War die DDR ein Unrechtsstaat – Teil II

0
Titelseite

War die DDR ein Unrechtsstaat, nicht nur vergleichbar, sondern sogar gleichzusetzen mit der NS-Diktatur? Dieser Frage ging Dr. Helmut Kramer aus Wolfenbüttel schon vor einigen Jahren nach. Sein Aufsatz zu dem Thema erschien 2016 in der Festgabe für Rosemarie Will. Ein kleiner Textauszug aus dem Aufsatz in der Festschrift von Herrn Kramer wird hier abschließend veröffentlicht: „War die DDR ein Unrechtsstaat„.

Nun ist diese Frage des Unrechtsstaates wieder aktuell geworden. Der ehemalige Richter am Oberlandesgericht Braunschweig, Helmut Kramer, nimmt Stellung über einen Leserbrief in der Süddeutschen Zeitung.

Anlass für diesen Leserbrief ist ein Artikel von der Journalistin, Cerstin Gammelin vom 8. Oktober 2019 „Deutsche Einheit: Unrecht bleibt Unrecht“. Der Leserbrief von Kramer wurde dem Braunschweig-Spiegel zugesandt:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bitte um Veröffentlichung des folgenden Leserbriefes zu dem Artikel von Cerstin Gammelin, „Unrecht bleibt Unrecht“:

Ebenso wie jeder andere mit meinen nun bald 90 Jahren möchte ich nicht den Altersweisen spielen, der mit mildem Blick auf den Heißsporn einer Jugend blickt, die nur in schwarz-weiß Tönen zu denken vermag. Doch möchte ich daran erinnern, dass in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren ein junger Staatsanwalt seine Karriere aufs Spiel setzte, wenn er die Aufhebung eines NS-Urteils von 1942 empfahl, mit dem ein 19jähriges Mädchen als „Volksschädling“ zum Tode verurteilt wurde. Damals (1970) rechtfertigte das Landgericht Braunschweig dies Todesurteil mit denselben Formeln, mit denen gleichzeitig der erste Grenzschütze der DDR verurteilt wurde.

Auch Journalisten lieben keine langen Texte. Trotzdem maile ich Ihnen meinen Aufsatz „War die DDR ein Unrechtsstaat?“ aus der Festgabe für Rosemarie Will.

Endgültig vorbei war es mit meinem Vorankommen in der Justiz, als ich im Jahr 1967 (natürlich vergeblich) im Braunschweiger Schwurgericht für die Verurteilung eines mörderischen KZ-Kommandanten stimmte und bald darauf die NS-Vorgeschichte meines Justizministers ans Licht brachte (im Jahr 1937 hatte er für die Vernichtung allen „unwerten Lebens“ plädiert).

Es gibt ungeheuer viel Unrecht unter der Sonne. Ist aber ein Land (z. B. die USA) deswegen ein Unrechtsstaat, das manche aus Not handelnde Bagatelltäter lebenslang hinter Gitter bringt? Nicht anders ergeht es dort den Whistleblowern, die die geheime Ausspäh-Praxis der amerikanischen Regierung „verraten“.

Verbirgt sich hinter dem von der Autorin gegen die Ministerpräsidenten von Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern erhobenen Vorwurf des Opportunismus vielleicht die Anfälligkeit, einigen Zeitungslesern nach dem Munde zu reden?

Die Vergangenheit hat eine lange Geschichte. Sie ist aber keine einfache, sondern eine komplexe“, sagte einstmals der Kabarettist Matthias Beltz. Ein zu schlichtes Denken spricht auch aus dem Artikel von Cerstin Gammelin.“

Dr. Helmut Kramer, Wolfenbüttel

Textauszüge aus dem Beitrag von Herrn Kramer in der Festschrift: „War die DDR ein Unrechtsstaat„. Das Buch kann über den Online-Shop der Humanistischen Union bezogen werden.

