Anmerkungen zu Roselies (Teil 1)

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Nationaldenkmal

Anfang August 2014 jährte sich der Beginn des ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal. Noch sichtbaren Spuren und Folgen dieses Krieges gilt daher besondere Aufmerksamkeit.

Auf dem Weg, Frankreich zu erobern, marschierten deutsche Truppen durch Belgien und über­querten am 21. und 22. August 1914 den Sambre-Fluss, ein letztes Naturhindernis vor der Grenze zu Frankreich. Zur Unterstützung der Belgier gegen die deutschen Invasoren waren französische Truppen über die belgische Grenze bis an die Sambre herangerückt. Die dortigen Gefechte werden in Deutschland meist als Schlacht bei Namur zusammengefasst, in Frankreich und Belgien als Schlacht bei Charleroi. Das zwischen Namur und Charleroi an der Sambre liegende Dorf Roselies wurde am 22. August zum Kriegsschauplatz für das Braunschweiger Infanterie-Regiment Nr. 92.

Kriegsdenkmals- und Kriegserinnerungskultur

Der Name „Roselies“ lebt in Braunschweig fort. Dies lenkt den Blick auf den belgischen Ort, die Gefechte im Ort und besonders auch auf Grundwerte und Motivationen der Kriegsführung. Denn die mit tradierten Namen verbundenen Leitwerte sollen – das ist Sinn einer solchen Namenstradition – durch die Übernahme aus der Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft übertragen werden.

August Boeckh brachte nach den erfolgreichen napoleonischen Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts den Sinn von Kriegsgedenken und Kriegerdenkmalen im Rahmen einer neuen bürgerlichen Denkmalkultur, die nicht mehr überweltlich-ständisch, sondern „ethisch“ wirken sollte: diesseits- und handlungsorientiert, in einer Inschrift am Nationaldenkmal auf dem Berliner Kreuzberg auf die griffige Formel:

… den Gefallenen zum Gedaechtniß den Lebenden zur Anerkennung den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung

Als ein nicht skulptural, sondern schriftlich elaboriertes Denkmal formuliert Friedrich von Sobbe den Sinn seiner „Geschichte des Braunschweigischen Infanterie-Regiments Nr. 92 im Weltkriege 1914-1918“ (1929). Die oft wiederholte und varierte, soldatisch schlichte Boeckhsche Formel wird von v. Sobbe in dialektischer Wendung mit überweltlichen Werten befrachtet (S. VI.):

Es war die heilige Pflicht, die Taten des Regiments so weit als irgend möglich festzuhalten, den Gefallenen zum ewigen Ruhm und Gedächtnis, den Lebenden zur hehren Erinnerung und zu berechtigtem Stolz, kommenden Geschlechtern zur Besinnung auf das höchste Ideal, Erhaltung ihres Volkstums und Staates, und zur Nacheiferung, wenn das Vaterland einst wieder ruft.


Der Krieg in Belgien im August 1914

Es gibt einige generelle Gründe, warum die Ereignisse von 1914 in Belgien und in Roselies für die deutschen Eroberer nicht gut geeignet sind als symbolische Träger ewigen Ruhms, berechtigten Stolzes und als Leitbild zur Nacheiferung.


Krieg gegen ein neutrales Land

Belgien wurde als neutrales Land vom ungleich mächtigeren Deutschland überrannt. Deutsche Rechtfertigungen: dies sei eine Notwendigkeit gewesen, denn nur durch die Missachtung der belgischen Neutralität bestand für Deutschland überhaupt erst eine Möglichkeit, über den schwach befestigten Norden Frankreichs das Land schnell zu erobern und in der Folge einen Krieg gegen Frankreich und Russland zugleich zu gewinnen, können nicht überzeugen. Dies motiviert zwar die Verletzung der belgischen Neutralität, kann sie aber in keiner Weise rechtfertigen. Eine Verletzung des Völkerrechtes taugt wenig für ewigen Ruhm und zur Nacheiferung.


Krieg gegen Zivilisten

Auch für Belgier und Franzosen nimmt Roselies einen markanten Ort im historischen Gedächtnis ein, hat Denkmalcharakter. Im Focus stehen da aber die Kämpfe bei Roselies „auf offenem Feld“ zwischen der deutschen und der französischen Armee. Das Kriegsgeschehen wird dort detailliert nachgezeichnet (so http://www.mettet14-18.be), auch die militärischen Zusammenstöße im Einzelnen aufgeführt und zu den Jahresgedenkfeiern wurden sie auch nachgespielt. So wird die kriegerische Vergangenheit durch nachvollziehendes Erleben vergegenwärtigt. Die militärische Auseinandersetzung zwischen deutschem und französischem Heer entspricht dem Muster des klassischen Duells bei grundsätzlicher Waffengleichheit und symmetrischer Machtverteilung. Beide Seiten sind im Kampf gleichermaßen Objekt fremder, gegnerischer Handlungen und Subjekt eigener Handlungen gegenüber dem Gegner.

