Buchauszug: Gefahr durch übermüdete PolitikerInnen

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Zu wenig Schlaf

Aus: Stanley Coren „Die unausgeschlafene Gesellschaft“

Manche der mit einem Schlafdefizit einhergehenden Stimmungsveränderungen können sich direkt auf die berufliche Funktionstüchtigkeit auswirken. Mit zunehmendem Schlafdefizit fühlen sich die Menschen in zunehmendem Maße von ihren Aufgaben überfordert und werden weniger entscheidungsfreudig. Manche entwickeln Minderwertigkeits- oder Schuldgefühle, weil sie angeblich nicht mithalten können, auch wenn sich ihre Produktivität in Wirklichkeit noch wenig verändert hat. Oft verlieren solche Menschen die Motivation. Wenn man mit einem Schlafdefizit herumläuft, ist es einem oft nicht wichtig, ob man gut oder schlecht arbeitet. Man hat einfach keine Lust, sich mit Kleinigkeiten herumzuschlagen, also wird die Arbeit nicht überprüft und noch einmal überprüft, auch wenn sie sehr wichtig ist. Natürlich schleichen sich unbemerkt Fehler ein. Wenn diese schließlich entdeckt werden, verstärkt sich erst recht das Gefühl, den überblick und die Kontrolle verloren zu haben.
Ein akkumuliertes Schlafdefizit wirkt sich auch direkt auf das Denkvermögen und die geistige Leistungsfähigkeit…

… aus. In den vergangenen zehn Jahren haben sich etwa fünfzig Studien mit den Zusammenhängen zwischen Schlafdefizit und mentaler Leistung beschäftigt. Ihre Ergebnisse fügen sich zu einem bemerkenswert eindeutigen Muster zusammen. Erstens bewirkt der Schlafmangel eine allgemeine Verlangsamung geistiger Prozesse. Mit Hilfe von Reaktionstests kann man feststellen, wieviel Zeit ein Mensch braucht, um einfache Informationen (zum Beispiel einfache Ton- oder Lichtsignale) zu verarbeiten und darauf zu reagieren. Der Verlust von nur vier Stunden in einer einzigen Nacht kann dazu führen, daß sich die Reaktionen eines Menschen bereits um fünfundvierzig Prozent verlangsamen. Der Verlust einer ganzen Nacht oder der entsprechenden Stundenzahl kann zur Verdoppelung der benötigten Reaktionszeit führen.
Durch ein Schlafdefizit wird die Fähigkeit, sich über längere Zeit einer bestimmten Aufgabe aufmerksam zu widmen, geradezu zerstört. In vielen Experimenten ist diese Beobachtung mit Hilfe von Wachsamkeitstests bestätigt worden. Diese Tests verlangen häufig eine Leistung, die mit der Arbeit eines Fluglotsen vergleichbar ist, der auf seinem Radarschirm ständig nach kleinsten Veränderungen in den Mustern Ausschau halten muß, die Flugzeuge und ihre Positionen markieren. Bei solchen Wachsamkeitstests erscheinen die wichtigen Informationen nur in unregelmäßigen Abständen, man muß aber ständig auf der Hut sein, um sie nicht zu versäumen, muß also die ganze Zeit den Bildschirm aufmerksam beobachten. Hier wirkt sich das Schlafdefizit verheerend aus. übermüdete Teilnehmer eines Wachsamkeitstests haben die größte Mühe, ihre Aufmerksamkeit über längere Zeit auf einen Gegenstand zu fixieren. Sie verpassen oft wichtige Informationen. Es wirkt so, als würde ihr Bewußtsein flackern – immer wieder ein und aus. In der wirklichen Welt kann ein solches Nachlassen der Aufmerksamkeit katastrophale Folgen haben. Ein Autofahrer, dessen Aufmerksamkeit für Sekundenbruchteile aussetzt, sieht den Fußgänger nicht, der zwischen zwei geparkten Autos auf die Straße tritt. Der Arzt, der sich nicht konzentrieren kann, übersieht während einer Operation die plötzlich eintretende Veränderung im Zustand seines Patienten; ein kurzes Flackern der Aufmerksamkeit, und eine Zahl wird übersehen, eine Zahlenreihe falsch addiert, eine ganze Serie von Kalkulationen in Mitleidenschaft gezogen; als Folge geht eine falsche Bestellung heraus, werden die Risiken einer Investition falsch eingeschätzt. Wie oft die Aufmerksamkeit eines Menschen kurzfristig ausgeschaltet wird und wie lange diese Ausfälle dauern – das hängt direkt mit der Höhe des Schlafdefizits zusammen.