„In dem trickreichen, scheinbar korrekten und deshalb besonders perfiden Umgang mit dem juristischen Rechtsanwendungsinstrumentarium sehe ich den Grund dafür, dass das Versagen der Richter im Dritten Reich für uns noch wichtigere Lehren bereithält als die DDR-Justiz.“

Lehren aus den Fehlern eigener Aufarbeitung

Mit ihrer widersprüchlichen Entscheidungspraxis in Fällen von im Staatsinteresse begangenen Unrechts liefert vor allem die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Justiz, im Vergleich zur Aufarbeitung der DDR-Justiz, ein hervorragendes Anschauungsmaterial als Warnung vor einer allzu großen Selbstgewissheit der Juristen.“

Der »Unrechtsstaat« im Rechtsstaat

Das Wort von Bert Brecht »Die Wahrheit ist konkret« gilt auch für die Apostrophierung als »Unrechtsstaat«. Deshalb muss man im Vergleich der beiderseitigen Staatsverbrechen fassbar die Taten selbst und auch den rechtsbeugerischen Umgang der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz mit den nationalistischen Gewaltverbrechen zur Anschauung bringen.“

Gewiss ist vieles, was Menschen angetan wird, Unrecht. Auch darf man sich nicht auf eine Aufrechnung der rund 40.000 Todesurteile der Jahre 1933 bis 1945 mit den in der Größenordnung von etwa 190 in vier DDR-Jahrzehnten gesprochen Todesurteilen einlassen.

Wenn man an die Millionen von den in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern und an die Massenerschießungen in den »Ostgebieten« denkt, ist die DDR im Vergleich zum NS-Regime von dem starken Unwerturteil »Unrechtsstaat« aber weit entfernt, auch wenn sie alles andere als ein Rechtsstaat war.

Um die zentnerschwere Schuld der Straflosigkeit der vielen NS-Massenmörder sowie der Schreibtischtäter in den NS-Gerichten und in den NS-Leitungsgremium und das den Opfern angetane Unrecht abzuwälzen, genügten die wenigen dürren Worte nicht, die nur ein einziger Senat des BGH in dem Grundsatzurteil vom 16.November 1995 gegen den Richter am Obersten Gericht der DDR, Hans Reinwarth, verlor, um damit ein angeblich mildes Strafmaß (immerhin 3 Jahre und 9 Monate Gefängnis) zu rechtfertigen.

Es gibt vieles, was ein autoritäres Regierungssystem von einer wirklichen Demokratie trennt – autoritäre Herrschaftsstrukturen, Beseitigung der Gewaltenteilung, insbesondere der Unabhängigkeit der Justiz, Verfolgung von Regierungskritikerinnen und -kritikern, eine Geheimpolizei – das alles macht ein Staatssystem für sich allein noch nicht zum Unrechtsstaat, wenn man den Begriff »Unrechtsstaat« als Instrument zur Bekämpfung schlimmster staatlicher Menschenrechtsverbrechen nicht entwerten will. Als Kampfbegriff in einem politischen Glaubenskrieg zwischen Ost und West hat das Verdikt »Unrechtsstaat« längst ausgedient.

Besser wäre es, wir würden damit beginnen, auch vor der eigenen Tür zu kehren. Da gilt es allein für die ersten 40 Jahre der Bundesrepublik viele Grundgesetzverletzungen durch Regierung, Verfassungsschutz und andere Geheimdienste aufzudecken. Noch immer ist es nicht möglich, in die »unsichtbare« Hand der Geheimdienste, des Verfassungsschutzes, und die Bürgerüberwachung hineinzuleuchten. Nach Ansicht der Gerichte stehen sogar die Akten über die außenpolitischen Verstrickungen von Hans Globke noch immer unter Verschluss. Der Auftrag des Art. 26 GG, die Beteiligung an einem Angriffskrieg unter Strafe zu stellen und den Waffenexport ernsthaft zu verbieten, wurde bewusst unerfüllt gelassen.“

Möchten Sie den Artikel kommentieren

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.