Erinnerung als Profession – Letzter Arbeitstag von Gedenkstättenleiter Frank Ehrhardt

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Frank-Ehrhardt_Begrüssung-beim-Dialog-der-Generationen 2017. Foto: AK Andere Geschichte

Von Uwe Spiekermann und Stefanie Waske

Der 31. März 2022 ist ein Einschnitt für die Gedenkstätte Schillstraße und den Arbeitskreis Andere Geschichte Braunschweig. Ihr Leiter und Geschäftsführer, Frank Ehrhardt, räumt nach mehr als drei Jahrzehnten seinen Schreibtisch, geht in den Ruhestand. Ruhestand? Frank Ehrhardt? Kaum zu glauben. Denn der gebürtige Hannoveraner hat seit den späten 1980er Jahren nicht nur der Erforschung der Braunschweiger Stadt- und Regionalge-schichte seinen Stempel aufgedrückt. Er ist ein Aufklärer ersten Ranges, stetig präsent, eine öffentliche Instanz.

Der Arbeitskreis Andere Geschichte wurde 1985 gegründet. In der Kohl-Ära, einer Zeit geistig moralischer Wende, entstanden in der Bundesrepublik Geschichtswerkstätten, die gegen das Glattspülen der Vergangenheit aufbegehrten. In Braunschweig stammten die Gründer aus dem Milieu von Gewerkschaften und SPD, auch an der Universität fanden sich Mitstreiter. Frank Ehrhardt stieß dazu, gab dem aktivistischen Treiben Struktur und Kontinuität. Gemeinsames Ziel war Aufarbeitung: Alltagsgeschichte, Arbeitergeschichte, Frauengeschichte, die Erforschung des in Braunschweig schon früh wirkmächtigen Nationalsozialismus – was heute Standard ist, war damals kritisch, wurde von den bürgerlichen Museen ignoriert, während sich Archive und Geschichtsverein vorrangig der frühen, vermeintlichen großen Geschichte der Hansestadt Braunschweig widmeten.

Frank Ehrhardt_Spaziergang im Bebelhof 2021

Große Pläne, wie die Gründung eines Industriemuseum, zerstoben, engagierte Leute verließen den Arbeitskreis. Frank Ehrhardt blieb, trotz nicht einfacher Rahmenbedingungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und „halben“ Stellen in den Projekten. Er schrieb erste Bücher, zur Braunschweiger Arbeiterwohlfahrt, dem Bebelhof, Aufsatz um Aufsatz zur Geschichte der Braunschweiger Arbeiterbewegung. Alles solide, alles aus den Akten gearbeitet, alles Blickfelderweiterung fernab von Herzog Ernst August und seiner Viktoria Luise. Wichtiger noch war anderes: Der Zusammenhalt im Arbeitskreis, Projektkoordina-tion, Vortragsreihen, zahllose historische Spaziergänge, der Rundbrief des Arbeitskreises. All das war Gemeinschaftswerk: Reinhard Bein erkundete erfolgreich die Geschichte der Braunschweiger Juden, Karl Liedtke die der polnischen Migranten, ein Dutzend Namen wäre zu nennen. In der Mitte aber stets Frank Ehrhardt: In den 1990er Jahren wurde Stadtteil um Stadtteil erkundet, der Bebelhof, das Westliche, später das Östliche Ringgebiet, die Neustadt, die Gegend um den Amalienplatz. Hier zeigten sich seine Stärken: Mit Zeitzeugen reden, im Archiv stöbern, innerhalb der Arbeitsgruppen vermitteln, das Ziel einer Ausstel-lung, einer Veröffentlichung zu einem vorzeigbaren Ende bringen, Beharrlichkeit.

Während in der Republik viele Geschichtswerkstätten aufgaben – sie hatten die lokale Arbeiter- und NS-Geschichte erfolgreich erkundet, viele Mitglieder wurden gesetzte Akademiker*innen – blieb der Arbeitskreis Andere Geschichte in Braunschweig aktiv. Ohne Frank Ehrhardt wäre das kaum gelungen. Und mehr noch: Vorarbeiten zur Geschichte der NS-Zwangsarbeit, zum KZ-Drütte, zu den Arbeitslagern im Umfeld vieler Braunschweiger Unternehmen bewegten 1997 den Stadtrat endlich dazu, eine Gedenkstätte einzurichten. Die Gedenkstätte Schillstraße öffnete 2000, ist seither Begegnungsort und „soziales Kunstwerk“, „offenes Archiv“ und Arbeitsplatz des Gedenkstättenleiters Frank Ehrhardt. Es entstand ein Ort der Erinnerung, ein Ort des Gespräches mit Verfolgten und Drangsalierten. Unrecht und Verfolgung, Verantwortung und Verpflichtung – hinter diesen Aufgaben traten die Einzelpersonen im Verein zurück

All das prägte auch den Arbeitskreis Andere Geschichte, der 1998 mit einem Buch- und Ausstellungsprojekt auch die Alltagsgeschichte Braunschweigs im Wirtschaftswunderland erforscht hatte, damit Neuland erschloss. Frank Ehrhardt schrieb ein Buch über den Volkskindergarten, Frauengeschichte gewann im Verein wachsende Bedeutung. Viele Vereinsmitglieder um Reinhard Bein erkundeten seither die biographische Dimension der neueren Braunschweiger Geschichte, auch Migrationsgeschichte wurde erforscht und niedergeschrieben. Im Mittelpunkt aber blieb die Geschichte des Nationalsozialismus, markant dokumentiert in den beiden von Frank Ehrhardt herausgegebenen Sammelbänden „Lebenswege unter Zwangsherrschaft“ (2007) und „Täter – Opfer – Nutznießer“ (2017).

Frank Ehrhardt war all die Jahrzehnte ein steter Arbeiter, kein Selbstdarsteller, kein Bühnenmensch. Er hat die Geschichte Braunschweigs kritisch aufgearbeitet, in kleinen Stücken, nah an den Menschen, die dadurch geformt wurden, die sie gemacht haben. Einfach war dies nie, das Leid der anderen verändert auch den Forschenden, so Frank Ehrhardt, der dieses mit Empathie nachzeichnete. Wer Einblick nimmt in die Abgründe der Geschichte, blickt selbst in sie hinein. Sich dennoch mit zielbewusster Sturheit all dem zu widmen, vermag nur jemand, dem das Ziel wichtiger ist als die eigene Befindlichkeit. Frank Ehrhardt wird am 31. April seinen Schreibtisch aufräumen, die Nachfolgerin Nadine Freund in zwei Monaten folgen. Als „Rentner“ wird er weitermachen, die Projektwerkstatt „Ein anderes Leben wagen. Braunschweig 1966-1973“ hat ihre Arbeit just begonnen. Vielleicht wird er nun auch die Zeit für eine zusammenfassende kritische Geschichte Braunschweigs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden. Er könnte dies. Wer auch sonst?

Uwe Spiekermann lehrte als Wirtschafts- und Sozialhistoriker an den Universitäten Münster und Göttingen, war acht Jahre stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Washington. Stefanie Waske ist Politikwissenschaftlerin und Wissenschaftsredakteurin an der Bauhaus-Universität Weimar. Beide sind seit langem Mitglieder des Arbeitskreises Andere Geschichte.

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