Bei einem Schlafdefizit läßt auch die Gedächtnisleistung nach. Zwar können nach wie vor Informationen aus dem Langzeitgedächtnis ohne schwerwiegende Einschränkungen aufgerufen werden, aber das Kurzzeitgedächtnis, die unmittelbare Erinnerung, wird stark beeinträchtigt. Es fällt einem unter diesen Bedingungen schwer, Einzelheiten im Kopf zu behalten. Wenn wir es mit einer Aufgabe zu tun haben, bei der verschiedene Aspekte berücksichtigt werden müssen, die einander wechselseitig beeinflussen, wird ein Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses die Lösung erschweren. Das kann drastische Auswirkungen haben, zum Beispiel bei Aufgaben wie politischen Verhandlungen, wo die verschiedenen Bestandteile eines komplexen Abkommens berücksichtigt und in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit betrachtet und beurteilt werden müssen.
In manchen Fällen kommt wohl auch ein Nachlassen der Fähigkeit zum logischen Denken hinzu. Das Lösen alltäglicher Probleme mit bekannten Mitteln und auf gewohnte Weise mag bei einem nicht allzu hohen Schlafdefizit noch ohne Einschränkung möglich sein. Handelt es sich aber um ein neues und schwieriges Problem, bei dessen Lösung Kreativität erfordert wird, machen sich die vom Schlafmangel verursachten geistigen Defizite eher bemerkbar. Bei zunehmendem Schlafdefizit funktionieren wir immer mehr wie eine Maschine oder wie ein automatisch gesteuertes Flugzeug. Wir können auf kleine Veränderungen oder relativ einfache Herausforderungen reagieren, aber unsere Reaktionen sind vorprogrammiert oder mechanisch. Sobald wir in eine ungewöhnliche Situation geraten, fangen wir an, Fehler zu machen.
Es mag Sie überraschen (und etwas beunruhigen), wenn Sie erfahren, daß bestimmte Menschen aus beruflichen Gründen die mit dem Schlafmangel verbundenen geistigen Defizite zu ihrem Vorteil bewußt ausnutzen. Wir hören zum Beispiel oft von Tarifverhandlungen, die bis tief in die Nacht dauern. Früher dachte ich, solche Meldungen seien ein Hinweis darauf, daß die Tarifparteien drauf und dran wären, sich zu einigen, und daß sie die Verhandlungen nicht gerade in dem Stadium unterbrechen wollten, wo eine Einigung bevorstand. Im Lauf der Zeit fiel mir jedoch auf, daß diese Marathonsitzungen, bei denen ganze Nächte lang nicht geschlafen wurde, nur dann stattfanden, wenn ein professioneller Schlichter anwesend war. Das hat mich neugierig gemacht, und ich setzte mich mit einem Mann in Verbindung, der dort, wo ich lebe, einen Namen als Schlichter bei Tarifauseinandersetzungen hat. Er war bereit, sich mit mir darüber zu unterhalten («als Geste der Freundlichkeit gegenüber einem Universitätsprofessor»), unter der Bedingung, daß ich seinen Namen nicht preisgebe. Das, was er mir erzählte, dokumentiert den gezielten Einsatz von Schlafentzug, um die geistigen Fähigkeiten und die Motivation der Tarifpartner zu untergraben und so zu einer Einigung zu kommen.

