Buchauszug: Geld und Kot

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Haben oder Sein
Haben oder Sein

Die Existenzweise des Habens und der anale Charakter

Aus: Erich Fromm „Haben oder Sein“

Zum besseren Verständnis der Existenzweise des Habens sei auf eine der bedeutsamsten Erkenntnisse Freuds verwiesen. Er entdeckte, daß alle Kinder nach einer Phase rein passiver Rezeptivität, gefolgt von einem Stadium aggressiv einverleibender Rezeptivität, vor dem Erwachsenwerden eine Phase durchmachen, die er als die anal-erotische bezeichnete. Diese Phase bleibt, wie Freud entdeckte, oft für die Entwicklung eines Menschen bestimmend und führt dann zur Entstehung des analen Charakters, der dadurch gekennzeichnet ist, daß der Mensch seine Hauptenergie auf den Besitz, das Sparen und Horten von Geld und materiellen Dingen ebenso wie von Gefühlen, Gesten, Worten richtet. Es ist die Charakterstruktur des Geizigen, gewöhnlich in Verbindung mit einem überdurchschnittlichen Maß an Ordnungsliebe, Pünktlichkeit und Trotz. Ein wichtiger Aspekt des Freudschen Konzepts ist der symbolische Zusammenhang zwischen Geld und Kot – Gold und Dreck -, wofür er eine Reihe von Beispielen anführt. Freuds Auffassung, daß der anale Charakter nicht das Stadium der Reife erreicht habe, ist in der Tat eine scharfe Kritik der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, in der die Wesenszüge des analen Charakters zur Norm des moralischen Verhaltens wurden und als Ausdruck der »menschlichen Natur« angesehen wurden. Freuds Gleichung: Geld = Kot ist eine implizite, wenn auch unbeabsichtigte Kritik des Funktionierens der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Habgier…

…und kann mit Marx‘ Erörterungen der Rolle des Geldes in seinen >Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten< verglichen werden.
Es ist in diesem Zusammenhang unerheblich, daß Freud eine bestimmte Phase der Libidoentwicklung für primär und die Charakterbildung für sekundär hielt (während letztere meines Erachtens das Produkt der zwischenmenschlichen Konstellation in den ersten Lebensjahren und vor allem der auf sie einwirkenden gesellschaftlichen Bedingungen ist). Worauf es ankommt, ist Freuds Auffassung, daß das Vorherrschen der Besitzorientierung kennzeichnend für die Periode vor dem Erreichen der vollständigen Reife sei und als pathologisch angesehen werden müsse, wenn es im späteren Leben domi-
nierend bleibt. Mit anderen Worten, für Freud ist der ausschließlich mit Haben und Besitz beschäftigte Mensch psychisch krank und neurotisch; daraus folgt, daß eine Gesellschaft, in der die anale Charakterstruktur überwiegt, krank zu nennen ist.

Aus: Erich Fromm, Haben oder Sein, dtv-Verlag.

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