Vorbemerkung
Vor Kurzem hat Kanzler Scholz eine Vereinbarung mit den USA geschlossen, nach der ab 2026 neue Raketen in Deutschland stationiert werden sollen, die Ziele im Inneren Russlands erreichen können. Wie gesagt, stationiert werden sollen sie in Deutschland – und nur in Deutschland! Scholz weiß genau, dass es Anfang der 80er Jahre eine breite gesellschaftliche Debatte über die geplante Stationierung von Mittelstreckenraketen gab, mit wirklich eindrucksvollen Massendemonstrationen und Menschenketten quer durch die Bundesrepublik. Dessen ungeachtet schließt er ganz trocken eine solche Vereinbarung, ohne jegliche Diskussion und ohne Vorankündigung über den Kopf des deutschen Volkes hinweg. Aber nicht nur das – auch über die Köpfe des Bundestages, der vom Volk gewählten Vertretung hinweg. „Die werden schon still halten“, mag sich der Kanzler gedacht haben.
Genau das soll die nachfolgende Erklärung des Erhard-Eppler-Kreises verhindern (eine kurze Vorstellung dieser Gruppe findet sich im Anschluss an die Erklärung). Zu diesem Kreis gehören Persönlichkeiten wie Norbert Walter-Borjans, bis 2021 Vorsitzender der SPD, Gernot Erler, bis 2018 drei Jahrzehnte im Bundestag, vor allem aber einer der wichtigsten Außenpolitik-Experten der Partei, oder Ernst Ulrich von Weizsäcker, führender Umweltwissenschaftler. Diese Persönlichkeiten warnen eindringlich davor, die Gefahren einer Stationierung von Langstreckenwaffensystemen in Europa zu unterschätzen. Wörtlich schreiben sie: „Es geht um nichts weniger als um die Frage, ob unser dicht besiedeltes Land zum Ziel eines atomaren Erstschlages werden könnte.“ Kritiker der Entscheidung würden aber entweder totgeschwiegen oder herabgesetzt, so etwa Rolf Mützenich.
Dabei sei tagtäglich an der sozialdemokratischen Parteibasis zu erleben, dass Mützenich vielen „aus der Seele spricht“. Aber anstatt nun die Diskussion in der Partei zuzulassen und zu führen, ergehe sich die Parteiführung in Schweigen und lasse Mützenich im Regen stehen. Die Unterzeichner fordern dagegen, dass kontroverse Positionen in der Stationierungsfrage ohne Vorverurteilung einer Seite fair gegenübergestellt werden, damit eine wirkliche Meinungsbildung in der Partei möglich wird. In einer solch lebenswichtigen Angelegenheit eine wahrlich berechtigte Forderung – nicht nur für die SPD, sondern für unsere gesamte Gesellschaft. (a.m.)
Erklärung des Erhard-Eppler-Kreises „Frieden 2.0″, 27. Juli 2024
Wir, die Mitglieder des Erhard-Eppler-Kreises, sind tief besorgt über die Schlagseite, mit der gegenwärtig über Pro und Contra einer Stationierung von US-Langstreckenraketen in Deutschland und Wege zu einem Ende des Blutvergießens in der Ukraine debattiert wird.
Der Großteil der medial verbreiteten Einschätzungen geht davon aus, dass ein Waffenstillstand in der Ukraine und der Schutz Europas vor Putins imperialistischem Streben nur durch Abschreckung und gegenwärtig ohne damit einhergehende Aufforderung zum Eintritt in Abrüstungsverhandlungen gelingen kann.
Als Demokraten respektieren wir diese Position. Zu einem demokratischen Ringen um den richtigen Weg gehört aber auch, dass auch unsere und von vielen geteilte gänzlich andere Einschätzung respektiert wird.
Wie Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, warnen wir eindringlich davor, die Gefahren einer Stationierung von Langstreckensystemen mitten in Europa zu unterschätzen.
Es geht um nicht weniger als um die Frage, ob unser dicht besiedeltes Land zum Ziel eines atomaren Erstschlags werden könnte – eine Frage, die auch die glühendsten Befürworter dieser Art von Abschreckung nicht definitiv ausschließen können. Dessen ungeachtet wird Kritik – in der Sache ebenso wie in Bezug auf das Zustandekommen der Entscheidung und ihre Kommunikation – entweder totgeschwiegen oder in einer Weise herabgesetzt, die mit dem Stil einer demokratischen Debatte nicht in Einklang steht.
In der veröffentlichten Meinung wird der Eindruck erweckt, dass nur diejenigen „erwachsen“ und Experten seien, die allein auf Abschreckung mit ausschließlich in Deutschland stationierten Lenkwaffen großer Reichweite setzen. Zugleich wird das Plädoyer, „abseits des Schlachtfelds Wege zu einem Ende der Kämpfe“ zu suchen (Mützenich) als Aufruf von Träumern diskreditiert, die weiße Flagge zu hissen und dafür die Knechtschaft Putins in Kauf zu nehmen. Das ist ein inakzeptabler Umgang miteinander.
Wer die Suche nach Wegen abseits des Schlachtfeldes ausschließt, muss erklären, wie er einen Krieg beenden will, ohne das Schlachtfeld auszuweiten. Der Glaube, Raketenbasen der NATO blieben davon unberührt, wird jedenfalls von Beobachtern in Frage gestellt, die mit Fug und Recht den Titel „Experte“ für sich in Anspruch nehmen können.
Was uns befremdet ist das Schweigen der Führungen von SPD und SPD-Bundestagsfraktion zu der von Rolf Mützenich angestoßenen Debatte. Wir erleben tagtäglich nicht nur an der sozialdemokratischen Parteibasis, wie vielen Rolf Mützenich aus der Seele spricht.
Wir erwarten auch von der Führungsebene der Partei und der Fraktion, Farbe zu bekennen und den Fraktionsvorsitzenden gegenüber abqualifizierenden Vorwürfen zu verteidigen. Und wir würden uns von der Parteispitze gegenüber den Medien mehr sichtbaren Einsatz dafür wünschen, dass kontroverse Positionen in der Stationierungsfrage ohne Vorverurteilung einer Seite fair gegenübergestellt werden. Auch Schweigen ist eine Meinungsäußerung.
Unterzeichner
- Gernot Erler
- Ernst Ulrich von Weizsäcker
- Norbert Walter-Borjans
- Axel Fersen
- Cay Gabbe
- Albrecht Bregenzer
- Herbert Sahlmann
Über den Erhard-Eppler-Kreis „Frieden 2.0“
Der Erhard-Eppler-Kreis „Frieden 2.0“ ist ein politischer Arbeitskreis, den Erhard Eppler noch kurz vor seinem Tod ins Leben gerufen hat. Er entstand aus Sorge über die Gefahren, die durch die Aufkündigung des INF-Vertrags durch die USA im Jahr 2019 entstanden sind. Der Kreis führt das Erbe von Erhard Eppler fort, organisiert Veranstaltungen, arbeitet mit Institutionen zusammen und fördert den Dialog mit politischen Entscheidungsträgern mit dem Ziel, die Mechanismen des Friedens verständlich zu machen.
Erhard Eppler (1926-2019) war ein deutscher SPD-Politiker, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (1968-1974), Bundestagsabgeordneter (1961-1976), Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg (1976-1982), und eine bedeutende Persönlichkeit der Friedensbewegung der 1980er Jahre, zudem engagiert im Umfeld der evangelischen Kirche.