Sie müssen bedenken, daß die meisten Tarifabkommen eine ganze Reihe von Problemfeldern abdecken. Für außenstehende Beobachter mag es so aussehen, als ob es bei den Verhandlungen nur um den Lohn ginge. Glauben Sie mir, es liegen noch ganz andere Sachen auf dem Tisch. Neben den eigentlichen Löhnen geht es um Krankenversicherungsanteile, Urlaubs- und Feiertagsregelungen, Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub, Karenztage und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und so weiter und so fort. Es gibt einen ganzen Haufen Fragen, die mit der Gestaltung des Arbeitsplatzes zusammenhängen, zum Beispiel die Frage der Bereitstellung von Räumen für Essens- und Kaffeepausen oder auch von Duschräumen, Fragen des Rauchens, des Lärms und des Lichts. Dann gibt es das Verhältnis zwischen der Gewerkschaft und der Geschäftsleitung. Da gibt es Fragen der Zuständigkeit und der Mitbestimmung, Fragen der Arbeitsplatzbeschreibung — und wir reden hier nur in ganz allgemeinen Begriffen. In jedem Berufszweig gibt es spezifische Fragen. Handelt es sich um einen Tarifvertrag für Lehrer, kann man davon ausgehen, daß es um die Klassenfrequenzen, die Zahl der tatsächlichen Arbeitstage im Schuljahr, die Anzahl der Lehrerpflichtstunden und die außerunterrichtlichen Pflichten (wie etwa Betreuung der Schulsportmannschaften) gehen wird … Nun, Sie sehen schon, worauf ich hinaus will. Jeder Vertrag ist in Wirklichkeit ein Paket. Es gibt also viele Forderungen auf vielen Gebieten, und manche sind wichtig, und manche sind trivial.
Der erste Schritt besteht darin, daß alle Forderungen zum Paket auf den Tisch kommen. Dann dürfen sich alle Beteiligten über alle Forderungen der Gegenseite hermachen. Jedes Paket besteht aus so vielen Teilen, daß man am Anfang eigentlich gar keine Fortschritte macht. Bevor wir uns alle gemeinsam hinsetzen, treffe ich mich vielleicht mit jeder Seite ein paarmal allein, damit ich ein Gefühl dafür bekomme, was für jede Verhand-lungskommission wirklich wichtig ist.
Dann warte ich ab, bis es im Hinblick auf irgendeine wichtige Frist fünf vor zwölf ist. Es handelt sich vielleicht um die Frist bis zum Ausrufen des angedrohten Streiks oder bis zur Aussperrung oder zur Einmischung der Regierung. Wenn die Uhr tickt, habe ich ein Druckmittel in der Hand, um die Delegationen zu zwingen, immer länger am Verhandlungstisch zu bleiben. Dann versuche ich, an der Schlafzeit der Verhandlungsdelegationen herumzufeilen. Der Trick besteht darin, so vorzugehen, daß alles völlig natürlich erscheint.