In der deutschen Erinnerung steht Roselies aber primär für die Eroberung und den Häuserkampf im belgischen Dorf selbst. Damit in Verbindung steht auch der Kampf einer Armee gegen eine Zivilbevölkerung.

Aufgrund extrem einseitiger Machtverteilung haftet Kämpfen zwischen Militär und Zivilisten regelmäßig der Ruch des „schmutzigen“ Krieges an. Die grundsätzliche Reziprozität der Perspektiven, Umkehrbarkeit der Positionen: dass ein Mensch eben nicht nur Objekt fremden Willens sondern selbst auch Mittelpunkt und Subjekt sein kann, in welcher Wechselseitigkeit sich menschliche Würde verankert, wird aufgehoben und gefriert zum einseitigen Macht-Ohnmacht, Täter-Opfer Verhältnis. Für die Opferseite hat die Erfahrung der „aussichtslosen“ Position fortdauernd traumatisierende Wirkung, von der sie sich später nur schwer befreien kann.

Generell ist der Kampf einer Armee gegen eine Zivilbevölkerung und die Zerstörung ihrer zivilen Einrichtungen wenig geeignet für ewigen Ruhm, berechtigten Stolz und zur Nacheiferung. Eine Armee kann sich hier leicht mit Blut aber nur schwer mit Ruhm „bekleckern“.


Was geschah in Roselies?

Entscheidend für eine konkrete Bewertung sind aber letztlich die konkreten Ereignisse im Kriegsgeschehen. Zeitgenössische Ausführungen von Kriegsteinehmern, die Dietrich Kuessner im Rahmen einer Untersuchung über die Rolle der Kirche im ersten Weltkrieg sichtete, deuteten nun darauf hin, dass auch in Roselies Kriegsverbrechen begangen sein könnten. „Verbrechen“ eignen sich per definitionem nicht zum Nacheifern und Kriegsverbrechen können deshalb im Sinne der Böckhschen Formel auch nicht denkmalsfähig sein.

Folglich stellte sich die Frage: „Was geschah in Roselies?“ – Gab es dort tatsächlich Kriegsverbrechen auch des braunschweigischen 92er Regimentes, das den Ort eroberte, wie die Quellen Kuessners es nahe legten? Im letzten November wurde diese Frage in Veranstaltungen der Braunschweiger Zeitung und des Instituts für Regionalgeschichte verhandelt.

Der Wert der deutschen Quellen – Tagebücher, Briefe, Regimentsgeschichten – auf die Kuessner zurückgegriffen hatte, wurde in Frage gestellt. Die belgischen Quellen zu Kriegsverbrechen seien sehr präzise, verlässlich und vollständig. In der einschlägigen Studie von John Horne und Alan Kramer seien sie aufgearbeit und dort tauche der Name Roselies gar nicht auf. Demnach müsse man davon ausgehen, dass in Roselies auch keine Kriegsverbrechen verübt wurden. „Das Massaker von Roselies ist eine Fiktion“ – spitzte ein Referent es zu.

Horne und Kramer zählen aber nur als Kriegsverbrechen gewertete Tötungen auf, nicht auch Plünderungen, nicht das Niederbrennen von Häusern oder willkürliche Gefangennahmen, usw., die ebenfalls den Charakter von Kriegsverbrechen haben können. Zudem sind bei Horn und Kramer ausschließlich Orte aufgeführt, in denen es mehr als 10 Todesopfer gibt. Dabei lassen sie die Größe der Orte unbeachtet, was Eindrücke über die relative Gewichtigkeit einzelner Kriegsverbrechen in kleineren Orten verzerren kann.

