zerschlagung der Herrschaft Putins und eine 50jährige Besetzung Russlands, um dort die imperialistischen Gelüste auszutreiben. - „Russland will die alten Gebiete der Sowjetunion wieder zurück und plant einen Angriff auf NATO-Länder“
Das ist ein Propagandamärchen von schlichter Einfalt: Die hierzu geäußerten „Fakten“ widersprechen sich komplett. Einerseits habe Russland nach Meldungen der Ukraine und des britischen Geheimdienstes mindestens 1 Million Soldaten verloren, andererseits gibt es westliche „Militärexperten“, die schon vor 2030 mit einem Angriff Russlands auf das Baltikum rechnen – mit welchen Soldaten noch? Die demografische Lage Russlands ist extrem angespannt. Der französische Historiker Emanuel Todd stellt dazu fest: „Russland ist in eine Phase des Rückgangs seiner männlichen, potenziell mobilisierbaren Bevölkerung eingetreten (…) dies ist der Grund, warum das Bild eines erobernden Russlands, das fähig wäre, in Europa einzufallen (…) reine Phantasie ist.“ (Todd, S.60) - Noch ein Argument gegen angebliche Kriegspläne Russlands gegen die Nato?
Die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Westen beträgt ein Vielfaches der russischen. Vor der Invasion in die Ukraine „war Russland nur 3,3 % des BIP[5] des Westens schwer“ (Todd, S.47) Wie könnte diese Wirtschaft einen andauernden großen Krieg mit der NATO stemmen? Während die NATO-Staaten 2024 1506 Milliarden Dollar in die Rüstung steckten, waren es in Russland gerade mal 149 Milliarden, also weniger als ein Zehntel!
Das wären Fakten für die „Faktenchecker“ bei ARD und ZDF, die aber dort kaum zu finden sind oder wenn, dann heruntergespielt werden.
- Die Begründung für die wahnsinnige Billionen Euro schwere Aufrüstung der NATO hält einer kritischen Überprüfung der Faktenlage nicht stand. Was also könnten die wahren Gründe sein?
Die Medien schweigen dazu. Natürlich gibt es die Erkärung, Europa könne sich nicht mehr auf die USA verlassen, sondern müsse nun kräftig in die eigene Verteidigungsfähigkeit investieren. Hier macht das Manifest ganz klar: Verteidigungsfähigkeit bedeutet Aufrüstung mit Defensivwaffen und nicht mit z.B. atomar bestückbaren Mittelstreckenwaffen unter US-Kommando, auf deren Einsatz Deutschland keinen Einfluss hat. Aber offenbar möchte man „Kriegstüchtigkeit“ erreichen, um doch noch Russland militärisch zu schlagen oder aber Chinas Macht zu beschränken und die USA in Südostasien zu unterstützen. Weitere Gründe sind sicher die enge Verflechtung des militärisch-industriellen Komplexes und der Sicherheitsbranche mit der Politik, der Erfolg ihrer Lobbyisten, sowie der Deal mit Trump, mehr US-Rüstung zu kaufen, um das amerikanische Handelsdefizit zu verkleinern.
Dazu gehört sicher auch das Ziel der NATO, weitere Länder an Russlands Grenze in die NATO aufzunehmen – Russlands Umzingelung. - Fazit: Die Debatte um das SPD-Manifest muss von den politischen Führern und ihren medialen Begleitern schnellstens erstickt werden, mit Hilfe von Verdrehungen, Schmähungen oder plumpen Lügen, damit das dürftige Narrativ von Putins Bedrohung nicht plötzlich zusammenbricht.
[1] Vgl. dazu: https://braunschweig-spiegel.de/meinungsmacht-teil-1-wie-die-leitmedien-unsere-meinungsbildung-formen-wollen/
[2] Günter Verheugen, Petra Erler: Der lange Weg zum Krieg, München 2024, S.100ff
[3] Emanuel Todd: Der Westen im Niedergang, Berlin 2024, S.41
[4] Vgl. wikipedia
[5] Bruttoinlandsprodukt (gesamte Wirtschaftsleistung)