Nehmen wir an, wir verhandeln über einen Tarifvertrag, und es ist Mitternacht geworden. Ich sage beiden Seiten so etwas wie: «Hören Sie, es ist schon Mitternacht. Machen wir jetzt Schluß, damit wir ein wenig schlafen und morgen früh wieder frisch zur Sache gehen können. Wie war’s, wenn wir uns morgen um neun Uhr hier treffen.» Das klingt so, als hätte ich ihnen großzügigerweise neun Stunden eingeräumt, um nach Hause zu fahren und sich auszuschlafen, aber dem ist in Wirklichkeit nicht so. Erstens werden sich die Kommissionen noch etwa eine Stunde besprechen wollen, um ihre Strategie für den folgenden Tag auszuarbeiten. Dann haben die meisten von ihnen einen weiten Heimweg. Wenn man bedenkt, daß sie ja noch Zeit zum Ausziehen, Anziehen, Waschen, Rasieren und Frühstücken brauchen, kann man davon ausgehen, daß sie höchstens vier oder fünf Stunden im Bett sein werden. Und selbst wenn sie so lange in den Federn liegen dürfen, werden sie nicht gut schlafen. Denn ich sorge dafür, daß es während der Nachtsitzungen immer reichlich Kaffee gibt. Die meisten sind so aufgedreht durch das Koffein, daß sie bestimmt eine Stunde brauchen, bis sie einschlafen. Ich hingegen nehme nach Möglichkeit immer ein Zimmer in dem Hotel, in dem wir gerade tagen. Und ich trinke überhaupt keinen Kaffee. Das heißt, ich kann aus dem Sitzungssaal hinausgehen, mit dem Fahrstuhl zu meinem Zimmer hinauffahren, ins Bett fallen und acht Stunden hintereinander selig schlafen. Ich versuche, diesen Rhythmus ein paar Tage durchzuhalten, bis es Zeit ist für das «Große Drängeln». Das ist die Nacht, in der ich ihnen sage: «Wissen Sie, wir sind ganz nahe dran; ich weiß, daß es spät ist, aber wenn wir nur noch eine kleine Weile weitermachen, können wir die ganze Geschichte heute nacht noch abschließen, glaube ich.» Dann ziehe ich die Sache bis in die Morgenstunden durch. Die Verhandlungsdelegationen haben schon so viel Schlaf verloren, und diese Extrasitzung gibt ihnen den Rest. Da gibt es kaum noch Ecken und Kanten.
Diese ganze Angelegenheit hat einen psychologischen Aspekt, wissen Sie. Wenn die Leute richtig müde sind, können sie nicht einmal alle Bestandteile ihres eigenen Verhandlungspakets im Kopf behalten, geschweige denn das Paket, das die Gegenseite anbietet. Für sie verschwimmt alles. Sie wissen eigentlich nicht einmal, ob wir uns in bestimmten Punkten bereits geeinigt haben oder nicht. Manchmal kann man kleinere Punkte, die sonst einen emotionalen oder symbolischen Wert hätten und zum Knackpunkt der Verhandlung werden könnten, einfach unter den Teppich kehren, und das merken sie erst später, wenn überhaupt. Sie werden auch nachlässig und überprüfen die Details nicht mehr. Das bedeutet, daß bestimmte Einzelheiten, die zu Spannungen führen könnten, einfach verschwinden, eben weil sie niemand überprüft. Außerdem passiert irgend etwas mit ihrer Motivation. Es ist, als ob ihnen allen die Luft ausgeht. Es gibt Punkte, bei denen ich weiß, daß sie heiß umkämpft wären, wenn alle Beteiligten ausgeruht wären; aber wenn ich sie erst so weit bekommen habe, sind sie so müde, daß sie sich nicht mehr zum Kampf aufraffen können, außer bei den wirklich entscheidenden Differenzen. Während des Großen Drängeins kann ich manchmal sogar sagen: «Okay, wenn wir uns in diesem Punkt geeinigt haben, können wir zum nächsten übergehen» – obwohl es in Wirklichkeit immer noch Einwände oder ungelöste Probleme gibt. Die meisten von ihnen sind so benebelt, daß sie sich nicht mehr sicher sind, ob der entsprechende Punkt geklärt worden ist oder nicht, und oft sind sie ohnehin zu müde, um Einspruch zu erheben. Wenn sie müde genug sind, wollen sie eigentlich nur noch eins: Die Sache schnell zu Ende bringen, damit sie aus dem Raum herauskommen und ein wenig Schlaf bekommen können. Sehr oft werden sie jedem Kompromiß zustimmen, mit dem die Diskussion beendet werden kann.
