Wachstum wohin? Es gibt ökonomische Alternativen

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Gedanken im September

von Meinhard Miegel

Popanz

Kaum kühlt die Konjunktur ein wenig ab, schon heulen die Sirenen. Wird das in eine Rezession einmünden? Was werden die Reaktionen der Arbeits- und Aktienmärkte sein? Werden wir international noch mithalten können? Der Fragen ist kein Ende.

Was Politiker, Experten und eine schlecht informierte Öffentlichkeit in Wallung versetzt, ist vor allem diese Zahl: das Wachstum der erwirtschafteten Güter- und Dienstemenge, das Bruttosozialprodukt. Doch diese Zahl ist in wirtschaftlich entwickelten Ländern wie Deutschland nicht annähernd so bedeutsam, wie die verbreitete Aufregung vermuten ließe.

Mehr noch: Es ist noch nicht einmal gewiss, ob ihr Anstieg oder Rückgang eine Verbesserung oder Verschlechterung der materiellen Lebensverhältnisse zum Ausdruck bringt. Und über die Lebenszufriedenheit – vom Lebensglück ganz zu schweigen – sagt sie rein gar nichts aus. Sie ist nicht nur zwiegesichtig. Sie ist voller Widersprüche.

Ihr wohl größter Mangel: Sie lässt nur höchst unvollkommen erkennen, welchen Aufwand das verbuchte Wachstum erfordert. Welche unwiederbringlichen Bodenschätze werden verbraucht, wieviel Natur? Welche Tier- und Pflanzenarten werden vernichtet, welche gesellschaftlichen Bindungen zerstört? Und umgekehrt: Welche segensreichen Wirkungen gehen von Phasen konjunktureller Abkühlung aus – Luft und Wasser haben eine Chance, sich zu erholen, Menschen innezuhalten.

Ist ein wachsendes Bruttosozialprodukt gut, ein stagnierendes oder gar schrumpfendes schlecht? Dieser Frage ging vor etlichen Jahren eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages nach, und ihre Antwort war eindeutig: Allein anhand von Wachstumszahlen lassen sich keine auch nur annähernd belastbaren Aussagen über den Zustand eines Landes und seine Entwicklung machen. Dafür bedarf es weiterer Indikatoren.

Gefruchtet haben diese Einsichten nicht. Wie die gerade wieder aufflammende Debatte zeigt, stürzen sich die Macher öffentlicher Meinung wie eh und je auf das vertraute und vor allem so bequem zu handhabende Bruttosozialprodukt. Doch das ist ein rechter Popanz.

Wie aber ist es um eine Gesellschaft bestellt, die ständig um diesen Popanz tanzt und sich von ihm in Schrecken versetzen oder in trügerischer Sicherheit wiegen lässt? Will sie überhaupt ihren wirklichen Zustand ergründen oder ist es ihr ganz recht, sich mit Themen zu beschäftigen, von denen sie weiß, dass sie weithin irrelevant sind? Wagt sie der Frage nachzugehen, was Wachstum, so wie es heute definiert und gemessen wird, für eine Welt bedeutet, die schon die derzeitige Güter- und Dienstemenge nicht zu tragen vermag?

Was bedeutet wirtschaftliches Wachstum für ein Land, das – wie Deutschland – schon jetzt 3,5 Globen benötigt, um zu wirtschaften wie es wirtschaftet? Ist nicht bereits der Punkt überschritten, wo Wachstum nicht mehr wohlhabender und zufriedener sondern ärmer und verdrießlicher macht? Was aber sollen dann die Sorgen über sinkende oder ausbleibende Wachstumsraten? Vielleicht ist das ja der gebotene Entwicklungstrend, wenn wir noch eine menschenwürdige Zukunft haben wollen?

Was wir brauchen, sind Wachstumsstrategien, die ohne jedes Wenn und Aber in Einklang mit Umwelt und Mensch stehen. Von solchen Strategien ist jedoch nur wenig zu sehen. Kurzfristiges und Vordergründiges haben stets Vorrang. Um das zu ändern, bedarf es eines kulturellen Wandels, der weit über das hinausgeht, was Globalisierung und Digitalisierung heute anbieten. Worum es geht, ist ein Wandel, bei dem Gesellschaften auch dann gedeihen, wenn der materielle Wohlstand – zumindest in den bereits wohlhabenden Ländern – nicht weiter steigt oder sogar sinkt. Ein solcher Wandel erfordert allerdings andere Aktivitäten als jene, die heute das Bruttosozialprodukt nach oben treiben. Hier ein Arte-Film über Wachstum und ökonomische Alternativen

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