Belgische Quellen, welche deutsche Kriegsverbrechen nach den Örtlichkeiten ordnen, in denen sie begangen wurden, sind vor allem die „Rapports sur les attentats commis par les troupes Allemandes pendant l’invasion et l’occupation de la Belgique“, in 2 Teilbänden, 1922 u. 1923. Die Rapports gehören zu einer größeren Sammlung von Berichten einer belgischen Kommission. Kriegsverbrechen, die in der Provinz Namur begangen wurden, sind im 1922 veröffentlichten 1. Teilband aufgeführt. Die Roselies besetzenden deutschen Truppen kamen von Nordwesten, aus der Provinz Namur – Tamines liegt noch in der Provinz Namur – und zogen dann weiter nach Süden zu den Orten Biesme, Oret und Mettet, die ebenfalls in der Provinz Namur liegen. Die dazwischen gelegenen Orte Roselies, Aiseau, Tergnee und Pont-de Loup gehören aber zur Provinz Hainaut. Kriegsverbrechen, die in der Provinz Hainaut begangen wurden, sind aber im 1923 veröffentlichten 2. Teilband der Rapports erfasst. Dies kann leicht dazu führen, dass man für Roselies den falschen Band zu Rate zieht und in der Folge falsche Schlussfolgerungen, namentlich: in Roselies seien überhaupt keine Kriegsverbrechen verübt worden, weil Roselies im 1. Teilband nicht vorkommt.

Vergleicht man Roselies im Jahre 1914 (1 034 Einwohner) beispielsweise mit Charleroi (28.177 Einwohner), so sind auf die Einwohnerzahl bezogen in Roselies mehr als dreimal soviel Tötungen zu verzeichnen und mehr als fünfzehnmal soviel von den Rapports als Kriegsverbrechen bewertete Hauszerstörungen.

Im Verhältnis zur Einwohnerzahl ist Roselies durch Kriegsverbrechen also sehr viel stärker betroffen als Charleroi. Auf Grund der Größe des Ortes ist Charleroi in der Liste von Horne/Kramer enthalten, nicht aber Roselies.

Die Stadt Louvain (Leuven, Löwen), mit ihrer berühmten Universität und Bibliothek, wird zu den mit am schlimmsten von Kriegsverbrechen betroffenen sieben belgischen „Märtyrer-Orten“ gezählt.

Im Verhältnis zur Einwohnerzahl lag die Zahl der Getöteten um etwa ein Drittel höher als in Roselies, die Zahl der zerstörten Häuser lag in Louvain vergleichsweise um etwa ein Drittel niedriger. 

Rein quantitative Vergleiche hinken allerdings immer auch. In Leuwen mag der ganze Universitätskomplex mit der berühmten Bibliothek genauso als 1 Gebäude in die Zählung eingeflossen sein wie ein Bergarbeiterwohnhaus in Roselies.

Allerdings kann die zerstörende Heimsuchung durch deutsche Soldaten für eine Bergarbeiterfamilie in Roselies, die mit ihrem Wohnhaus für lange Zeit eine Lebengrundlage verlor, ähnlich traumatisierend gewirkt haben wie die Vernichtung der Universitätsbibliothek von Leuwen für Gelehrte aller Welt, die mit der Bibliothek eine herausragende Wissens- und Arbeitsgrundlage verloren. 

Die Ereignisse in Louvain sind in Horne/Kramer sehr ausführlich dargestellt. Roselies kommt dagegen nicht vor. Die Schlussfolgerung, dass es in Roselies keine Kriegsverbrechen gab, lässt sich daraus nicht ableiten.


Ein weiterer Vergleich: Der 1882 in Braunschweig geborene Kompanieführer (RIR 12/78) Dr. phil. W. Kuhlmann schreibt über Pont de Loup, das mit 2121 Einwohnern im Jahr 1914 ungefähr doppelt so große, ca. 2 km entfernt südwestlich gelegene Nachbardorf von Roselies:

Befehl: „Das ganze Dorf wird angesteckt!“ […] Von der Arbeiterhütte bis zum Fabrikbesitzerschloss brennt alles.“ (Die Braunschweiger im Weltkriege, S. 34)

In Pont de Loup wurden nach den Rapports 19 Häuser niedergebrannt, vermutlich war das dann ein zentraler Straßenzug. In Roselies wurden mehr als vier mal so viele Häuser zerstört, obwohl das Dorf nur ca. halb so groß ist wie Pont de Loup.

Nach allem waren die Zerstörungen in Roselies erheblich und sie lassen sich nicht einfach als vergleichsweise zu vernachlässigende Ordnungswidrigkeiten der Kriegsgeschichte gegen Zivilbevölkerungen bei Seite schieben.


In folgenden Teilen sollen – wiederum mit relativierenden Seitenblicken – Tötungen und Hauszerstörungen in Roselies konkreter gefasst und gewertet werden.

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