Wenn das funktioniert, gehen wir gegen Morgen auseinander. Handelt es sich um eine wichtige Verhandlung, gibt es vielleicht noch eine Pressemitteilung oder eine Pressekonferenz, wo beide Delegationen beteuern, daß die Verhandlungen schwierig und kompliziert gewesen seien, daß man sich aber geeinigt habe und daß sie ihrer jeweiligen Seite die Annahme des Ergebnisses empfehlen. Ich lasse mir eine oder zwei Stunden Zeit, dann schicke ich allen Teilnehmern eine Kopie des Vertragsentwurfs. Manchmal basiert er auf einem Rahmen, den ich bereits Tage zuvor entworfen habe, als sich die Verhandlungen noch zähflüssig bewegten. Ich schreibe die notwendigen Veränderungen und Ergänzungen direkt in diesen Rahmenentwurf hinein, so daß er ziemlich schnell fertig wird. Bei den Punkten, die nicht abschließend geklärt (von uns nur oberflächlich behandelt oder von mir unter den Teppich gekehrt) worden sind, versuche ich, irgendeine Kompromißformel zu finden, oder ich lasse sie stillschweigend fallen. Wenn die Kommissionsmitglieder ein wenig geschlafen haben und das Dokument Punkt für Punkt durchgehen, finden sie vielleicht den einen oder anderen Punkt, mit dem sie wirklich sehr unzufrieden sind. In der Regel wissen sie nicht mehr, wie die Diskussionen über diesen Punkt in der Nacht zuvor gelaufen sind. Dann müssen sie sich überlegen, ob sie wegen dieses einen Punkts die ganze Abmachung torpedieren wollen. Und dann geht es auch darum, das Gesicht zu wahren. Es wirkt doch geradezu dumm und inkompetent, wenn sie am frühen Morgen sagen, daß sie die Annahme des Verhandlungsergebnisses dringend empfehlen, und am gleichen Nachmittag sagen, der Vertrag, an dessen Ausarbeitung sie selbst beteiligt waren, sei nicht gut genug. Die meisten nehmen einfach an, daß die Punkte bei den Verhandlungen schon geklärt wurden, daß sie sich aber nicht mehr an die Details der Diskussion erinnern. Manchmal stimmt das auch; manchmal … Nun, am Ende hat jeder einen Vertrag, mit dem er wenigstens leben kann, und es gibt ja immer die Hoffnung, daß es beim nächstenmal besser wird.
Manchmal glaube ich, daß es unmöglich ist, zwischen cleveren und hochmotivierten Menschen zu irgendeiner Abmachung zu gelangen. Deshalb funktionieren internationale Körperschaften wie die Vereinten Nationen nicht besonders gut. Aber wenn man ihnen so viel Schlaf rauben kann, daß sie dümmer, weniger detailversessen und weniger motiviert werden, ist eine Verhandlungslösung meiner Meinung nach immer möglich. Ganz gleich, wie weit die Konfliktparteien am Anfang des Prozesses auseinander sind; wenn sie erst müde genug sind, werden sie irgendeinen Kompromiß finden, nur um die Diskussion abzuschließen und endlich nach Hause und ins Bett zu kommen.
Nicht alle Schlichter geben zu, den Schlafentzug als strategisches Mittel, die Verhandlungsparteien mürbe zu machen, bewußt einzusetzen. Ein Regierungsschlichter, mit dem ich mich unterhielt, wollte lediglich einräumen, daß der Schlafmangel der Gewerkschafter und Arbeitgebervertreter «einen sekundären Vorteil bei Verhandlungen rund um die Uhr» darstellen könnte. Er sagte weiter, daß «einige ziemlich dumme Sachen plötzlich ganz logisch klingen, wenn man die ganze Nacht verhandelt hat und es inzwischen fünf Uhr früh geworden ist».
In aller Regel jedoch stellen sich die unüberlegten Entscheidungen und unberücksichtigten Details einfach ein, ohne daß jemand das geplant und sich bewußt einen Vorteil vom reduzierten Denkvermögen der Beteiligten ausgerechnet hätte. In den häufigsten Fällen führen die herabgesetzten geistigen Fähigkeiten von Menschen, die unter einem Schlafdefizit leiden, zu peinlichen, überflüssigen oder schlicht und einfach dummen Entscheidungen. Ein Stadtrat aus Toronto, der größten Stadt Kanadas, beschreibt einen solchen Fall:
Die Stadt Toronto hat sich auf eigenartige Weise entwickelt. Es gab zunächst die eigentliche Stadt und drumherum viele Städte und Gemeinden. Es war wohl in den fünfziger Jahren, da schlug eine Kommission der Provinz Ontario eine einmalige, quasiföderative Stadtverwaltung vor, die dreizehn Gemeindeverwaltungen der Kontrolle eines zentralen Stadtrats der Großstadtregion Toronto unterstellt. Zu den Mitgliedern dieses Stadtrats gehören die gewählten Bürgermeister, Ratsmitglieder und Stadtkämmerer der einzelnen Gemeinden. In den späten sechziger Jahren wurde die Anzahl dieser Teilgemeinden auf sechs reduziert. Toronto hat also nicht nur eine zentrale Stadtverwaltung der die meisten städtischen Dienstleistungen wie Abwasserbeseitigung öffentliche Verkehrsmittel und Schulen unterstehen, sondern auch sechs Bürgermeister.
Jedes Jahr muß die Stadt bis zu einem bestimmten Termin ihren Haushalt ausarbeiten und bei der Provinzregierung einreichen. Das gehört zu den Aufgaben des Stadtrats. Wenn wir politisch gesehen ein schwieriges Jahr hinter uns haben, oder wenn es wenig Geld und ein Gerangel um Prioritäten gibt, können sich die Verhandlungen über den Jahreshaushalt in der Woche vor dem Einreichungstermin bis ziemlich spät in die Nacht hinziehen. Das war auch einmal der Fall, als ich Mitglied des Stadtrats war. In der Woche hatten wir mehrmals hintereinander getagt, jeweils an die achtzehn Stunden, und gerade einen Tag vor dem gesetzlich vorgeschriebenen Termin zur Fertigstellung des Haushaltsplans haben wir unsere Beratungen bis in die Morgenstunden hinein durchgezogen. Wir waren todmüde, aber wir mußten um jeden Preis fertig werden, und es war, glaube ich, etwa drei Uhr früh, als wir über die Gehaltsposten für die städtischen Wahlbeamten abstimmten. Wir wußten alle, daß wir übermüdet waren, und manche von uns hatten Schwierigkeiten, überhaupt wach zu bleiben, aber wir meinten trotzdem, daß wir unsere Arbeit gut gemacht und alle Details berücksichtigt hätten, bevor wir irgend etwas beschlossen. Einige Tage später hat jemand in der Provinzregierung unsere Budgetvorschläge überprüft und festgestellt, daß wir die Jahresgehälter für die sechs Gemeindebürgermeister bei der Schlußabstimmung mit genau null angesetzt hatten! Ich weiß bis heute nicht, wie das passieren konnte, und von den damals Anwesenden kann es sich auch sonst niemand erklären.
Eine weitere Glanzleistung von Gehirnen, die unter einem Schlafdefizit leiden, nehme ich an.

Aus: Stanley Coren, Die unausgeschlafene Gesellschaft, Hamburg 1999. 458 Seiten.
[Vergriffen. Es ist in einigen Universitätsbibliotheken auszuleihen. Ich appelliere an den Rowohlt Verlag, das Buch neu aufzulegen. ]

Kommentar: Der Oberbürgermeister Dr. Hoffmann hat seit 2003 die Zahl der Ratssitzungstermine drastisch reduziert. Waren es früher mindestens 12, sind es jetzt nur noch 6 Sitzungen jährlich, also knapp über der gesetzlich festgelegten Mindestzahl von vier Ratssitzungen. Die Arbeit jedoch ist nicht weniger geworden, daher dauern solche Sitzungen nun oft bis in den Abend. Wen wundert’s dann noch, wenn manche Entscheidung gegen die Vernunft oder besseres Wissen gefällt wurde? Die anschließende Bürgerfragestunde wird kaum noch jemanden interessieren.

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